Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Liebgart

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Es war eine mondhelle Nacht, als Wolfdietrich nach Garden kam. Er hörte den See tosen und stand bald am Ufer. In der bewegten Flut spiegelten sich auf- und niederschwankend der Mond und die Sterne. Ein leuchtender Stern sank vom Himmel nieder und verschwand im Wasser. „Ist es ein Zeichen von Siegminne?“, dachte er, „die auch so an meinem Himmel strahlte und bald im Grauen des Grabes unterging? Oder ist es ein Wahrzeichen für mich, daß ich meine Reise im Rachen des Wurmes endigen soll, gleich dem mächtigen Ortnit?“

Er war abgestiegen und stand im Schatten eines Olivenbaumes. Da sah er zwei weibliche Gestalten am Ufer herwandeln. Die eine von ihnen war groß und stattlich, und wie sie den Schleier zurückschlug, hätte er laut aufschreien mögen, denn sie glich Siegminne. Hatte das Grab seine Beute zurückgegeben? War es eine trügerische Elfe, welche die geliebte Gestalt angenommen hatte, um ihn zu berücken? Er stand atemlos, wie gelähmt, und lauschte dem Gespräch, denn es war Kaiserin Liebgart mit einer vertrauten Dienerin. Er hörte, wie Erstere um den Gemahl klagte und über die Bedrängnisse, welche freche Vasallen ihr bereiteten. „Die Feiglinge“, sagte sie, „die den Mut haben, ein schwaches Weib zu ängstigen, aber es nicht wagen, mir das zu gewähren, was ich allein auf Erden noch begehre, wofür ich, wenn auch ungern, meine Hand versprochen habe: Rache, Rache an dem entsetzlichen Ungetüm!“ - „Doch lebt noch einer“, sagte die Zofe, „der es wohl wagte und vollendete. Es ist Wolfdietrich von Griechenland, dessen Ruhm in allen Landen vom Mund der Sänger gepriesen wird.“ Da trat der Held aus dem Schatten hervor und rief: „Der Rächer ist gekommen, hohe Königin! Ich will den Drachen bestehen und Leib und Leben wagen.“ Die Frauen waren erschrocken zurückgewichen, aber die edle Gestalt des Mannes und seine tröstenden Worte beruhigten sie. „Es ist Wolfdietrich“, sagte die Dienerin leise, „er hatte mich einst aus Räuberhand errettet.“ - „Wohlan, edler Held“, sprach Liebgart, „möge dich der Himmel beschützen! Aber der Unhold wird auch dich, wie meinen Gemahl, in seine Höhle zum Fraß tragen. So ziehe ruhig deinen Weg und überlaß mich meinem Schicksal.“ Als der Grieche auf seinem Vorhaben beharrte, überreichte sie ihm einen Ring, den sie von einem Zwerg als ein glücksbringendes Pfand erhalten hatte. „Möge dir der Goldring mit dem leuchtenden Stein Glück und Sieg bringen!“, sagte sie mit einem warmen Händedruck und wandte sich nach Burg Garden zurück.

So trifft nun Wolfdietrich im Garten der Verstandeswelt am Gedächtnis-See der Erinnerung, in dessen Wellen sich die äußerliche Welt spiegelt, die geliebte Seele wieder, die als Siegminne bzw. „Sieg der Liebe“ nur Form und Namen geändert hatte und jetzt als „Garten der Liebe“ erscheint. Damit übernimmt er auch die Rolle von Ortnit im Kampf gegen den Ego-Drachen und den Sieg-Frieden im Menschenreich. Wird er mehr Erfolg haben?

Ohne länger zu warten, ritt der Held entlang dem See nach den rauhen Bergen. Nach langem Umherirren traf er Erzleute, welche ihr kärgliches Frühstück gern mit ihm teilten, da er ihnen Hilfe gegen den Drachen verhieß. Das Ungeheuer hatte ihnen schon manchen Mann geraubt, und sie lebten bei ihrer Arbeit in beständiger Furcht. „Warum schlagt ihr nicht allesamt das Gewürm mit euren Gerätschaften tot?“, fragte der Recke. „Ach, werter Herr“, war die Antwort, „es schießt wie ein Blitz aus Dickicht oder Geklüft hervor, und weder Hammer, noch Brecheisen, noch auch Schwerter und Spieße schaden ihm. Es wird auch Euch wie einen Mandelkern verschlucken.“ - „Jammerschade um den schönen Herrn!“, sagte ein ehrlicher Steiger: „Es wird ihm ergehen wie dem Kaiser Ortnit, um den das ganze Lombardenland trauert.“

Hier kann man nun darüber nachdenken, ob Wolfdietrich menschliche Bergleute oder die Zwerge der Naturgeister gesehen hatte, denn er bekam ja den mystischen Goldring mit dem Siegstein der Weisen als ein erweitertes Bewußtsein, um auch die Naturgeister zu sehen. Ja, die geben uns Menschen körperliche Nahrung, Rüstung und Waffen, doch den Lindwurm des Ego-Geistes können sie nicht besiegen, denn dafür braucht es ein ganzheitliches Bewußtsein der Vernunft, das sie sich offenbar nicht einmal vorstellen können.

Der unverzagte Recke bekümmerte sich nicht um die Rede der Bergleute. Er ritt ohne Säumen dem angewiesenen Weg zur Höhle des Wurmes. Er kam dahin, blickte in die dunkle Höhlung und sah fünf Drachenköpfe, die ihm entgegen starrten und züngelten. Es waren die jungen Lindwürmer, und der alte war auf Fraß ausgezogen. Der Held griff schon zu Speer und Schwert, um sie abzuschlachten, aber es kam ihm in den Sinn, daß es besser sei, wenn der Drache gar nichts von ihm gewahr werde. „Habe ich die Mutter erlegt“, dachte er, „dann müssen auch ihre Kinder an den Spieß.“ Wie er seines Weges weiterritt, sah er ein schönes Kind auf einem Felsen stehen, das ihm zurief: „Du bist zum Rächer meines Sohnes Ortnit bestellt. Aber schlafe nicht! Denn wenn du schläfst, dann bleibt mein Sohn ungerochen und du wirst ein Fraß des Wurmes.“ - „Hei, Bübchen“, lachte der Held, „hast früh die Vaterschaft angetreten. Doch bewahre dich selbst, denn du wärst ein leckerer Bissen für das Ungetüm.“ - Er spornte sein Pferd und ritt lachend weiter. Wie Ortnit kam er an eine Steinwand, und ihr entlang auf einen Anger, wo Klee, Gras und duftige Blumen in üppiger Fülle den Boden bedeckten. Eine mächtige Linde bot Kühlung gegen die mittägliche Sonne. Der Held war müde von der Reise und von der durchwachten Nacht. Er streckte sich in den Schatten, um zu ruhen, während das Pferd auf dem Anger saftige Weide fand. Die Ermüdung, die frische Kühle und der Vogelsang in den Zweigen wiegten den ruhenden Helden allmählich in sanften Schlummer.

Die fünf jungen Lindwürmer können uns aus geistiger Sicht an die fünf Sinne erinnern, die vom Ego-Drachen als fünf trennende Prinzipien ernährt werden und die persönliche Innenwelt eines Menschen von der natürlichen Außenwelt trennen, den Wahrnehmenden vom Wahrgenommenen, so daß eine scheinbar abgetrennte Ego-Blase des Bewußtseins entstehen kann. So war es eine richtige Entscheidung, nicht die Kinder bzw. Wirkungen töten zu wollen, sondern die Mutter als Ursache zu besiegen. Dazu erscheint dann auch Alberich als König der Naturgeister und erkennt in Wolfdietrich das Bewußtsein, das dazu fähig wäre, wenn es bewußt bleiben kann. Wie konnte er das erkennen? Nun, der Geist ist eins und grenzenlos, und wie die Natur alle Geschichten erzählen kann, so kann auch der Geist alles erkennen. Deshalb nimmt er ihm auch den goldenen Ring mit dem Siegstein der Weisen nicht weg. Und dann geht die Geschichte wie bei Ortnit weiter, nur mit kleinen Unterschieden, die offenbar entscheidend sind:

Ringsherum war alles so ruhig und friedlich, der schlummernde Recke, das weidende Pferd, die singenden Vögel, die vom Windhauch bewegten lispelnden Blätter, alles atmete Frieden und Ruhe. Diesen glücklichen Frieden unterbrach plötzlich ein gräßliches Zischen, ein Krachen von rollenden Felsen und brechenden Bäumen. Es war das scheußliche Untier, der Schrecken des Landes, das aus der Felswand hervorbrach. Da rief der Zwerg Alberich, denn er war der Warner gewesen: „Wach auf, edler Held! Schlafe nicht mehr, oder du bist des Wurmes Fraß!“ Der Zwergenkönig stand auf einer Felsenzacke und wiederholte immer wieder mit weit tönender Stimme seinen Weckruf. Auch der treue Hengst sprang hinzu und stieß seinen Herrn mit dem Fuß, aber vergeblich, der Schläfer schien unter einem Zauberbann zu ruhen. Das edle Roß sprengte gegen das Ungetüm an, doch scheute es vor dem Anblick und entging kaum der tödlichen Umschlingung. Jetzt witterte der Drache die Spur des Helden und stieß herankriechend ein Gebrüll aus, daß die Felsen erzitterten. Dies brach den Zauber, der Held erwachte, sah die Gefahr und griff nach Speer und Schild. Er rannte mutig gegen den grauenhaften Feind, aber der Speer zerbrach an der Hornhaut des Tieres. Er versuchte es mit dem guten Schwert, es biß nicht ein, und wie er, mit beiden Händen die Waffe fassend, einen gewaltigen Streich tat, zersprang die Klinge in drei Stücke. Er warf verzweifelnd den Schwertknauf dem Ungeheuer an den Kopf und befahl seine Seele Gott, denn er war wehrlos. Der Wurm umschlang ihn mit seinem ungeheuren Schweif, während er zugleich das wieder ansprengende Pferd mit den Zähnen ergriff. Die doppelte Beute trug er nach seiner Felshöhle und warf sie seinen Jungen vor. Er selbst kroch dann wieder fort, um für sich Fraß zu suchen. Das Gewürm in der Höhle fiel sogleich über die menschliche Beute her, doch konnten sie die starke Rüstung nicht zerbeißen. Sie versuchten, zwischen den Ringen hindurch das Blut auszusaugen, doch dagegen schützte das palmatseidene Hemd. Sie zerrten den Körper hin und her, so daß der gemarterte Mann das Bewußtsein verlor. Nun stürzten die Würmer über das Roß her und stillten schmatzend ihren Hunger mit dem noch zuckenden Fleisch.

Auch Wolfdietrich fällt in den Traum der Verstandeswelt am Fuß der Linde als Baum des Lebens, und aus diesem Zauberbann der Illusion kann ihn weder Alberich als Naturgeist wecken, noch sein Pferd als Symbol der Körperlichkeit. Klar, aber der Feind macht ihn wach, den er hier in dieser Welt gesucht hatte, um ihn zu besiegen. Wie auch manche sagen, daß diese ganze Welt nur dafür da ist, um den Lindwurm als Ego-Drachen zu erkennen und zu besiegen.

Einen ähnlichen Drachen können wir übrigens auch als Torwächter an einem Stadttor des alten Babylon finden, wie es noch heute als „Ischtar-Tor“ im Berliner Pergamonmuseum zu sehen ist:

Als „Mushuschu“ bzw. Schlangendrache trägt er einen von Schuppen bedeckten Löwenkörper. Die Hinterbeine enden in Vogelkrallen, die uns an den Vogel Greif erinnern, während die Vorderbeine Löwentatzen haben, die uns an das Ego mit seinem Anspruch als König erinnern. Der Schwanz ist lang und dünn und endet in einem giftigen Skorpionstachel, den wir im Bild nicht sehen. Auf der Schnauze des recht kleinen Kopfes sitzen zwei nach oben gerichtete Hörner, und aus dem Rachen wird die gespaltene Schlangenzunge gestreckt, die an das Prinzip der Trennung erinnert. Der Mythos beschreibt seine beeindruckende Größe: Das Tier ist 50 Meilen lang, eine Meile breit. Sein Maul ist sechs Ellen lang, der Umfang seiner Ohren beträgt zwölf Ellen. Entsprechend groß sind seine Fähigkeiten: Er kann Vögel fangen, die weit entfernt sind, und aus tiefstem Wasser etwas herausziehen. Wenn er seinen Schwanz hebt, berührt dieser den Himmel. Alle sumerischen Götter sind angsterfüllt. Tišpak gelingt es schließlich, den Drachen in einem schrecklichen Kampf mit einem Pfeil zu töten, sein Blut fließt drei Jahre und drei Monate lang, Tag und Nacht, was uns an den Pfeil der Einheit bzw. Liebe erinnert, und auch wie lange der Kampf bereits im Idealfall dauert. (Quelle: Wikipedia Mušḫuššu) - Auch in dieser Symbolik bekommt man einen Eindruck von der Macht des Ego-Drachens, der die Tore von Babylon bewacht, als Gleichnis für den Menschenkörper und seine Sinnestore, die der Ego-Drache als trennendes Bewußtsein verteidigen will. Marduk, der Enkelsohn von Tišpak, wird später zum „Stadtgott von Babylon“, und es gibt ein interessantes Siegelbild von ihm, auf dem zu sehen ist, wie weit sich der ganzheitliche Mensch mit der Kaiserkrone über diesen großen Drachen erheben kann, der dann friedlich zu seinen Füßen liegt.

So beginnt nun auch in unserer Geschichte der große Kampf im Bewußtsein, doch die Waffen erweisen sich als unbrauchbar. Der Speer der Gedanken zerbrach in zwei Stücke und das Schwert der Weisheit in drei an der „Hornhaut des Drachens“. Es war wohl noch ein gegensätzlicher Gedanke und eine gegensätzliche Weisheit, in der wir die drei Kräfte bzw. Prinzipien wiederfinden, die überall in der Natur wirken, um etwas zu bewegen. Klar, damit kann man das trennende Bewußtsein der Ego-Blase nicht durchdringen und besiegen, denn daraus ist sie ja gemacht und hat sich zur „Hornhaut“ verfestigt. Doch Wolfdietrich „befahl seine Seele Gott“, bliebt im ganzheitlichen Bewußtsein und läßt sich damit in das Innere der Ego-Blase tragen, in die dunkle Höhle des Körpers, wo die fünf Sinne gefüttert werden. Die können natürlich mit einem reinen und unvergänglichen Bewußtsein nichts anfangen, das hier wieder von dem „palmatseidenen Hemd“ symbolisiert wird, das er von Siegminne als Sieg der Liebe empfangen hatte. Nur die Körperlichkeit verliert ihr Bewußtsein, was wir „Ohnmacht“ nennen, wie sich auch die gierigen Sinne auf das Pferd der Körperlichkeit stürzen, um sich davon zu ernähren, und dann in ihrer Traumwelt in den Schlaf versinken. Wunderbare Symbolik! Und das Bewußtsein, kann es auch sterben?

Es war Nacht, als Wolfdietrich aus seiner todähnlichen Ohnmacht erwachte. Es war ein schauerlicher Aufenthalt. Er hörte die Drachen schnarchen und stöhnen. Er tastete um sich her, wo überall Gebeine (Knochen) lagen, vielleicht die Gebeine edler Recken. Ein Mondstrahl stahl sich durch eine Spalte in die schreckliche Höhle und beleuchtete zwei hellglänzende Gegenstände. Der Held tastete danach und entdeckte zwei Karfunkel, den einen an einem Schwertknauf, den anderen auf dem Kegel eines Helmes. Es lagen da noch andere Rüstzeuge und Waffen, und er probierte an den Felsen mehrere Schwerter. Doch bestanden sie nicht, denn sie wurden stumpf oder zerbrachen. Nur das Schwert mit dem Karfunkel blieb scharf und unversehrt. „Das ist Kaiser Ortnits Waffe, das Zwergengeschenk Rosen“, dachte er, „und daneben sein Helm und seine Rüstung. Nun werde ich heil bleiben und das Gewürm erlegen.“ Er schüttelte die Gebeine aus Helm und Rüstung. Da fiel ihm auch ein Ring in die Hand, den er sorglich zu sich nahm. Darauf legte er das Rüstzeug an, nahm Rosen in die Hand und erwartete getrost den Anbruch des Tages. Sobald es hell war, führte er auf den alten Wurm einen kräftigen Streich, der durch Horn und Schuppen drang, daß schwarzes Blut hervorquoll. Brüllend fuhr das Ungeheuer empor, bäumte sich hoch auf bis an die zehn Klafter hohe Decke und stierte mit weit offenem Rachen auf den Feind im eigenen Haus. Dann schoß es auf ihn herunter mit Blitzesschnelle, spießte sich aber in das vorgehaltene Schwert. Dennoch machte es sich wieder los und warf den Helden zweimal mit dem Schweif zu Boden. Indessen rastete Rosen nicht, und jeder Hieb und Stoß mit der Zwergengabe zerriß Horn und Schuppen, so daß das Tier nach heftigen Zuckungen verendete. Nun mußten auch die Jungen sterben, aber der Sieger selbst war von der Blutarbeit so erschöpft, daß er nur mühsam aus der von Blut und Gift verpesteten Höhle hervorwanken konnte. Dort sank er unter einem Baum nieder und wünschte nur einen Tropfen Labung, denn er war fast verschmachtet. Da trat Alberich zu ihm, den Sieger und Rächer rühmend, ließ von dienstbaren Zwergen ein reichliches Mahl vortragen und schenkte den erquickenden Wein in goldenen Pokalen. Der Held war wie ein König unter den jubelnden Zwergen, welche mit Saitenspiel und allerlei grotesken Sprüngen und Tänzen den Sieg über den Schrecken des Landes feierten.

So erwacht nun das Bewußtsein in der Nacht der Dunkelheit im Inneren der Körperhöhle und „tastet“ umher, um irgendein Mittel zur Befreiung zu finden. Die leuchtenden Karfunkel als Steinchen der Weisen zeigen den Weg. So schlüpft nun Wolfdietrich immer weiter in die Rolle des Kaisers im körperlichen Reich, legt dessen Rüstung an und ergreift dessen Schwert. Und als es dann im Inneren hell wurde, besiegte er den Ego-Drachen und dessen Brut. Hier ist es nun für den begrifflichen Verstand schwer, nicht von Töten zu sprechen. Doch eigentlich geht es darum, daß sich das Bewußtsein als siegreicher Kaiser aus dem körperlichen Ego-Wesen erheben kann und nicht in der „von Blut und Gift verpesteten Höhle“ unbewußt wird und versinkt. Das ist zumindest der erste Schritt, um den weiblichen Ego-Drachen im tierhaften Reich der Natur zu besiegen. Die Kraft, die der Geist für diesen „Sieg-Frieden“ braucht, kommt natürlich von Siegminne als „Sieg der Liebe“ und Liebgart als „Garten der Liebe“. Denn das große Ziel ist nicht der Tod des Egos, sondern die wahre Liebe zwischen dem reinen Geist und der reinen Seele der Natur, um ein ganzheitliches Bewußtsein in der Vereinigung von Geist und Natur zu erreichen, wofür natürlich das trennende Bewußtsein überwunden werden muß. Und dazu helfen dann die Naturgeister, indem sie die nötigen Mittel für Rüstung, Waffen und Nahrung bereitstellen. Wunderbar! Zumindest kann man in diese Richtung darüber nachdenken…

Bevor der siegreiche Held den Weg nach Garden wieder einschlug, ging er in die Drachenhöhle zurück, um sich die Köpfe der erlegten Untiere zu holen, die ein Zeugnis seiner Taten sein sollten. Sein gutes Schwert Rosen trennte einen nach dem anderen vom Rumpf. Er fand aber, als er sich diese aufladen wollte, daß sie zu schwer waren. Dazu hätte er jener Riesin an Kraft gleich sein müssen, die ihn mit seinem Hengst über die Berge trug. So begnügte er sich damit, die Zungen aus den fletschenden Rachen zu schneiden. Diese barg er in einem Ledersack, den ihm der dienstwillige Zwerg verabreichte. In Ermangelung eines Pferdes mußte er sich zu Fuß auf den Weg machen, was freilich mühsam war und die Reise wenig förderte. Er verfehlte oft den Weg und irrte mehrere Tage in den wilden Bergen herum, bis er einen Ausweg fand. Nun gelangte er an die wohlbekannte Linde auf dem wonnesamen Anger. Hier konnte er sich ausruhen und ohne Gefahr im Vogelgesang dem Schlaf überlassen. Er mochte lange geruht haben, denn als er erwachte, war die Sonne am Untergehen. Dann verspeiste er den Rest von den Vorräten, die ihm Alberich mitgegeben hatte, lud den Sack mit den Drachenzungen auf die Schultern und wanderte die Nacht hindurch längs der Steinwand nach dem See. Dort stürzte ein Bach von hohem Felsen rauschend in die Flut, und durch das Brausen und Tosen des Wasserfalles hindurch hörte er Paukenwirbel und Hörnerklänge. Es kam von Garden herüber und verkündigte wohl, daß man drüben ein Fest feiere. Er machte sich sogleich auf den Weg, um zu sehen, was das bedeute. Da kam er an eine Klause, in welcher ein frommer Einsiedler wohnte, und nahm daselbst Einkehr. Der Mann saß bei einem reichlichen Mahl und lud den Wanderer sogleich ein, daran teilzunehmen. „Seht, werter Herr, das hat mir der tapfere Burggraf Gerwart, der Überwinder des Lindwurms, gesendet, daß ich für ihn bete. Er feiert heute seine Hochzeit mit der schönen Liebgart, der Witwe von Kaiser Ortnit, Gott hab ihn selig.“ Als der Gast diese Nachricht vernahm, ließ er die köstliche Pastete unberührt, die der Wirt ihm vorsetzte, und sprach: „Höre, frommer Mann, leihe mir deine Kutte und Kapuze. Ich will mir das Fest beschauen, aber unerkannt bleiben.“ Der Klausner sah ihn mißtrauisch an, doch als der Gast gebieterisch sein Gesuch wiederholte und erklärte, daß es um den Kampf gegen die Lüge geht, holte er eine Kutte und Kapuze aus einem Schrein hervor und übergab sie ihm, indem er sagte, die Gewänder hätten dem guten Bruder Martin gehört, der vor ihm die Klause bewohnt habe. Wolfdietrich legte die ungewohnte Tracht an, die Helm und Rüstung vollkommen verbarg, und schritt weiter nach Burg Garden. Überall begegnete er Bürgern und Landleuten und hörte, wie das Land nun der Linddrachen-Plage ledig sei, und wie nun auch durch die Vermählung der Kaiserin mit dem Besieger der Untiere die Unruhen und blutigen Fehden der Landherren ein Ende nehmen würden.

Daß Wolfdietrich mit dem Kaiser-Schwert die Drachenköpfe abschneiden konnte, erinnert noch einmal daran, daß er das Problem an der Ursache gelöst hatte. Nun geht es darum, das Zeugnis davon auch in die Menschenwelt zu bringen, um als neuer Kaiser erkannt und anerkannt zu werden. Davon sollen dann wohl die Drachen-Zungen sprechen. So kehrt er auch in die Verstandeswelt am Fuß der Linde zurück, wo er nun unter dem Vogelgezwitscher der Gedanken gefahrlos ruhen kann, denn der hungrig-gierige Ego-Drachen ist überwunden. Und so kommt er auch nach Garden an den Gedächtnis-See der Erinnerung, wo er einen entsagenden Einsiedler-Geist fand, der ihn von Burggraf Gerwart berichtete. Der Name erinnert an den „Diener des Speeres“ und damit an den gedanklichen Verstand, der als Diener der Gedanken ein Burggraf ist, das heißt, in der Körperburg herrscht. Und hier zeigt sich die übliche Gefahr, daß sich der Verstand gern den Sieg der Vernunft aneignen will, und damit glaubt, die Seele der Natur zu gewinnen und König, ja sogar Kaiser im Reich zu werden. Das ist dann das typische „Ich habe gewonnen und gesiegt!“, in dem bereits der männliche bzw. geistige Ego-Drachen winkt, so daß der Verstand nicht erkennen will, wie viele Wesen an diesem Sieg beteiligt waren, ja, im Grunde sogar das ganze Universum. Dazu läßt sich Wolfdietrich vom Einsiedler, der „im Einen siedelt und in der Ganzheit wohnt“, sozusagen eine dritte Rüstung geben, nämlich die Mönchskutte, die vor der Lüge des begrifflichen Verstandes und den Illusionen der Sinne schützt. Entsprechend erinnert auch der Name Martin, dem diese Kutte gehörte, an den römischen Kriegsgott Mars im Kampf gegen die Lüge.

So ist er nun dreifach gerüstet: Zuerst mit dem Seidenhemd von Siegminne als Geistnatur, dann mit der Kaiser-Rüstung von Alberich als Naturgeist, und schließlich auch mit der Mönchskutte vom Einsiedler als heiliger bzw. heilsamer Geist. Und damit hatte er auch die drei mystischen Schätze empfangen, die damals auf dem fischähnlichen Schiff als Symbol des Lebens erwähnt wurden, mit dem er über das Meer der Ursachen nach Alt-Troja segelte: Zuerst empfing er das Hemd aus Palmatseide von Siegminne auf dem Schiff selbst, um die geistige Vergänglichkeit zu besiegen, dann von Liebgart den goldenen Ring mit dem Siegstein, um den Naturgeist zu erkennen und den Ego-Drachen zu besiegen, und schließlich vom Einsiedler die Mönchskutte mit der Tarnkappe, um sich unsichtbar zu machen und endlich auch die Verstandes-Lüge zu besiegen. Darin liegt wohl auch der „körperliche Reichtum des Menschen“, der große Schatz, den Wolfdietrich verwirklichte.

Auf Burg Garden war große Festlichkeit. Die Vasallen des Reiches saßen in der Halle bei Schmaus und Trank, zuoberst Burggraf Gerwart, der auch „Habichtsnase“ genannt wurde, denn er hatte in der Tat ein Geruchsorgan, das ein stattlicher Höcker bekrönte. Königin Liebgart nebst einigen Jungfrauen schenkte die oft geleerten Becher wieder voll, aber manche Träne fiel in den duftigen Trank, wenn sie an den stolzen Hochzeiter dachte, der ihr den Ehering der Liebe nicht geben konnte, wie ihr Ortnit verhießen hatte. Doch über dem Hochsitz grinsten die Drachenköpfe, das Siegeszeichen des Burggrafen, der mit achtzig Recken ausgezogen war, aber, wie man versicherte, doch ganz allein die Ungeheuer erlegt hatte. Im unteren Raum der Halle trieben sich Gaukler, Fiedler und Spielleute herum, die jedoch der eingetretene Klausner alle überragte. Die Kaiserin erblickte den vermeintlichen Einsiedler, und frommen Sinnes ging sie selbst mit einem gefüllten Becher zu ihm. Er leerte den Pokal auf einen Zug, ließ aber unbemerkt den Ehering von Ortnit hineingleiten. Sie bemerkte das Kleinod erst, als sie wieder neben Gerwart den Hochsitz eingenommen hatte. Da zitterte sie heftig, aber ermannte sich und rief mit fester Stimme: „Einsiedler, tritt vor und sprich, wer dir den Ring gegeben hat.“ Der Klausner drängte sich durch die Menge, stand vor dem Hochsitz und sagte laut und vernehmlich: „Der den Drachen mit der Brut erschlagen hat.“ - „Wer bist du?“, fragte sie weiter: „Und wie bist du zu dem Ring gekommen?“ - „Herrin, du selbst hast ihn mir einst geschenkt!“, rief er. Dann nahm er die Kapuze ab, öffnete die Kutte, und vor der Königin und allen Hofleuten stand der Held Wolfdietrich, strahlend in Ortnits Rüstung, hoch und herrlich, wie einst der Heidengott Balder (als Gott des Lichtes) in der Versammlung der Asen. Alle erkannten Helm, Rüstung und Schwert des gefeierten Kaisers, aber Liebgart erkannte auch den Helden, der sie jetzt trug. Und weil er ihr auch den Ehering der Liebe gebracht hatte, das Pfand von Kaiser Ortnit, das ihr der liebe Gatte einst beim letzten Abschied versprochen hatte, da blieb kein Zweifel mehr, der Held war des Kaisers Rächer und Nachfolger. Die Königin erklärte das alles der Versammlung, und viele Stimmen riefen: „Der Rächer unseres Herrn, der Held, der die Drachenbrut vertilgte, soll König im Lombardenland sein!“

Was dem begrifflichen Verstand am meisten fehlt, ist natürlich die wahre Liebe, denn was er als Liebe bezeichnet, ist nur die Begierde nach den Formen, die er begreifen kann. Diese Begierde soll vermutlich auch die „Habichtsnase“ andeuten, das wohlbekannte „Hab-Ich“ als Schnabel eines Raubvogels symbolisiert. Vor diesem „Hab-Ich“ wird Wolfdietrich durch die Mönchskutte beschützt, und diese fromme Demut sucht auch die Kaiserin als reine Seele und reicht ihm den Becher mit dem Wein der Illusion, die der Held mit einem Zug „ausleeren“ kann. Und in dieser Leerheit ist der goldene Ehering der reinen Liebe zu finden. Eine wunderbare Symbolik! Denn was bleibt übrig, wenn die Illusion verschwindet? So erkennt die reine Seele den reinen Geist als ihren ursprünglichen Ehemann, der ihr auch in Ewigkeit versprochen ist. Und was macht der „Hab-Ich“ Verstand mit seiner Vorstellung „das habe ich getan“?

Dagegen erhob sich Burggraf Gerwart. Er deutete auf die Drachenköpfe als Zeugen seiner Taten und nahm sie herunter, um sie vor sich aufzupflanzen. Doch dabei verwundete er sich an einem hervorstehenden Zahn des alten Wurmes und ließ ihn erschrocken zu Boden fallen mit dem Ausruf: „Er beißt noch!“ - „Er beißt noch!“, wiederholten die umstehenden Recken unter schallendem Gelächter, in welches alsbald noch andere einstimmten, da sich der Mann mit der blutenden Hand über die Habichtsnase fuhr und diese nunmehr in hochroter Färbung erschien. Die Szene wurde indessen ernster, denn die Dienstmänner des Grafen zogen für die Ehre ihres Lehnsherrn die Schwerter, während andere Hofherren zu Wolfdietrich standen. Durch den Tumult hörte man aber die mächtige Stimme des Helden. Er fragte, ob die Würmer nicht auch Zungen hätten, und als man es bejahte, zeigte er die hohlen Rachen. Darauf holte er die fehlenden Zungen aus dem Ledersack hervor, indem er sagte: „Seht, werte Herren, die alte Drachenmutter hat sie mir alle abgeben müssen und nun zum Zeichen der Wahrheit dem edlen Grafen ihren Zahn fühlen lassen.“ Dieser Beweis war so überzeugend, daß die ganze Versammlung in den Ruf einstimmte: „Es lebe Wolfdietrich, unser König! Nieder mit dem verlogenen Gerwart!“ Der armselige Burggraf bat fußfällig um Gnade, und erhielt sie, mußte aber auf Ehren und Würde Verzicht leisten.

Ja, für den stolzen Verstand beißen auch die abgeschlagenen Köpfe noch, denn er kann niemals die Ursache des Ego-Geistes besiegen. So sprechen auch die Zungen gegen ihn, der wahre Held wird erkannt, und der Verstand muß sich der Vernunft unterordnen, denn das ist die Voraussetzung für den „Sieg-Frieden“ im Menschenreich:

Unter den versammelten Landherren wurde der Wunsch laut, der erwählte König möge in alle Rechte des Burggrafen eintreten, folglich auch in die Rechte auf die Hand der Kaiserin. Er erwiderte: „Als Oberhaupt des Reiches bin ich zugleich Diener meiner Völker und verpflichtet, für ihre Wohlfahrt zu sorgen. Was aber mich selbst und die Wahl einer Gattin betrifft, so ist meine Wahl frei, und nicht vom Willen anderer abhängig. Dieselbe Freiheit hat die königliche Frau, die noch in Trauer um den ersten Gemahl ist. Hält sie mich für würdig, an seine Stelle zu treten, glaubt sie, daß meine Liebe und Verehrung ein Ersatz für das sei, was sie verloren hat, dann biete ich ihr die Hand zum Bund auf Lebenszeit.“ Liebgart schwankte nicht. Die letzten Worte ihres vorigen Gatten und der Edelmut des Mannes, der ihn gerächt hatte, überwogen jedes Bedenken. Sie schlug in die dargebotene Hand ein und die Vermählung wurde gefeiert.

Wolfdietrich war nicht mehr der hoffnungsvolle feurige Jüngling, der mit starker Hand alle Hindernisse niederzuwerfen glaubte. Er war zum Mann gereift. Zwar vertraute er noch seiner Heldenkraft, aber auch mit Vorsicht und Weisheit. So gedachte er nun wieder seiner Dienstmänner, denn er hatte erfahren, daß die Burg Lilienporte nach mehreren Jahren Belagerung schließlich von Sabene eingenommen wurde, daß seine alte Mutter, die Kaiserin Hildburg, an Hunger und Gram starb und die völlig ausgehungerte Mannschaft zusammen mit Berchtung und seinen Söhnen als Gefangene nach Konstantinopel verschleppt wurden. Er war bereit, sie dort zu befreien, doch wollte er zuvor dem zerrütteten Land den Frieden wiedergeben, sich die Liebe und opferwillige Hingebung des Volkes erwerben, ehe er ein Aufgebot zu einer Heerfahrt in ferne Länder erließ. Er übte daher Recht und Gerechtigkeit, zerstörte die Raubnester der Wegelagerer, vertilgte Räuber, bezwang mit siegender Gewalt widerspenstige Landherren und sorgte für den Wohlstand der Untertanen. Das Schwert Rosen in seiner Hand glänzte stets in Gefechten dort, wo die Gefahr am größten war. Wenn er aber aus den Kämpfen heimkehrte und die Hausfrau ihm die Rüstung abnahm, da war er ganz der liebende Gatte, und beide bereuten ihre Wahl nicht. Wohl ein Jahr ging unter solchen Mühen dahin, bis das Land in Frieden und das Volk seinem Herrscher ganz ergeben war. Nun entdeckte er der Frau die peinliche Sorge für seine Dienstmänner, und wie es seine Pflicht sei, für ihre Auslösung das Schwert umzugürten. Sie weinte und fürchtete, er werde so wenig wiederkehren, wie einstmals Ortnit, aber sie riet nicht ab, nachdem er ihr die Vorgänge erzählt hatte. Nun geschah das allgemeine Aufgebot, und das Volk gehorchte willig, über sechzigtausend Krieger waren zur Heerfahrt bereit.

So vereinen sich schließlich Geist und Natur durch die Macht der Liebe in der großen Hochzeit, und diese „Hoch-Zeit“ wirkt sich natürlich auch in der körperlichen Menschenwelt aus und der „Sieg-Frieden“ kehrt zurück, nach dem sich auch Kaiser Ortnit so sehr gesehnt hatte. Nun muß nur noch der männliche Ego-Drachen im geistigen Vaterland von Konstantinopel besiegt werden, sonst droht er weiterhin in die körperliche Menschenwelt einzufallen oder seine Eier hier ausbrüten zu lassen. Dieser Ego-Geist in der Rolle von Sabene hatte bereits die Mutter von Wolfdietrich auf dem Gewissen, ähnlich wie auch die Mutter von Ortnit getötet wurde, in der wir die materielle Natur erkannt hatten. So lesen wir nun im Weiteren, wie Wolfdietrich den Weg der Befreiung geht und das ewige Leben gewinnt.


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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: