Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Dietrichsage: Die Hochzeit mit Virginal

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Dietrich und Hildebrand zogen einst nordwärts, weit in die wilden Berge im Tiroler Land. Sie wollten Gemsen jagen, aber die Jagd war nicht ergiebig. Der König war wenig achtsam, schleuderte selten den Speer und verfehlte stets das Wild, so daß Hildebrand ihm häufig sein Ungeschick vorwarf. Auf einer Anhöhe im Angesicht der schneegekrönten Berge machten die Recken Halt, um von den mitgeführten Vorräten zu speisen. Der Weinschlauch fehlte nicht. Sie leerten manchen Becher und plauderten dabei von bestandenen Abenteuern. „Höre mich, Meister“, unterbrach der Berner den redseligen Genossen, „ich kann sie nicht vergessen, die Königin Virginal. Sie ging an mir vorüber, als ich gegen Siegnot auszog, und warnte mich. Sie erschien mir wie die himmlische Freya, die, so meinte ich, zu einem Sterblichen herabgestiegen sei, um ihn mit ihrer Huld zu beglücken. Ich will, ich muß ihre Behausung aufsuchen und um ihre Gunst werben, sollte mir auch ein zweiter Siegnot mit allen seinen Brüdern in den Weg treten.“ - „Du würdest von dem zweiten Siegnot und seinen Brüdern übel gebläut“, lachte der Meister, „und leichter könntest du einen Stern am Himmel um seine Gunst anrufen, als die Königin Virginal hinter ihren Gletschern und Eisbergen.“

Wie die Helden noch miteinander plauderten, stand plötzlich ein winziges Männlein, ganz wie ein Recke mit Helm und Brünne (Brustpanzer) gerüstet, vor ihnen. „Wisset, edle Recken“, sagte er, „ich bin Bibung, der unüberwindliche Leibwächter der Königin Virginal, deren Herrschaft alle Zwerge und Riesen in diesen Bergen untertänig waren. Mit meiner Hilfe hat sie den diebischen Elbegast von hier vertrieben, aber der unholde Geselle hat nun den Zauberer Ortgis mit seinen Riesen und Lindwürmern hierher gewiesen, und der zwang sie jüngst durch seine schwarze Kunst zu einem schmählichen Tribut. Sie muß ihm, sooft der volle Mond am Himmel erscheint, eine ihrer schönen Jungfrauen überliefern, die er dann einsperrt, mästet und zum Mittagsbrot verspeist. So ist Jeraspunt, ihr Palast, mit Weinen und Wehklagen erfüllt. Meine Herrin läßt euch nun zu sich entbieten, daß ihr, weil ihr den schrecklichen Siegnot besiegt habt, den Zauber löst, indem ihr den finsteren Zauberer mit seinen Helfern bekämpft. Eilt also nach Jeraspunt der hohen Königin zu Hilfe!“

Natürlich, wer die reine Seele und königliche Jungfrau Virginal einmal geschaut hat, der ist verliebt, und die Jagd in der äußeren Welt ist plötzlich gar nicht mehr so wichtig und reizvoll. So versucht nun die Vernunft, die reine Seele der Natur zu gewinnen. Doch auch hier steht wieder das große Hindernis im Weg, und die Symbolik ist wundervoll beschrieben: Es erscheint ein Naturgeist namens Bibung als „unüberwindlicher Leibwächter“, der den diebischen Elbegast vertrieben hat. Was kann das bedeuten? Hat Bibung versucht, die Vergänglichkeit aus der Natur zu vertreiben, weil er den Leib der Natur bewachen und erhalten will? Das wäre eigentlich ein großartiges Ziel, und im Grunde suchen wir alle diese Unsterblichkeit. Aber wie? Hier heißt es nun, daß der vertriebene Elbegast einen Zauberer mit schwarzer Magie zusammen mit Riesen und Drachenschlangen geschickt hat. Und das macht auch Sinn, denn wer den Leib festhalten will, der hält die Dunkelheit fest und zieht die schwarze Magie an, und wer darin sein persönliches Eigentum sieht, der zieht den Gier-Riesen und Ego-Drachen hinterher. Und diese dunklen Zauberkräfte rauben der reinen Seele ihre Jungfräulichkeit, binden diese und ernähren sich von ihrer Bindung. Ja, das ist wohl der große Unterschied zwischen weißer und schwarzer Magie: Die eine befreit das Licht ins reine Bewußtsein, und die andere bindet das Licht, bis es sogar körperliche Materie wird, und das weiß auch unsere moderne Wissenschaft.

Der Name Lindwurm erinnert uns zum einen an die Linde als Lebensbaum und zum anderen an die teuflisch-feindliche oder giftige Schlange, die sich an diesem Baum schlängelt und ihn damit zum Baum der Gegensätze macht. Daraus wird dann der berühmt-berüchtigte Ego-Drachen, der so schwer zu besiegen ist. Er speit tödliches Feuer, sorgt für Uneinigkeit und Trennung und raubt die Jungfräulichkeit bzw. Reinheit der Natur.

Und wo findet man die reine Seele der Natur? Der Name Jeraspunt läßt sich aus dem alten Wort „Jera“ für Jahr oder Zeit und „Spunt“ für Zapfen, Spitze, Verschluß oder Verbindung zusammensetzen und erinnert damit an den „Kreis der Jahreszeiten“ oder die „Bindung der Zeit“ bezüglich der äußerlichen Natur im Licht der auf- und untergehenden Sonne, oder auch an die mehr oder weniger vereisten Bergesgipfel und die wachsenden und tauenden Eiszapfen, wie sie weiter unten auch im Bild von Königin Virginal dargestellt sind.

„Wo ist Jeraspunt? Wie finden wir den Weg?“, fragte Dietrich begierig. „Ihr wißt es nicht?!“, rief der Zwerg: „Blickt dorthin, auf die Höhen, die von der sinkenden Sonne beleuchtet werden, dort seht ihr den Palast in seiner Herrlichkeit.“

Der beiden Recken Blicke ferne glitten,
Wie jener deutet, zu den Höhen hin,
Wo in der Bergumkettung öder Mitten
Manch' Felsenbild, das erst noch dunkel schien,
Nun, von des Abends Purpurstrom umflossen,
Der dunklen Erde ahnungsvolles Sinnen,
Verlorne Klarheit wieder zu gewinnen,
Dem Menschenauge freudig hat erschlossen.

Die alten Häupter dort, von Jahren weiß,
Sie haben sich geschmückt mit goldnen Kränzen,
Die sonst nur um der Jugend Locken glänzen.
Um des starren Scheitelhaares Silbereis,
Und aus dem Leichentuch, von Schnee gewoben
Um toter Felsen Riesenleib, in Glut
Auflodernd, hat sich eine Welt erhoben,
Genährt von ungeahnter Lebensflut.

Da blitzen Sterne und goldne Früchte ohne Ende,
Dort Purpurblumen, die dem Firmamente
Die Kelche erschließen, Burgen und Paläste,
Geschmückt zum königlichen Hochzeitfeste,
Da sich dem Ozean, dem wunderreichen,
Die Königin des Tages gab zu eigen.

Und oben auf des Berges höchster Schräge
Erbauen stillgeschäftig Geisterhände
Ein Wunderhaus, kristallenhell die Wände;
Wohin sich wenden rings die steilen Stege,
Die Zinnen, Pfeilerreihen, von Blumenreifen
Die Knäufe umgürtet an die Sterne streifen;

Und mitten in Rubinen eingesenkt,
Des Fensters Rose, wo empor sich schwingen
Die Giebel; In Saphir das Tor gesprengt
Und offen weit, daß frei die Blicke dringen
Ins offne Heiligtum der Halle hin;
Da thront sie selbst, die hohe Königin.
Auf Erden ist kein Bild ihr zu vergleichen,
Soweit der Sonne goldne Strahlen reichen.

Die beiden Recken konnten die Blicke nicht von der Wundererscheinung abwenden. Doch allmählich verblaßte sie, als die Sonne tiefer sank. Noch glänzten die Giebel und Zinnen rotglühend, dann verloren auch sie den hellen Schein, und die Berge starrten in ihrem Gewand von Schnee wie aufgehäufte Leichen zum Sternenhimmel empor.


Quelle: Wiki Alpenglühen

Ja, das ist der Zugang zur reinen Seele der Natur in unserer Welt der Vergänglichkeit, sozusagen das „Alpenglühen im Reich der Alben als Naturgeister“. Die ganze äußerliche Welt ist ihr lebendiges Reich, und auf dem Gipfel der Welt steht ihr leuchtender und reichgeschmückter Palast. Doch ohne den Geist des lebendigen Lichtes bzw. Bewußtseins wird eine tote und dunkle Natur daraus. Der Weg zu ihrem Palast ist dieses sprachlose Staunen in stiller Gegenwärtigkeit, das wir wohl alle schon einmal erlebt haben, beim Blick in den grenzenlosen Sternenhimmel oder beim Anblick der mächtigen schneebedeckten Berge eines Hochgebirges. So wurde offenbar auch Wilhelm Wägner von dieser Stelle inspiriert und hat noch ein Gedicht dazu geschrieben. Aber dieses reine Bewußtsein in reiner Gegenwärtigkeit, dieses stille Staunen der Vernunft mit offenem Mund, währt oft nur einen Augenblick, und dann beginnt der begriffliche Verstand wieder zu denken und drängt sich ins Spiel:

Hildebrand unterbrach zuerst das Schweigen. „Wahrlich“, rief er, „wenn Frau Ute, meine eheliche Wirtin, nicht wäre, so wollte ich selbst um die Königin Virginal werben gehen. Aber nun will ich dir, lieber Geselle, treulich beistehen, daß du sie als Eheliebste heimführst in das Königshaus zu Bern. - He, Bibung! Wo zum Henker ist der Knirps hingeraten?“ - „Der unüberwindliche Leibwächter hat Sorge vor Ortgis“, sagte Dietrich, „wir aber zerhauen mit unseren Schwertern seine Nebelgeister. Nun vorwärts zum Palast der Königin!“ - „Die Nacht ist Mutter der Hexen!“, versetzte der Meister: „Daher wollen wir hier auf dem weichen Moos ruhen, bis der Morgen aufsteigt. Hole den Schlauch hervor, denn herb ist unser Sorgenbrecher, doch labend, wie wahrhafte Treue.“

Ja, so zieht uns der Verstand wieder in die weltliche Dunkelheit, die auch viel mit den „Hexen“ bzw. den hexa oder sechs Fenstern der Körperburg als die fünf Sinne und das Denken als sechstes zusammenhängt, die für die körperliche Abgrenzung verantwortlich sind, für das Mein und Dein, Innen und Außen sowie Geist und Natur. Dazu bietet uns der Verstand noch den Wein der Illusion an, bis das Bewußtsein in den Schlaf fällt, aber immer wieder in der eisigen Zauber- und Nebel-Welt erwachen muß, bis es vollkommen ins Licht erwacht:

Sie schmausten und tranken und schliefen ruhig auf den Moosbetten. Der Morgen war trüb und nebelig. Eisiger Schneesturm schlug den Recken entgegen, und der Weg ging über steile Höhen, so daß sie bald ihre Pferde zurücklassen mußten. Schneefelder und Gletscher breiteten sich vor ihnen aus, donnernde Lawinen, herabrollende Felsentrümmer und Abgründe drohten ihnen auf jedem Schritt mit Verderben. Doch wanderten sie unverzagt weiter, denn vor ihnen leuchtete über dem Nebelmeer fernher der Palast der Königin im Sonnenglanz. Ein tiefes Tal trennte sie noch von jenem Berg, das sie durchschreiten mußten. Sie gelangten herabsteigend an einen Brunnen, wo sie den brennenden Durst löschen und sich ausruhen wollten. Doch ein lauter Hilferuf einer weiblichen Stimme störte ihre Ruhe. Sie gewahrten gleich darauf ein Mägdlein, das laut jammernd daher stürzte und ihre Hilfe vor dem schrecklichen Ortgis anrief. Sie erzählte ihnen, wie sie demselben nach dem Vertrag überliefert worden sei, und wie er sie gleich einem Wild mit Hunden verfolgte. Kaum hatte sie geendigt, stürmten die Rüden des wilden Jägers herbei und griffen die unglückliche Jungfrau an. Zugleich hörte man das „Halloh“ der verfolgenden Jäger. Ehe diese aber nahekamen, waren die Bestien schon erlegt, und nun begann der Kampf mit Ortgis und seinem Gefolge. Wie riesenhaft aber auch Ortgis und die anderen Jäger waren, sie unterlagen doch den Schwertern der Helden, und nur ein Mann entkam durch eilige Flucht, und der war gerade der schlimmste, nämlich Janibas, der Sohn von Ortgis und zauberkundig wie sein Vater.

Nun überhäufen sich die Symbole, über die man lange nachdenken kann: Nebel, Wasser, Schnee und Eis bis zum Eisen der Rüstungen und Stein der Berge sind im Grunde alles „gefrorenes Licht“ oder „geronnener Geist“, wie der bekannte Physiker Hans-Peter Dürr sagte. So könnte man auch von verzaubertem Licht bzw. Bewußtsein sprechen, und dieser materielle Zauber erscheint uns zuerst äußerlich. Hier spielt wieder der Ego-Verstand mit den Jagdhunden als Gedanken seine begriffliche Rolle und will sich von der Natur ernähren, die er mit seinen Begriffen mästet. Dazu will er auch ihre Jungfräulichkeit bzw. Reinheit nehmen, denn mit einer reinen Natur kann nur die ganzheitliche Vernunft etwas anfangen, aber nicht der Ego-Verstand, der eine feindliche Natur braucht, um gegen sie zu kämpfen und sein trennendes Bewußtsein im Kampf zu ernähren.

Daß sie ihre Pferde zurückließen erinnert uns daran, daß es nun aus der körperlichen Welt mehr in eine geistige oder innerliche Welt geht. Und der schnelle Sieg über Ortgis bedeutet wohl, daß der äußerliche Zauber der schwarzen Magie noch relativ einfach zu besiegen ist, aber schwieriger wird nun seine Nachkommenschaft der hinterhältigen Kräfte und Mächte, die daraus entstanden sind:

Gern wären die Helden sogleich nach Jeraspunt, dem Palast der Königin, aufgebrochen, aber der Weg dahin war sehr weit, wie die Jungfrau versicherte, und der Abend dämmerte bereits. Wo sollte man aber ein Nachtlager in der eisumstarrten Einöde finden? Da lag nun vor ihnen im Talgrund eine stolze Burg, und zwar die des erschlagenen Ortgis, wie die Jungfrau gleichfalls angab. Furchtlos, wie die Helden waren, beschlossen sie, mit Güte oder Gewalt darin Herberge zu suchen. Als sie daselbst ankamen und an die Tür klopften, sprangen mehrere bewaffnete riesenhafte Männer heraus, die sie bis an den Brunnen zurückdrängten, aber endlich erschlagen wurden. Hinter ihnen hielt ein Reiter in schwarzer Rüstung, der murmelte beständig in einer fremden Sprache vor sich hin, und daraufhin erschienen, wie aus dem Boden aufsteigend, abermals riesige Männer zu neuem Kampf. Dennoch siegten die Recken. Doch das Murmeln des schwarzen Reiters dauerte fort und lockte gräßliche Lindwürmer (Schlangen-Drachen) hervor, mit denen die Helden die lange Nacht hindurch zu streiten hatten. Erst als die freundliche Sonne aufging und die nächtlichen Schrecken verscheuchte, verschwand der Schwarze. Dagegen erblickte man einen ungeheuren alten Lindwurm, der einen gepanzerten Mann im Rachen trug. Das Untier wollte eilends mit seiner Beute vorüberkriechen, aber die Recken schleuderten ihre Speere und griffen es, als diese wirkungslos blieben, mit gezogenen Schwertern an. Der Drache ließ seine Beute fallen und stürzte sich zischend auf den Berner, der ihm zunächst stand. Mit der Tatze riß er ihm den Schild herunter und schlitzte ihm die Rüstung und die Seite auf, während er zugleich den Meister mit dem Schweif umschlang und gleich einem Ball weit fortschleuderte. Dafür bohrte ihm Dietrich das Schwert durch den Rachen in den Schlund und drängte nach, so daß die Klinge hindurch in einen Baum drang und so den Kopf fest anheftete. Wie grimmig auch das Ungeheuer mit Tatzen und Schweif um sich schlug, es konnte nicht loskommen und verendete unter gräßlichem Geheul.

Auch diese Symbolik ist trefflich: Der Ego-Drachen wird mit dem Schwert der ganzheitlichen Weisheit an den Baum des Lebens geheftet, und damit vergeht das trennende Bewußtsein wie von selbst, aber nicht leidlos. Und nach diesem wichtigen Schritt erscheint weitere Hilfe im Kampf:

Die gerettete Jungfrau, die bisher angstvoll den Kämpfen zugesehen hatte, verband die Wunde des Helden und legte heilsamen Balsam darauf. Indessen richtete Hildebrand den Mann, der aus dem Drachenrachen gefallen war, auf und erkannte in ihm Ruotwin, den Sohn Helfrichs von Tuskan, der ein Bruder seiner Mutter war. Glücklicherweise hatte derselbe außer einigen Quetschungen keinen Schaden genommen und konnte den Helden Beistand leisten, als sie nach der Burg des erschlagenen Ortgis aufbrachen, um dessen Sohn, den Hexenmeister Janibas, zu züchtigen. Es erschien aber noch weitere Hilfe, nämlich der streitbare Helfrich, der mit bewaffnetem Gefolge den Lindwurm verfolgte, um seinen Sohn zu retten oder zu rächen. Die Freude des Wiedersehens war groß, und willig schloß sich der Graf den Helden an.

Helfrich haben wir in der Nibelungensage in der Rolle der Intuition kennengelernt, die auch hier paßt, mit seinem Sohn Ruotwin als Phantasie, die vom Ego-Drachen als Ego-Verstand erfaßt wurde und in dessen Gewalt kam. Intuition und Phantasie sind natürlich wichtige Helfer für die Vernunft und den Verstand:

Dietrich und Hildebrand bestiegen Beutepferde, und das kleine Heer setzte sich in Bewegung. Man fand die Tore der Burg offen, aber im Hof die ganze zahlreiche Wehrmannschaft kampfbereit. Janibas, wie vorher schwarz gerüstet, hielt auf kohlschwarzem Rappen hinter den Reihen. Er murmelte Zaubersprüche, und sogleich stürzten Löwen auf die eindringenden Helden. Sie erlagen den geschleuderten Speeren, die Burgmannschaft den Schwertern, doch der Zauberer selbst entrann den Verfolgern. „Hei“, rief der Berner, „hätte ich Falke unter mir gehabt, der Hexenmeister wäre nicht ohne tüchtige Schrammen davongekommen.“ In der Burg fand man reichliche Speisevorräte und edlen Wein, aber auch noch drei Jungfrauen der Königin, nackt und bloß, die zur Mästung eingesperrt waren und vor Frost zitterten. Sie erhielten Gewänder, denn ihre Kleider und die der früher geschlachteten und verspeisten Jungfrauen gewährten hinreichende Auswahl.

Die Zauberherberge wurde beim Abzug den Flammen übergeben. Die Fahrt ging darauf weiter nach Aron, dem Burgsitz von Helfrich, der die Helden zuvor bewirten wollte, ehe sie den schwierigen Marsch nach dem Palast der Königin unternahmen. Man sah sich um so mehr zur Einkehr bei dem befreundeten Mann genötigt, da Dietrichs Wunde wieder aufbrach und eiterte. Man erreichte ohne weitere Abenteuer die gastliche Herberge. Die Hausfrau kam ihnen entgegen, umarmte den Sohn, um den sie schon viele Tränen vergossen hatte, und bot alles auf, die willkommenen Gäste zu pflegen. Besonders nahm sie sich Dietrichs an, verband seine Wunde und wandte so kräftige Heilmittel an, daß sie nach wenigen Tagen zu vernarben anfing. Als sich der Held wieder kräftig fühlte, trieb er zur Abreise, aber die gute Wirtin hatte immer einen Vorwand, die Gäste im Haus zurückzuhalten, und ihr Eheherr unterstützte sie, hielt bald ein großes Jagen, bald ein Festmahl, und schob den Termin ihrer Abreise immer weiter hinaus. Endlich wurde dieser auf den dritten Tag festgesetzt, und Helfrich versprach, ihr Führer und Geleitsmann nach Jeraspunt, dem Palast der Königin, zu sein.

So gewährt nun die Intuition große Hilfe und Heilung auf dem Weg, denn sie ist mächtiger als der Verstand. Doch man sollte sich auch hier nicht vom großen Ziel ablenken lassen.

Als die Recken noch darüber Absprache nahmen, sahen sie einen Zwerg auf windschnellem Roß daher jagen. Er trat auch bald in den Saal, wo sie bei vollem Becher saßen. Er war aber nicht, wie sonst, zierlich gekleidet und gerüstet. Sein Haar hing zerzaust um den Kopf, sein Mantel war zerschlitzt und bestäubt, sein Gesicht totenbleich. „Hilfe, edle Helden!“, rief er, und seine winzige Gestalt zitterte vor Hast oder Schrecken. „Helft der Königin Virginal! Janibas, der Sohn des schrecklichen Ortgis, bedrängt sie mit Hunden und Riesen. Er begehrt alle ihre Jungfrauen zur Jagd und zum Fraß und obendrein den leuchtenden Karfunkel in ihrem Stirnband. Wenn er den erlangt, dann wird seine Zauberkunst unwiderstehlich, und dann ist er Herr des ganzen Gebirges, aller Riesen, Zwerge und Lindwürmer, die sich darin aufhalten, und dann seid ihr auch selbst in seine blutigen Hände ausgeliefert.“

Was bedeutet der leuchtende Karfunkel? Hier können wir an die Macht der Seele denken, die in der Natur für die Verbindung von Ursache und Wirkung sorgt, was auch eine wichtige Macht des Lichtes bzw. Bewußtseins ist. Ja, das wünscht sich der Ego-Verstand, daß auch in der Natur alles nach seinem Willen läuft, denn dann wäre er der unbesiegbare Herrscher von allem. Aber dann würde auch der Sinn der Natur vergehen, und das Ego könnte niemals seine Illusionsblase verlassen und die Wahrheit erkennen. Denn der Sinn der Naturgesetze liegt auch darin, daß wir sowohl die heilsamen als auch die unheilsamen Wirkungen unserer Gedanken, Worte und Taten erfahren. So tut es nun einmal weh, wenn man gegen eine Wand rennt, und das hat seinen Sinn. Ebenfalls führt sinnvollerweise auch die schwarze Magie nicht ins heilsame Licht.

Sogleich erhob sich der Berner Held und erklärte, er werde ganz allein ausziehen, wenn die Recken noch zu warten gedächten. „Du allein?“, schrie das Männlein: „Oh, da bist du schon ein toter Mann. Mußte doch selbst ich, der unüberwindliche Leibwächter, den Rücken wenden und entrann kaum den greulichen Bestien.“ So ernst auch die Stunde und so dringend der Hilferuf war, konnte man sich doch des Lachens nicht erwehren, wenn man den schreckensbleichen Unüberwindlichen ansah. Indessen erhoben sich alle Recken und die Dienstmannen in der Burg, um den Berner in den gefährlichen Kampf zu begleiten. „Die Königin bedroht! Sie, die Segnungen über die Täler verbreitet, die unsere Saaten schützt und in Krankheit Heilung bringt! Wir wollen für sie in den Tod gehen!“ So riefen die Burgleute untereinander, bewaffneten sich und folgten den Recken.

Es war ein schlimmer, bald auch gefährlicher Weg, auf dem die Schar emporsteigen mußte. Sie kamen über Schneefelder und Gletscher, wo sich oft Eisschlünde öffneten, die man früher nicht wahrgenommen hatte. Von Zeit zu Zeit, wenn man eine freie Höhe erreichte, sah man den leuchtenden Palast Jeraspunt, dann verschwand er wieder, und es schien den Helden, als rückten sie keine Handbreit näher. „Das schafft Janibas mit seiner Hexenkunst!“, rief der Zwerg: „Denn sein Zauberspiegel hat ihm schon gezeigt, daß wir über ihn kommen.“ Ein giftiger Nebel sank herab, doch erschien hoch darüber das Königshaus, wie von Himmelsglanz erhellt. Jetzt erkannten die Recken, daß sie nähergekommen waren und verdoppelten ihre Anstrengung. Schon hörten sie Kampfgetöse, Geschrei und Geheul, und bald sahen sie den entsetzlichen Kampf selbst.

Die Wächter des Palastes lagen zum Teil zerhauen und zerfleischt am Boden, einige versuchten sich noch zu verteidigen. Riesige Hunde mit klaffenden, blutroten Rachen, Unholde jeder Art sowie Horden von wilden Kriegern bestürmten den Palast. Viele waren schon durch die zertrümmerten Tore eingedrungen und wüteten, tobten und heulten um den Hochsitz der Königin, doch vermochten sie ihr selbst nicht zu nahen, denn ein Zauberkreis, so schien es, hielt die tobende Menge zurück. Unbewegt saß die Herrin, umgeben von ihren zitternden Jungfrauen, inmitten des wilden Aufruhrs. Ein leuchtender Karfunkel zierte das Diadem, das ihr Haupt umschloß, und ein Schleier, von Silberfäden gewoben, umwallte ihre Gestalt. War es der zauberische Reiz der Schönheit, der die Unholde bannte, oder die geheimnisvolle Magie der Liebe, die aus ihren Augen strahlte? Noch hatte weder ein Mensch noch ein Tier gewagt, den Kreis um die Herrin zu überschreiten.

In diesem Bild sieht man schön, wie ringsum die Seele der Natur im Licht des Bewußtseins das Wasser des Lebens wie Eiszapfen kristallisiert, die entstehen und vergehen, wie die Naturgeister kämpfen, und auch die Menschen nach diesem Licht greifen. Doch die Mächte der Finsternis werden von einem magischen Kreis zurückgedrängt und die Mächte des Lichtes von der Kraft der Liebe angezogen, um die Dunkelheit zu besiegen. Ähnlich heißt es auch am Anfang des Johannes-Evangeliums: »In ihm (Gott) war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht begriffen. (Joh. 1.4

Die Helden machten bei dem Anblick Halt, wie wenn sie selbst gebannt wären, aber dann stürmten sie vorwärts. Eine Wolke von Schnee und Hagel trieb ihnen entgegen, heulender Sturmwind hemmte ihre Schritte, aber sie strebten weiter. Da bebte von Donnerschlägen der Berg in seiner Grundfeste, und ein bodenloser Spalt trennte sie vom Palast. Doch nun erblickte Dietrich seitwärts den Schwarzen auf seinem Rappen, wie er von eherner Tafel seine Zaubersprüche las. Er stürzte auf ihn zu, zertrümmerte mit einem Schwertstreich die Tafel und schlug ihm mit dem zweiten Hieb den Kopf ab. Ein Donnerschlag rollte durch die Berge, Lawinen stürzten und Gletscher brachen, dann folgte Totenstille. Der Zauber war gelöst, der Erdspalt schloß sich, und der Weg nach dem Palast war frei. Dagegen wandte sich die Meute gegen die vorrückenden Helden, um ihren Herrn zu rächen, doch vergeblich, die Wurfspeere, Streitäxte und Schwerter der Recken und ihrer Dienstmannen schafften Raum. Allen voran kämpfte der Held von Bern, und bald flohen die Unholde, die noch am Leben waren, in die Einöde der Schneegebirge. Dietrich nahte jetzt an der Spitze seiner Gesellen dem Hochsitz der Königin. Er wollte vor ihr wie vor einer Göttererscheinung niederknieen, aber sie stieg zu ihm herab, reichte ihm die Hand und gab ihm den Liebesgruß mit einem Kuß. Er konnte kein Wort hervorbringen, ließ sich von ihr auf den Hochsitz geleiten und saß neben ihr, ein siegreicher, königlicher Held neben der von Liebe und Anmut strahlenden Königin. „Wisse, ruhmvoller Held“, sagte sie, „ich habe deine Liebe erkannt und deine Taten gesehen. So entsage ich meiner Herrschaft im Elfenland und will mit dir ziehen unter die sterblichen Menschen und bei dir wohnen, bis der Tod uns trennt.“

Die eherne Tafel mit den Zaubersprüchen erinnert uns an den Ego-Verstand, der mit dem Griffel seine Begriffe in das Gedächtnis meißelt, und nach denen soll dann die Natur gefälligst auch funktionieren. Wenn diese festgefügte Tafel der Begriffe mit dem Schwert der Weisheit zertrümmert wird, und die Begriffe wieder beweglich, relativ und lebendig werden, dann fällt auch der Kopf vom Ego-Verstand, der feindliche Zauber verschwindet, die Abgründe der Trennung schließen sich, und der Weg zur reinen Seele ist frei, die uns voller Liebe empfängt. Auf diese Weise kann man sich symbolisch vorstellen, wie die Vernunft des reinen Geistes die reine Seele der Natur gewinnt:

Der Palast wurde von unsichtbaren Händen gereinigt, das Tor, die Pfeiler und Säulen wurden in einer Nacht wieder aufgerichtet, und bald feierte man die Hochzeit des sterblichen Helden mit der Elfenkönigin. Da wurde der Palast von zauberischem Licht erhellt, und die Menschen, die das sahen, sprachen untereinander: „Wie glühen heute die Alpen so schön, daß man meint, Geister hätten drüben Burgen und Städte von rotem Gold erbaut.“ Auf der Höhe aber schloß ein reichliches Mahl den frohen Tag. Wie die heitere Rede hinüber und herüber wechselte, erblickte Hildebrand den Zwerg, der wankenden Schrittes durch den Saal ging und seine Nase wieder glührot gleich dem Firnschnee im Abendlicht zur Schau trug. „Heda, Bibung, unüberwindlicher Leibwächter, wo hast du während des Kampfes gesteckt?“ - „Im Hinterhalt, alter Junge!“, erwiderte selbstgefällig das Männlein: „Hätte euch der Schwarze in die Pfanne gehauen, dann wäre ich hervorgebrochen, euch zu rächen.“

Nach der Hochzeit zogen die Neuvermählten nach Bern, und Virginal stand daselbst dem königlichen Haushalt mit Ehren vor. Dietrich fühlte sich an ihrer Seite so glücklich, daß er lange Zeit nicht mehr an Abenteuer dachte. Auf den Bergen dagegen schienen die Elfen und die ganze Natur in Trauer um ihre Königin zu sein, die sich einem sterblichen Menschen vermählt hatte. Denn die schneebedeckten Gipfel glühten nicht mehr wie sonst, und der Wunderpalast war nicht mehr sichtbar.

So haben wir nun ausführlich vernommen, wie der Ego-Drachen besiegt und die Jungfrau durch die Kraft der Liebe befreit werden kann, was in der Nibelungensage von Siegfried und Kriemhild am Drachenstein nur relativ kurz angedeutet wurde. Es wird nun die mystische Hochzeit von Geist und Natur im Reich der Naturgeister gefeiert, die der Verstand wohl niemals vollkommen verstehen kann. Doch offenbar hat damit auch die Vernunft noch keine wahre Vollkommenheit erreicht, denn die reine Seele sollte natürlich im Reich der Elfen und Alben nicht fehlen, wenn sie sich mit der ganzheitlichen Vernunft im Menschen vermählt. Dazu sollten auch Vernunft und Verstand sowie alle anderen Kräfte und Mächte nicht mehr getrennt voneinander existieren, zumal oben im Kampf die Unholde der schwarzen Magie nur in die eingefrorene Eiswelt geflohen waren. So herrscht wohl immer noch ein kleiner Teil des trennenden Ego-Verstandes, der sich als sterblicher Mensch betrachtet und die Seele als sein Eigentum in die körperliche Welt mitnimmt. Und deshalb ist auch diese Geschichte noch nicht am Happy-End des „Sieg-Friedens“ angekommen, obwohl schon so viel erreicht wurde…

In allen Ländern erzählte man von den Taten des Helden von Bern, und die Sänger erhoben seinen Ruhm. Deswegen kam auch mancher kühne Held, um unter seinem Banner zu kämpfen. Aber kein Widersacher wagte, in sein Reich einzufallen, und er selbst ließ es sich in der Heimat und an der Seite der hohen Königin wohl gefallen, so daß er gar nicht mehr daran dachte, ferne gefährliche Abenteuer aufzusuchen. Auch Hildebrand und Helfrich, der oft von Burg Aron herüberkam, und andere Helden ließen es sich bei Turnieren, Jagden und anderen festlichen Freuden wohl behagen.


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[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: