Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Dietrichsage: Die Kampfgesellen Heime und Wittich

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Der Ruf vom Berner Dietrich verbreitete sich auch in den nordischen Ländern. Man rühmte ihn nicht bloß in Burgen und Städten, sondern die fahrenden Spielleute sangen von ihm auch in abgelegenen Höfen und Herbergen. Da wohnte nun im tiefen Wald ein angesehener Pferdezüchter, der hieß Studas und kümmerte sich wenig um die Singerei und das Fiedeln der Fahrenden. Aber sein Sohn Heime hörte ihnen eifrig zu und ließ oftmals verlauten, er wisse Speer und Schwert ebensogut zu gebrauchen, wie der Berner. Seinen Vater verdroß dieser Übermut, und als sich der junge Recke wieder einmal vermaß, er gedenke es wohl im Kampf dem Berner gleich oder noch zuvor zu tun, rief er voll Ärger: „Dann geh doch hin in den hohlen Berg und schlage den Lindwurm tot, der so großen Schaden anrichtet!“ - Der junge Recke sah den Vater fragend an, warf ihm dann, als derselbe nickte, einen trotzigen Blick zu und ging seines Weges. „Er wird doch nicht“, brummte der Alte vor sich hin, „nein, nein, ich denke, ich habe ihm das heiße Blut abgekühlt.“ - Es war aber anders, als der ehrsame Studas sich vorstellte. Sein unverzagter Sohn wappnete sich, nahm Schwert und Speer, fing sich eins der edlen Rosse, die auf der Weide grasten, und ritt nach dem hohlen Berg. Der Lindwurm schoß mit aufgesperrtem Rachen auf ihn los. Aber der Recke schleuderte ihm mit sicherer Hand den Speer so kräftig zwischen den klaffenden Kinnladen in den Schlund, daß die Spitze am Hinterkopf weit herausragte. Das Untier schlug noch grimmig mit dem Schweif, bis es verendete. Nun hieb ihm Heime den Kopf ab, ritt nach dem Gehöft zurück und warf ihn dem alten Pferdezüchter vor die Füße. - „Heiliger Kilian!“, rief Studas: „Junge, hast du den Linddrachen totgeschlagen, dann...“ -- „Dann werde ich auch den Berner totschlagen“, setzte der kühne Recke die Rede fort: „Gib mir den Hengst, der mich soeben ohne zu scheuen gegen den Wurm trug! Er wird mich auch nach Bern und wohlbehalten wieder zurücktragen.“ Dem alten Mann schwindelte schier der Kopf bei den kecken Reden seines Sohnes. Er sah aber das Beutestück vor seinen Füßen liegen und konnte keinen Widerspruch erheben. Heime erhielt den Hengst und ritt hinaus, in die bisher ihm unbekannte Welt.

In der Königshalle zu Bern saßen die Recken beim Gelage, und die Königin Virginal schenkte den Purpurwein, der von ihrer Hand gereicht, den Gästen besser mundete, als wenn ihn der grämliche Mundschenk bot. Man rühmte den Frieden im Lande, und mancher unverzagte Recke sprach von früheren Taten und meinte, man habe lange genug der Ruhe gepflogen, die Schwerter rosteten in den Scheiden, und es sei an der Zeit, sie blank zu ziehen. Wie die Helden so plauderten, trat ein fremder gewappneter Mann ein. Derselbe war breit von Schultern, mächtig von Wuchs und schien noch jung an Jahren. Meister Hildebrand trat ihm entgegen und hieß ihn als Gast willkommen, forderte ihn aber auf, sein Streitgewand abzulegen. „In der Königshalle führen die Helden nicht Helm und Rüstung“, sagte er, „da tragen sie Purpur und Seide.“ - „Mein Gewerbe ist der Kampf“, versetzte der Fremdling, „denn ich bin Heime, des Höfners Studas Sohn. Ich will mich mit dem ruhmvollen Berner draußen auf offenem Feld versuchen, ob er mich besiegen kann.“ Er hatte die Worte so laut gesprochen, daß alle Recken und auch der König sie vernahmen. Und Dietrich erhob sich von seinem Hochsitz, indem er sagte: „Wohlauf, edle Helden, zum fröhlichen Spiel! Wir wollen sehen, ob der Sohn des Roßmanns die Probe hält.“ Der König ließ sich wappnen, bestieg seinen edlen Hengst Falke und hielt bald dem kühnen Heime gegenüber.

Beide Helden rannten mit großer Gewalt gegeneinander, aber ihre Lanzen glitten an den Schilden ab, ohne zu verletzen. Dasselbe geschah beim zweiten Rennen, aber beim dritten wurden die Schilde durchbrochen, des Königs Roß sank auf die Hinterknie zurück, doch wankte der Held nicht im Sattel, sondern trieb das Pferd mit Zügel und Sporen wieder auf. Dagegen war Heimes Rüstung an der Seite aufgerissen und aus einer Schramme floß etwas Blut. Da die Lanzen zersplittert waren, sprangen die Kämpfer von den Pferden und griffen zu den Schwertern. Sie trieben sich hin und her, bis endlich der Berner mit einem kräftigen Schlag den Gegner auf das behelmte Haupt traf, daß er in die Knie sank. Indessen sprang er ebenso schnell wieder auf und führte mit höchster Gewalt einen Streich auf Dietrichs Helm. Hildegrim aber widerstand, und die spröde Klinge Heimes sprang in Stücke. Nun stand er wehrlos dem erzürnten König gegenüber, dessen furchtbare Waffe schon über seinem Haupt schwebte. Aber der Sieger konnte den Todesstreich nicht ausführen. Ihn jammerte die Jugend und der Mut des unverzagten Recken, der furchtlos vor ihm stand. Er senkte das Schwert und bot dem Gegner die Hand zum Frieden. Dieser Großmut beugte mehr, als Waffen es tun konnten, den Trotz des kühnen Helden. Er nahm die dargebotene Hand und sagte laut, er bekenne sich für überwunden und gelobe, daß er forthin ein Dienstmann des ruhmvollen Königs von Bern sein werde, dem er nunmehr den Eid unverbrüchlicher Treue schwöre. Erfreut, einen Mann wie Heime zum Gesellen erworben zu haben, begabte ihn der reiche König mit Burgen und Knechten und behielt ihn an seinem Hof.

Fest steht der Himmel droben und ohne Wanken;
Was Menschen auch geloben, sind nur Gedanken,
Die tauchen auf und scheiden bald früh, bald spät,
Vertraue nicht den Eiden, die Weisheit rät.

So wird nun die wachsende Vernunft von Dietrich, die sich zum König erhoben hat, von verschiedenen weltlichen Kräften und Mächten herausgefordert, und es wird beschrieben, wie ihnen die ganzheitliche Vernunft im Menschen begegnet und sie als dienstbare Gesellen gewinnt. Die Geschichte beginnt mit Heime. Der Name erinnert an die Häuslichkeit, und hinsichtlich seiner Herkunft können wir in ihm ein Symbol der Körperlichkeit sehen, die leidenschaftlich den Kampf in der Welt und natürlich auch den Sinn im Leben sucht. Den Ego-Drachen hatte er getötet, weshalb er sich nun der Vernunft unterordnen kann, die er als seinen König anerkennt. In der nordischen Thidrekssaga führt Heime das Schwert „Blutgang“, und Dietrich bekommt auch sein Pferd Falke von ihm, als Symbol des Körpers, auf dem der Geist reitet. Doch das Gedicht von Wilhelm Wägner macht bereits deutlich, daß der Ego-Drache von Heime zwar getötet, aber noch nicht grundlegend besiegt war, so daß er im Folgenden mehr die Rolle einer egoischen Körperlichkeit spielen wird, die ihren eigenen Gewinn sucht. Dazu haben wir bereits oben (bezüglich Wolfhart) über die drei Stufen nachgedacht, wie das Ego von Vernunft, Verstand oder Körper bekämpft werden kann, und die Körperlichkeit das schwächste und unzuverlässigste Mittel der Natur ist, um den Ego-Drachen zu besiegen. So ist es kein Wunder, daß der Treueeid, den uns der Körper schwört, nicht sehr verläßlich ist, wie wir auch in dieser Geschichte noch lesen werden.

Dietrichs Geselle Wittich

Auf einem Felseneiland in der Nähe von Seeland, wo meist nur Fischer und Seeleute wohnten, schallten Tag für Tag und oft spät bis in die Nacht gewaltige Hammerschläge, daß die Felsen dröhnten. Daselbst wohnte nämlich seit Jahren der Schmied Wieland, dessen Sage berichtet: Er hatte sein liebliches Weib Allweiß, zu der ihn kunstreich gefertigte Flügel emporgetragen hatten, durch den Tod verloren, und war deshalb von den seligen Höhen niedergestiegen, um in Ausübung seiner Kunst Linderung seiner Trauer zu finden. Hier fand er die noch immer schöne Böswild wieder, die er einst geliebt, aber in unstillbarer Begierde nach Rache vergewaltigt und geschwängert hatte. Sie war durch ihr Unglück sanft und mild geworden und pflegte mit mütterlicher Sorgfalt ihren und seinen Sohn Wittich, einen munteren, kräftigen Knaben, des Vaters Ebenbild. Da gedachte der Meisterschmied sein Unrecht wiedergutzumachen, sie zu heiraten und mit dem Kind in sein einsames Gehöft aufzunehmen. Die Eheleute lebten danach in Eintracht, da sich der Schmied, nur mit seiner Kunst beschäftigt, nicht um den Haushalt noch um den kräftig aufwachsenden Jungen kümmerte, vielmehr alles dem Willen der Frau anheimstellte. Doch hatte er Freude an den Spielen des Kindes und später an den Übungen des heranreifenden Jünglings. Da machte er ihm Stahlbogen und Pfeile und Wurfspeere mit gehärteten Spitzen, die selbst in Bärenfelle einbissen. Wenn dann der Bursche ein fettes Wild oder gar einen Keiler oder Bären erlegte, oder Schneehühner und Wildgänse aus hoher Luft herunterholte, strich er ihm über das krause Haar und sagte: „Du bist ein Schütze, wie mein Bruder Eigel.“

In dieser Vorgeschichte wird bereits deutlich, welche Rolle der zweite Geselle von Dietrich spielt: Es ist natürlich der Verstand, der mit der Körperlichkeit eng verbunden ist, und dort auch seine Aufgabe im Leben hat. Die Symbolik ist schön gezeichnet, wie sich der Verstand mit künstlichen Flügeln zur Allwissenheit erheben wollte, die aber ein totes Wissen wurde, so daß er ins irdische Leben zurückfiel. Hier arbeitet er als Schmied, der auch ein typisches Symbol des Verstandes ist und im Feuer der Leidenschaft die eisernen Begriffe schmiedet, die uns dann als Rüstung und Waffen zur Jagd und zum Kampf im weltlichen Leben dienen sollen. Hier lebt er abgeschieden auf seiner Insel, wo er sich keiner ganzheitlichen Vernunft unterordnen muß, und zeugte mit der wilden Natur im Spiel der Gegensätze von Gut und Böse den kleinen Ego-Verstand, der mit den Waffen des Vaters auf die Jagd im Wald der weltlichen Vorstellungen geht. Und welche Rolle spielt Eigel als der Bruder des Verstandes?

Der junge Wittich wollte gern mehr wissen von dem berühmten Schützen, und der Schmied, der gerade Feierabend gemacht hatte, erzählte gern von den Begebenheiten aus seiner Vergangenheit: „Mein Bruder Eigel kam einst zu einem König der Niaren und trat bei ihm als Leibschütze in Dienst. Alle Welt bewunderte seine Kunst, wie er einem Aar (Adler), der sich zu den Wolken aufschwang, den Kopf wegmähte, einem Luchs im Wipfel einer Eiche die rechte oder linke Tatze an den Ast nagelte, worauf er saß, einer zischenden Natter die Zunge aus dem Rachen wegschoß und andere Künste. Aber der König verlangte einen Meisterschuß. Er sollte seinem eigenen Kind auf hundert Schritte einen Apfel vom Kopf schießen. Wenn er sich dessen weigerte oder das Ziel verfehlte, dann drohte der König, den Knaben vor seinen Augen in Stücke hauen zu lassen. Eigel zog drei Pfeile aus dem Köcher und legte einen auf den Bogenstrang. Und der Knabe stand fest und schaute ohne zu blinzeln dem zielenden Vater ins Angesicht. - Hättest du das auch getan, mein Junge?“ - „Nein Vater“, sagte Wittich keck: „Ich hätte mir dein Schwert Mimung geholt und dem greulichen König den Kopf abgehauen und seine Krieger, wenn sie zur Rache gekommen wären, aus dem Land gejagt.“ - „Schön, junger Held!“, lachte der Alte: „Aber ein wahrer Held redet nur von dem, was er getan hat, nicht von dem, was er getan hätte. Wäre Eigel so klug gewesen, dann wäre er besser gefahren. Doch Eigel konnte seine Prahlerei nicht zügeln, sondern sagte dem König, nachdem der Meisterschuß gelungen war: ‚Die zwei anderen Pfeile waren für dich bestimmt, wenn der erste meines Sohnes Haupt getroffen hätte.‘ Damals nahm der König das kühne Wort wohl auf, aber er gedachte dessen und verjagte später den Schützen ohne Dank und Lohn aus dem Land. Niemand weiß, wohin er gekommen ist.“

Hier finden wir die berühmte Sage von Wilhelm Tell wieder. Entsprechend der bisher verwendeten Symbolik könnten wir in dem Bruder Eigel die Eitelkeit oder den Stolz des Verstandes auf seine Fähigkeiten sehen, wie er getötete Wesen aus der Luft holt, lebendige Wesen an den Baum der Gegensätze nagelt oder der Schlange der Verursachung die zischelnde Zunge der Wirkung abtrennt. Der König müßte dann die herrschende Vernunft sein, und der „Meisterschuß“ des dienstbaren Verstandes sollte nicht auf äußerliche Dinge gerichtet sein, sondern auf die eigenen Früchte vom Baum der Gegensätze, der symbolisch im Kopf wurzelt. Dann wäre der geliebte Sohn das eigene Ego, auf das der Verstand nur sehr widerwillig zielt und große Angst davor hat, es zu verlieren. Doch die Vernunft zwingt ihn dazu, und der Meisterschuß gelingt ohne zu zittern und zu blinzeln. Aber die Vernunft erkennt an den angedrohten Pfeilen das bedrohliche Wesen der Eitelkeit, wenn ihr Ego verletzt würde. Warum zwei Pfeile für den König? Vermutlich als Symbol der Gegensätze, die den Tod der ganzheitlichen Vernunft bewirken. Und ja, die Rache einer verletzten Eitelkeit kennen wir sicherlich alle. Daraufhin wird die Eitelkeit ohne Dank und Lohn von der Vernunft verjagt, so daß sie wie eine Illusion verschwindet, ohne daß jemand weiß, wohin.

Stammbaum Wachilde, Wilkinius, Wade, Slagfider, Eigel, Wieland, Wittich

Doch Wittich versteht die Botschaft dieser Geschichte nicht, und hätte lieber den König getötet, anstatt den Meisterschuß zu wagen. Er wußte wohl noch nicht, daß dieser König der Vater seiner Mutter war. So sind sich auch viele Menschen nicht bewußt, daß sie mit dem Versuch, die Vernunft zu töten, ihre eigene Wurzel töten, und mit Androhung ihres Todes, sich damit nur selber bedrohen und vergänglich machen. Denn ohne Vernunft wird auch keine äußerliche Natur geboren, und damit kann es auch keinen begrifflichen Verstand geben. Wenn Wittich das erkannt hätte, wäre der junge Held auch nie auf die Idee gekommen, König Dietrich im Kampf töten oder besiegen zu wollen, um königlichen Ruhm zu gewinnen. Und interessanterweise wird auch er am Ende seines Lebens von diesem König verjagt und verschwindet, und keiner weiß wohin…

So plauderte der Schmied oft redselig mit seinem Sohn, doch wollte ihm mit der Zeit das Gebaren desselben nicht gefallen. Denn Wittich schwärmte Tage und Nächte auf dem Eiland herum, jagte Wild, auch Wölfe und Bären, schiffte kühn durch Sturm und Wellen nach Seeland über und trieb dort mit gleichgearteten Müßiggängern allerlei Kurzweil, wobei es oft blutige Köpfe gab. Man rühmte zwar seine Stärke und Verwegenheit und erzählte, er habe grimmige Bären ohne Waffen eingefangen und sogar einen jungen Lindwurm mit bloßen Händen erdrosselt, aber der alte Schmied meinte, das sei nutzloser Zeitvertreib. Noch weniger gefiel es ihm, wenn der Junge oft halbe Tage in seiner Werkstatt herumlungerte, oder in die Glut des Schmiedefeuers unter der Esse blickte, ohne Hand und Fuß zu rühren.

„He, Junge!“, rief er ihm einstmals zu: „Es ist Zeit, daß du ein nützliches Gewerbe lernst, damit du dein Brot verdienst, wie meine Brüder und ich getan haben. Willst du meine Kunst erlernen, dann kannst du es durch meine Lehre so weit bringen, daß kein Dritter in allen Ländern bessere Waffen und schönere Kleinodien fertigt. Sieh dort meine mit Gold und Silber gefüllten Truhen: Das sind Schätze, die ich mit Hammer und Zange ehrlich verdient habe. Gleich hierher an den Amboß!“ - „Und was hast du davon für Gewinn?“, fragte der Bursche trotzig: „Ein rußiges Gesicht und geschwärzte Hände, daß dich die Mutter nimmer küssen mag. Ich aber will mir das rote Gold mit Speer und Schwert erwerben und dessen froh werden in den Königshallen, wo man mutige Helden wohl aufnimmt.“ - Der Alte sah ihn verwundert mit offenem Mund an. - „Ja, ja“, fuhr er fort, „Hammerschaft und Zangengriff kommen nicht in meine Hände, noch das rußige Schurzfell an meinen Leib. Ich bin von königlicher Abkunft, stamme von König Wilkinus, deinem Großvater, und vom König der Niaren, dem Vater meiner Mutter. Die schlugen mit blanken Waffen auf Helme und Schilde, nicht an der Esse auf alte Eisenstangen. Sie kämpften um Königreiche und Heldenruhm. Du arbeitest um Hundelohn und um die Ehre, den ganzen Tag im Essenqualm zu schwitzen. Gib mir eine Rüstung und das gute Schwert Mimung, dann gehe ich nach Bern, um mit dem König zu kämpfen und ein Reich zu erwerben.“ - „Mit dem Berner kämpfen!“, rief der Alte: „Junge, da verlierst du deinen Kopf, den ich dir mit aller Kunst nicht wieder anschweißen kann. Oder du wirst genauso auf nimmer Wiedersehen verjagt, wie mein Bruder Eigel vom Vater deiner Mutter. Oh mein Junge!“ - Er redete den baumhohen Sohn immer noch in der alten, vertraulichen Weise an: „Junge, dein Bißchen Klugheit und Hirn…“ - Er wollte noch mehr sagen, aber die Hausfrau trat ein und fragte, den Meister unterbrechend, nach der Ursache des Streites zwischen Vater und Sohn. Als sie darüber Auskunft erhalten hatte, war sie Anfangs betroffen, bald aber gedachte sie des Ruhmes ihrer Ahnen, und ihre Zungenfertigkeit ließ den Gemahl gar nicht mehr zu Wort kommen. Er mußte wohl oder übel seine Zustimmung geben.

Natürlich ist der Verstand nicht nur dazu da, um rußgeschwärzt im Feuer der Leidenschaft eiserne Begriffe zu schmieden, die den Körper im Lebenskampf schützen und bewaffnen sollen. Es geht auch darum, ein „Königreich“ zu gewinnen, denn im Grunde stammen wir alle von einem König und einer Königin ab. Aber wie?

In dieser Geschichte geht es vor allem darum, den Ego-Drachen zu besiegen. So wird oben auch von Wittich erzählt, daß er einen kleinen Lindwurm mit bloßen Händen erdrosselt hätte. Doch das war wohl noch nicht der große „Sieg-Frieden“, und so werden wir nun Wittich in der Rolle des leidenschaftlich-egoischen Verstandes kennenlernen, der wie Heime langfristig nicht besonders treu ist, sozusagen im Gegensatz zu Hildebrand als heilsam vernünftiger Verstand, der seinem König als ganzheitlicher Vernunft treu bleibt. Dementsprechend erinnert uns der Name Wittich an eine Wittwer, der als begrifflicher Verstand von der lebendigen Seele getrennt in einer begrifflich-toten Natur existiert.

Der Name des Schwertes Mimung erinnert an „Mime“ für künstliches Imitieren oder Nachahmen. Gemeint ist wohl die gewaltige Macht des begrifflichen Denkens als ein trennendes Bewußtsein, das alles in begriffliche Teile zertrennen und spalten kann.

Acht Tage arbeitete der Meister an dem Heergewand seines kühnen Sohnes, dann war das Werk vollendet. Oben auf dem lichten Helm starrte als Bügel eine Natter mit glühroten Augen von Rubin. Die Brust- und Beinrüstung war von dicken Stahlringen und doch so biegsam, als ob sie aus weichem Leder wäre. Auf dem stahlglatten Schild waren Hammer und Zange abgebildet und mit drei leuchtenden Karfunkeln verziert. Am kostbarsten schien dem jungen Recken das Schwert Mimung, Wielands Meisterwerk aus jungen Jahren. Als der Schmied dem Sohn die Waffen überreichte, sagte er: „Das Stahlgewand ist gut und sehr fest. Es wird dich in Kampfesnot wohl bewahren. Das Schwert aber habe ich mit großer Kunst hergerichtet, gestählt und geschärft, daß es in Stahl und Stein beißt, ohne schartig zu werden. Es galt damals Haupt gegen Haupt im Wettkampf mit Amilias, dem Werkmeister des Königs der Niaren, der mich aus Neid und Eifer herausgefordert hatte. Er erbot sich, Helm und Rüstung in Jahresfrist zu schaffen, die keine Waffe verletzen könne. Und ich sollte in dieser Frist ein Schwert anfertigen und damit drei Hiebe auf ihn tun, wenn er in seinem Harnisch-Faß sitze. Bliebe er unverletzt, dann werde er mir das Haupt abschlagen. Erhalte er eine Verletzung, dann dürfe ich ihm das Gleiche tun. Er schuf darauf in zwölf Monden mit Hilfe seiner Schmiedeknechte das Wehrgeschmeide, ich aber den Mimung in dreimal sieben Tagen. Nach Verlauf der Frist saß er geharnischt vor dem König und allen Hofleuten. Da setzte ich oben am Helm die gute Klinge an, drückte ein wenig, und sie schnitt durch Helm, Haupt, Rüstung und Leib bis auf den Sitz, so daß der Mann in zwei Hälften auseinanderfiel. Nun sage ich dir, mein Junge, kein Meister in der Welt, weder zu dieser Zeit noch in der künftigen, wird wieder ein solches Schwert schaffen. Nimm es aus der Vaterhand als Erbteil und gebrauche es gut! Nun aber merke weiter auf das, was ich dir zu sagen habe:

Dein Urahn, König Wilkinus, war ein tüchtiger und streitbarer Held, der große Taten verrichtete und Reiche eroberte. Er fand einstmals eine Meerjungfrau am Strand, gleich wie ich selbst die schöne Allweiß. Sie hieß Wachilde, empfand Liebe zu dem edlen Helden und blieb ihm sein Leben lang in treuer Liebe zugetan. Als er im Sterben lag, versprach sie ihm, ihrer beider Nachkommen eingedenk zu sein und sie zu beschützen, wenn sie bei ihr Zuflucht suchten. Kommst du also in Not, dann versuche das Meer zu erreichen. Dort nimmt dich unsere Ahnfrau in ihre Obhut.

Über diese Meerfrauen an der Quelle und im Meer haben wir bereits in der Nibelungensage viel nachgedacht. Auch hier kann man Allweiß als Allwissenheit und Voraussicht an der Quelle finden und Wachilde im Meer der Ursachen, wo alle Ursachen für künftige Kämpfe („hilte“) bzw. Wirkungen in Obhut bewacht und bewahrt werden. Und natürlich kehrt auch der begriffliche Verstand in dieses Meer zurück, wenn er vor der Vernunft flieht und nicht zur ganzheitlichen Quelle kommt, wie wir später noch lesen werden.

Ihr und des Königs jüngster Sohn Wade, dein Großvater, war zwar von riesenhaftem Wuchs, aber er liebte den Frieden. Er duldete es daher, daß ihn seine habgierigen Brüder von der Herrschaft ausschlossen und begnügte sich mit den Höfen, welche ihm der König zu seinen Lebzeiten übertragen hatte. Ebenso genügsam war ich selbst, sein jüngster Sohn, und meine beiden Brüder hatten gleichfalls kein Verlangen nach hohen Dingen. Der Riese Wade wollte, daß jeder seiner Söhne ein nützliches Gewerbe lerne, und wandte darauf allen Fleiß. So wurde Slagfider der beste Arzt, Eigel der geschickteste Bogenschütze und ich selbst ein tüchtiger Schmied. „Die Menschen unserer Zeit“, pflegte Riese Wade zu sagen, „lernen vielerlei Dinge und darum keines richtig. Man sollte ein einziges Gewerbe lernen und damit früh anfangen, nur dann gelangt man darin zur Meisterschaft.“ Deswegen gab er mich, sobald ich neun Winter alt war, zu dem Kunstschmied Mimir in die Lehre, und ich hielt bei ihm drei Jahre aus und lernte Wehrgeschmeide und menschliche und tierische Bildnisse herstellen, obgleich ich von einem viel stärkeren Lehrburschen, dem Jungherrn Siegfried, hart bedrängt und geschlagen wurde. Darnach gab mich der Vater zu den Zwergen im Kallawa-Berg. Als ich bei den Männleins sehr geschickt wurde und manche Werke besser machte, als sie selber, wollten sie mich gern in dem hohlen Berg behalten und sagten dem Riesen Wade, ich solle noch ein Jahr bei ihnen zu Herberge sein, dann solle er mich zu derselben Stunde heimholen. Wenn er aber nicht komme, dann wollten sie meiner auf Lebenszeit pflegen. Er bemerkte ihre Tücke und verbarg vor meinen Augen sein gutes Schwert unter einem Felsen, daß ich mich ihrer erwehren könnte, wenn sie mich mit Gewalt zurückhalten wollten. Als er zur gesetzten Frist erschien, hielten sie den Berg verschlossen und schafften, daß ein Felsen auf ihn herabrollte und ihm das Haupt zerschlug. Ich sprang bei dem Getöse mit ihnen hinaus, ergriff das Schwert und schaffte mir Raum, indem ich viele von den Männlein niederstreckte. Und wie ich dann mit meinen Brüdern ins Wolfstal zog und dort Allweiß an einem Brunnen fand, habe ich dir bereits erzählt. So war meine Lehr- und frühere Lebenszeit recht mühselig. Und die deinige wird es nicht minder sein, da du beharrst, ein ruhmreicher Recke zu werden. Du wirst in kurzer Frist mehr Schläge erhalten, als ich in meinem langen Leben. Indessen sei getrost, denn ich meine, es wird sich nicht leicht ein so gutes Schwert finden, das sogar in Schilde und Rüstungen beißt, die mein Hammerschlag gefestigt hat. Dazu gebe ich dir den Hengst Skemming, der dich in Sicherheit trägt, wenn du vor einem stärkeren Gegner entweichen mußt.“

„Ich bin ein fluchtträger Reiter!“, lachte der junge Recke: „Aber nun gib mir noch die rußige Hand, die mir so edle Gaben verliehen hat.“ Darauf nahm er auch Abschied von der Mutter, die ihn lange in den Armen hielt, bestieg Skemming und trabte nach dem Strand, wo ihn und sein Roß ein großes Boot aufnahm und nach dem Festland überführte. Er ritt mehrere Tage fort und zehrte von den Vorräten, womit ihn die sorgliche Mutter versehen hatte. Ein breiter Strom hemmte seine Heldenfahrt. Er wollte eine Furt oder Brücke aufsuchen und trabte deshalb immer am Ufer hin zu Tal. Als er keinen Übergang fand, beschloß er, die Tiefe des Wassers zu untersuchen, weil es ihm schwer dünkte, daß Skemming schwimmend einen gewappneten Mann hinübertrage. Er zog deshalb Rüstung und Gewand aus und ging ins Wasser, das ihm, wie er weiter watete, bis über die Schultern schlug. Da sah er auf derselben Seite, wo er stromabwärts geritten war, drei stattliche Recken stromaufwärts reiten. Als ihn diese erblickten, riefen sie ihm spottend zu: „He, Robbenhund, Fischmensch, wohin des Weges?“ - „Seid ihr wahrhafte Recken“, versetzte er, „dann laßt mich mein Streitgewand anlegen, dann will ich euch mit Schild und Schwert Rede stehen.“ Das vergönnten sie ihm willig. Als sie ihn dann aus dem Wasser hervorgehen sahen, verwunderten sie sich über seine gewaltigen Glieder, und noch mehr, als er gewappnet zu Pferde saß, wie er Skemming lenkte und kühn auf sie zuritt. Da dünkte es ihnen rätlicher, in dem fremden, wilden Land ihn zum Gefährten, als zum Gegner zu haben. Sie boten ihm daher Frieden an und gaben ihm freundlichen Handschlag. So freuten sie sich auch, als sie hörten, daß er nach Bern zu reiten gedenke und lange stromabwärts geritten war, ohne einen Übergang zu finden. „Du bist ein Vogel, der noch nicht lange flügge ist“, sagte der älteste von den Männern, „sonst hättest du gewußt, daß man stromaufwärts reiten muß, um der Quelle näherzukommen. Doch folge uns getrost, wir kommen bald an eine Brücke, wo man gegen Zoll übersetzen darf.“

Hier können wir wieder über den Fluß des Lebens und unserer Lebensgeschichte nachdenken, der zwischen der inneren und äußerlichen Welt wie zwischen Geist und Natur fließt. Der egoische Verstand sucht eine Furt, aber hat natürlich Angst, daß er in diesem Fluß der Vergänglichkeit sein Eigentum verlieren könnte. So läßt er es am sicheren Ufer zurück und begibt sich nackt und bloß in den Fluß, daß nur noch der Kopf des Bewußtseins herausragt. Das ist eine tiefgründige Symbolik. Beobachtet wird er von drei Männern, von denen der älteste Hildebrand war, wie wir noch lesen werden. Und als gereifter und vernünftiger Verstand empfiehlt er natürlich, stromaufwärts zu reiten, um einen Übergang zu finden, weil der Fluß des Lebens stromabwärts gewöhnlich immer breiter, mächtiger und mitreißender bzw. vergänglicher wird, bis alles wieder ins weite Meer der Ursachen fließt. Stromaufwärts kommt man dagegen der Quelle näher, als Ganzheit und Einheit zwischen den Ufern von Innen und Außen bzw. Geist und Natur. Diesbezüglich findet man auch in der Bibel den Spruch: »Wahrlich ich sage euch: Es sei denn, daß ihr umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich. (Matth. 18.3

Der Recke hatte wahr gesprochen, aber jenseits war ein Kastell erbaut und daraus trat eine Schar von zwölf wilden Männern, die wie Räuber anzusehen waren. Sie ritten über die Brücke und schienen Lust zu haben, den Recken den Weg zu verwehren. „Die Schufte sind uns an Zahl weit überlegen“, sagte der älteste von den Recken, „doch, denke ich, wir werden ihnen mit unseren Waffen den Zoll bezahlen.“ - „Laßt mich vorausreiten!“, rief Wittich: „Ich will ihnen ein Geld anbieten, da werden sie wohl ausländische Männer in Frieden fahrenlassen.“ Er sprengte nach diesen Worten eilends auf die Brücke zu. Als ihm die Brückenwächter nahe waren, bat er um friedlichen Durchlaß, aber sie forderten höhnisch sein Pferd, seine Rüstung, Kleider, den rechten Fuß und die rechte Hand. Er sagte ihnen, wie er das alles nicht entbehren könne, und bot seinen Zoll. Sogleich griffen sie ihn mörderisch an, doch ihre Waffen bissen nicht ein auf Wielands Werk, er aber zog Mimung und versetzte ihnen gewaltige Hiebe.

Wer sind die zwölf Wächter der Brücke? Hier können wir über die Sinnes- und Handlungsorgane nachdenken, welche die körperliche Grenze zwischen der innerlichen und äußerlichen Welt bilden und verteidigen, so daß sie Anspruch auf die Körperlichkeit und auch auf den Verstand erheben, den sie sich mit seinem körperlich-begrifflichen Eigentum unterwerfen wollen. Dagegen wehrt sich natürlich zuerst der egoische Verstand, zückt sein Schwert der Unterscheidung, spaltet die Sinne und jagt die Handlungsorgane in die körperliche Welt, wo er selbst Herr sein will:

Die drei Recken hielten indessen ruhig auf einer Anhöhe. „Hei, wie der junge Held sein Roß tummelt!“, rief der ältere: „Wie er die Strolche bläut! Da fällt ein Strauchdieb in zwei Stücke gehauen vom Hengst! Aber jetzt kommt die ganze Rotte über den einsamen Kämpfer. Es ziemt sich, daß wir ihm Beistand leisten, denn wir haben Wehrgenossenschaft geschlossen.“ - „Es mag uns wenig helfen, ob er heil bleibt, oder ob ihm der Schädel zerklopft wird“, meinte der zweite. „Seine Niederlage bringt uns sicherlich Unehre“, sagte der dritte und spornte sein Roß nach der Kampfstätte, wohin ihm der erste mit gleicher Hast folgte. Doch ehe sie die Walstatt erreichten, lagen schon sieben Räuber erschlagen, die übrigen ergriffen bei ihrem Anblick die Flucht.

Die Helden ritten nunmehr ohne Aufenthalt über die Brücke in das Kastell, wo sie reichliche Vorräte an guten Speisen und Getränken fanden. Sie hielten Gelage bis spät in die Nacht. Da wurden die Zungen gelöst, und sie erzählten von ihren Taten und Geschlechtern. Wittich wußte nicht viel von sich, desto mehr von seinem Vater zu berichten. Von den Gefährten aber erfuhr er, daß der ältere Meister Hildebrand, der zweite der starke Heime und der dritte Fürst Hornboge, auch ein Geselle Dietrichs war. „Hei, wie das eine gute Sache ist!“, rief der junge Recke erfreut: „Ich will auch nach Bern reiten und mich mit dem ruhmvollen König Haupt gegen Haupt versuchen, und ich habe guten Mut, einen Sieg zu gewinnen, denn ich führe Mimung, meines Vaters Schwert, das in Stahl und Stein beißt, und ihr habt gesehen, was die Klinge für Arbeit schafft.“ Als die drei Gesellen das hörten, wurden sie viel stiller als zuvor, sprachen von Ermüdung und begaben sich bald zur Ruhe, was auch Wittich tat, nachdem er noch einen mächtigen Becher geleert hatte.

Nun lernen wir die symbolische Gruppe etwas näher kennen, die sich hier in der äußerlichen Welt der Körperburgen zusammengefunden hat. Der Name Hornboge erinnert an gebogene Hörner und damit an den ehrhaften Kampfeswillen in einem Menschen, im Gegensatz zur egoischen Körperlichkeit als Heime, der sich wenig um die Ehre kümmert. Der älteste ist Hildebrand als vernünftiger Verstand im Gegensatz zu Wittich als egoischer Verstand. Diese Gruppe können wir gewöhnlich auch in uns selbst wiederfinden, die sich gern am Wein der Illusion berauscht, davon müde wird und einschläft:

Der junge Held schnarchte bald mit Heime und Hornboge um die Wette, aber Meister Hildebrand konnte nicht einschlafen. Es war ihm, als läge ein Alb auf seiner Brust, und der Alb war die Sorge um seinen Herrn. Er hatte Mimungs Werke mit eigenen Augen gesehen, und er kannte auch sonst die Güte des Schwertes. „Hildegrim“, dachte er, „kann der Klinge Wielands nicht widerstehen, und der Arm des jungen Helden ist wie der des stärksten Riesen. Ha! Hohn und Schmach, wenn der Jungspund den Berner überwindet!“ Mit einem Mal lachte er, daß ihm der lange Geißbart wackelte. Er stand auf, zog Wittichs Schwert hervor und legte das eigene daneben. Er verglich beide Waffen bei hellem Mondschein und fand, daß sie einander sehr ähnlich waren, die Klingen von gleicher Länge und Breite und gleichhell poliert. Die Griffe, Scheiden und Gürtel freilich nicht, doch dafür wußte der Meister schon Rat. Er schraubte die Griffe mit Geschick und großer Gewalt ab und vertauschte die Klingen. Niemand konnte den Tausch wahrnehmen. Darauf begab er sich wieder aufs Lager und schnarchte bald gleich den anderen.

Auch das ist eine interessante Symbolik, wie der vernünftige Verstand im Mondschein während der Nacht die Schwerter austauscht. Natürlich, beides sind Schwerter des Verstandes und unterscheiden sich im Prinzip nur durch ihren Griff, mit dem sie geführt werden, der Scheide, von der sie geschützt werden, und dem Gürtel, an dem sie getragen werden. Und doch schien dem Verstand das eine besser geschmiedet und wirksamer in der Trennung als das andere, und er fürchtete, die Vernunft als sein König könnte davon getötet werden. Wird dieser listige Tausch erfolgreich sein, der nur vernünftig erscheint, solange der ehrenhafte Kampfeswille schläft?

Der Morgen weckte die Helden. Sie nahmen ein Frühmahl und ritten wohlgemut des Weges, den Hildebrand wohl kannte. Sie gelangten an den Fluß Wisera (Weser) da, wo er schmal und sonst eine feste Steinbrücke war. Doch sie fanden diese abgebrochen und sahen jenseits die entronnenen Raubgesellen stehen, welche ihnen höhnische Schmähworte zuriefen. Sogleich trieb Wittich seinen guten Hengst Skemming mit den Sporen an, und der flog wie ein Pfeil über den Strom auf den gegenüberliegenden Felsen und mit einem zweiten Sprung mitten unter die Strolche, die von allen Seiten ihren Todfeind angriffen. Heimes Hengst Rispe, ein Bruder Skemmings, hatte den gleichen Sprung getan, aber der Reiter verhielt sich müßig beim Kampf angesichts der Bedrängnis seines Gesellens. Erst später gelangten Hildebrand und Hornboge an, weil ihre Rosse den tiefen Strom schwimmend überqueren mußten. Bis dahin wurde schon das Feld geräumt, und als die Räuber sich durch Flucht zu verbergen suchten, da tat Skemming so gute Dienste, daß nicht einer entrann. Die siegreichen Recken trabten weiter und waren gar vergnügt über ihr Tagwerk, während Heime düster und schweigsam blieb. „Sei nur auch guten Mutes!“, sagte Wittich zu ihm: „Ich weiß wohl, daß du kein feiger Recke bist. Du wolltest mir die Ehre des Tages allein gönnen, und deswegen hieltest du das Schwert in der Scheide.“

Der Name Wisera erinnert an englisch „wise“ für weise und damit an den Fluß der Weisheit, dessen steinerne Brücke symbolisch an den Stein der Weisen erinnert, der als reines Bewußtsein alles überbrückt, verbindet und vereint. Man könnte hier auch von Licht, Information, Energie, Gewahrsein, Ganzheit oder Gott sprechen. Diese Brücke wurde von den körperlichen Sinnes- und Handlungsorganen als „Räuber der ganzheitlichen Weisheit“ in der äußerlichen Welt zerstört, um sich selber als trennende Wesen zu schützen. Der egoische Verstand und die Körperlichkeit überspringen diesen Fluß mit ihrer Körperkraft, während der vernünftige Verstand und der ehrenhafte Kampfeswille darin baden und schwimmen. Auch keine schlechte Symbolik! Der egoische Verstand verfolgt und besiegt die Räuber, aber nicht, um die ganzheitliche Weisheit zu erreichen, sondern um als Ego-Verstand allein zu glänzen und zu herrschen, weshalb er auch der Körperlichkeit ihre Zurückhaltung vergibt. Obwohl die Körperlichkeit sicherlich einen anderen Grund hatte, warum sie nicht gegen die Sinnes- und Handlungsorgane als ihre Verwandten kämpfte. Und daß sie der Ego-Verstand töten will, kennen wir auch aus unserer Naturwissenschaft, wenn Sinnes- und Handlungsorgane nur noch chemisch und mechanisch betrachtet werden und keinen eigenen Geist mehr haben dürfen.

Manchen Tag ritten die Helden durch Heide- und Moorland und durch einen Bergwald, bis sie an eine geräumige Burg kamen. Dort wohnte zu jener Zeit Frau Ute, Hildebrands Ehefrau. Sie empfing gastlich die müden Männer und pflegte ihrer reichlich, doch nahmen sie bald von ihr Abschied und gelangten folgenden Tages zu guter Zeit nach Bern.

König Dietrich saß beim Mahl, als ihm die Botschaft von der Ankunft seines lieben Meisters samt dessen Gesellen gebracht wurde. Er stand sogleich auf, ging ihnen entgegen und begrüßte seine Getreuen, aber nicht den ihm unbekannten Wittich. Da zog dieser einen silberbeschlagenen Handschuh ab und überreichte ihn dem König. Der sah den Fremdling erstaunt an. Bald aber erwachte sein Zorn, und er warf ihm das Fehdezeichen ins Gesicht, indem er ausrief: „Soll der König jedem Landstreicher zur Zielscheibe dienen, daß er an ihm sein Schwert und Dolchmesser versucht? Heda, meine Mannen, ergreift den Wicht, bindet und hängt ihn draußen an den höchsten Galgen!“ - „Wahrlich, du hast hier Gewalt“, versetzte Wittich, „und du kannst mich durch die Menge deiner Knechte überwältigen, aber bedenke, ob solches Gebaren deinem königlichen Heldenruhm nicht einen nachtdunklen Flecken eindrückt, der ihm für lange Zeiten bleibt.“ Als die Kriegsleute auf den Wink des zürnenden Herrschers vorrückten, trat Meister Hildebrand dazwischen. „Herr“, rief er, „der Mann hier ist Wittich, der Sohn Wielands, des Schmiedes, der in allen Landen berühmt ist. Er dünkt mich kein verräterischer Mann und wohl wert zu sein, daß du ihn unter deine Gesellen aufnimmst, wenn du seiner mächtig wirst.“ - „Gut, Meister“, erwiderte Dietrich, „ich will ihn bestehen. Aber wenn er Nagelring nicht verträgt, dann ist er dem Knüpfauf verfallen. Der soll ihm die Gurgel schnüren, daß er schnalzt wie ein Fisch auf dem Festland. Das ist mein letztes Wort. Nun gleich fort zum Turnierplatz!“

Die wachsende Vernunft reagiert als König zunächst gut, denn sie sollte sich nicht von jeder Leidenschaft zum Kampf herausfordern lassen. Dafür hat sie ihre Helfer, um den „Sieg-Frieden“ der Vernunft zu bewahren. Doch es kommt anders, und es zeigt sich die wesenhafte Verwandtschaft bzw. „Waffenbrüderschaft“ von Wittich und Hildebrand in der Rolle des Verstandes, so daß der vernünftige Verstand für den egoischen eintritt und angesichts seiner mächtigen Kraft dünkt bzw. denkt, daß er doch als Geselle nützlich und treu sein kann. Dietrich vertraut ihm, und der Kampf beginnt:

Nicht bloß Hofmänner und edle Frauen strömten aus den Toren von Bern, sondern auch zahlreiche Insassen, Jung und Alt. Sie alle wollten den Kampf der Helden auf Leben und Tod schauen. Schon standen die Recken des Streites gewärtig, da reichte Heime dem König einen vollen Becher Wein, und Hildebrand tat das Gleiche dem jungen Kämpfer, der freundlos war, begafft von der Menge, die ihm eine Niederlage wünschte. „Hab Dank, lieber Geselle!“, sagte er, den Becher leerend: „Du hast mir Wohltat erwiesen, die möge dir Gott vergelten.“ Nun sprangen die Helden auf ihre Rosse und rannten mit Lanzen gegeneinander. Die edlen Hengste schienen gleich vortrefflich im Lauf und Sprung, und auch die Reiter wankten beim Zusammentreffen nicht im Sattel. Aber Dietrichs Lanze glitt am blanken Schild des Gegners ab, Wittichs Lanze durchbrach des Königs Schild und ging an dessen Rüstung in Stücke. Als darauf Dietrich nochmals anrannte, zerhieb Wittich dessen Lanze mit dem Schwert. Nun sprangen die Kämpfer von den Rossen und griffen sich mit blanken Klingen an. Niemals hatte man ein solches Fechten und solche gewaltigen Schläge gesehen. Allmählich gewann der starke König die Oberhand, obgleich weder er noch sein Gegner von den schrecklichen Schlägen verwundet waren. Mit einem Streich, der jeden anderen Helm gespalten hätte, außer Wielands Werk, fällte er ihn zu Boden. Aber Wittich sprang sogleich wieder auf, warf den Schild auf den Rücken und führte mit beiden Händen einen nicht minder starken Hieb auf Dietrichs Haupt. Hildegrim blieb unversehrt, während der spröde Stahl in Wittichs Hand zerbrach. „Sei verdammt, Vater, zur Hölle!“, rief er: „Das ist nicht Mimung, du hast mich betrogen!“ So stand er wehrlos vor dem König, dessen Nagelring schon wieder über seinem Haupt blitzte. „Ergib dich, Strolch!“, rief der zornige König: „Und fahre zum Galgen!“ Es war um den jungen Kämpfer geschehen, aber Hildebrand sprang dazwischen. „Herr“, sagte er, „schone des Wehrlosen Leben. Nimm ihn zum Gesellen an, denn du findest in der Welt keinen besseren Helden, der in unsere Genossenschaft eintreten könnte.“ - „Er ist dem Henker verfallen!“, antwortete der Berner: „Zurück, Meister, daß er noch einmal vor mir den Staub leckt.“

Höchst interessant: Zu diesem Kampf reicht Heime als Körperlichkeit der Vernunft den Weinbecher der Illusion, so daß der König auf seine Körperkraft vertraut. Und Hildebrand reicht diesen Becher als vernünftiger Verstand an den egoischen, seinen Waffenbruder, der ihm vertrauen soll. Im Kampf zeigt sich dann einerseits, daß die wachsende Vernunft die begrifflich wohlgeschmiedete Rüstung des egoischen Verstandes selbst mit dem Schwert der Weisheit im Kampf nicht verletzen kann, und daß wiederum das Schwert des vernünftigen Verstandes die Vernunft nicht verletzt und an ihrem Helm schließlich sogar zerbricht. Klar, das ist nicht Mimung, das Meisterwerk des Verstandes, das alles zerspalten und zertrennen kann, welches der egoische Verstand von seinem Vater erbte, aber ohne dessen wahren Ursprung zu kennen, wie man es schmiedet und vernünftig zum Guten gebraucht. Erneut setzt sich der vernünftige Verstand für den egoischen ein, und so wird nun die Symbolik noch subtiler:

Da deuchte es dem Meister, er habe übelgetan, als er dem jungen Helden das Schwert vertauscht hatte. „Hier, stolzer Recke, ist dein Mimung“, sagte er, ihm das Schwert von seiner Seite reichend, „und nun, Dietrich, bewahre dein Haupt vor Mimung!“

Der Kampf begann mit neuer Wut. Da und dort schnitt das Schwert in Wittichs Faust durch die starken Ringe seines Gegners. Stücke von dessen Schild fielen zu Boden, ein mit aller Kraft geführter Streich traf den Helm Hildegrim, und der widerstand nicht. Die eine Seite desselben war, als ob sie von weichem Wachs wäre, abgehauen, und reichlich strömte des Königs Blut aus mehreren Wunden. „Ergib dich, König!“, rief der siegreiche Recke, aber Dietrich kämpfte weiter, obgleich ihm die furchtbare Klinge immer neue Wunden schlug. Da sprang der Meister abermals zwischen die Kämpfer, indem er Waffenruhe gebot. „Wittich“, rief er, „laß ab, denn nicht deine Kraft, sondern Wielands Schwert bringt dir Gewinn. Werde unser Geselle, dann gehört uns die Herrschaft über alle Länder, denn nächst dem König bist du der kühnste von allen Helden.“ - „Meister“, sagte Wittich, „du hast mir hier in der Not beigestanden. So will ich deinen Rat nicht mißachten. Wisse, ruhmvoller Held von Bern“, wandte er sich an den König, „ich bin hinfort dein Mann und gelobe dir Treue, solange ich das Leben habe.“ Der König ergriff die dargebotene Rechte und verlieh dem erworbenen Gesellen alsbald Burgen und Dienstleute, über welche er als Graf frei walten sollte.

Ja, das ist ein wunderlicher Sieg! Ist es die Angst des Verstandes vor dem mächtigen Ego, die Hildebrand so handeln läßt, daß er ihm Mimung mit seinem eigenen vernünftigen Griff bzw. Begriff zurückgibt? Wäre er mit diesem Schwert nicht der ideale Waffenmeister der Vernunft? Oder ist es die Schwäche der noch unvollkommenen Vernunft, die das Ego noch nicht an der Wurzel besiegen kann? Und deshalb handelt Hildebrand zusammen mit Hornboge schicksalhaft, wie er handeln mußte. Zumindest entsteht damit nun folgende Konstellation:

Sobald die Wunden des Königs etwas vernarbt waren, veranstaltete er ein festliches Gelage. Zu seiner Rechten saß Wittich, zu seiner Linken Heime, gegenüber Waffenmeister Hildebrand. Spielleute sangen im Hintergrund zum Saitenklang fröhliche Lieder. Wie die Gäste fleißig den Becher leerten, wurden sie heiteren Mutes. Sie rühmten den Herrscher, seine Kühnheit im Kampf, seine Güte, womit er die Getreuen belohnte. Heime, vornehmlich aber Wittich, stimmten ein. Sie verhießen, ihm jeden Dienst zu tun und Blut und Leben nicht zu schonen. Dietrich drückte den mächtigen Helden die Hände, löste zwei schwere Goldketten von seinem Halse und begabte sie damit. Da erhob sich unter den Spielleuten ein greiser Mann mit seiner Harfe und sang mit gewaltiger Stimme:

Es hält sie fest im Arme
Der Berner Held voll Kraft;
Trutz jedem, der mit Harme
Die Waffenbrüderschaft
Antastet! Sie erheben,
Wie Felsen stark, den Bund;
Doch auch Felsen erbeben,
Gelöst vom sicheren Grund.

Hoch stand der alte Spielmann, allen sichtbar, unter seinen Genossen, die ihn nicht kannten. Er wiederholte die letzten Worte immer mächtiger, so daß eine lautlose Stille entstand. Darauf schritt er durch den Saal, und niemand wußte, woher er gekommen war. „Ein Seher der Zukunft! - Ein Lügengeist! - Ein Höllenspuk!“ riefen die Gäste untereinander. Waffenmeister Hildebrand aber sagte bedeutsam: „Laßt uns alle auf unserer Hut sein, denn auch die Hölle kann Wahrheit sprechen.“

So sitzt nun Dietrich zwischen zwei Gesellen, die wir wohl alle im Leben finden und mehr oder weniger über uns herrschen lassen, ja, sogar mit den goldenen Ketten der Wahrheit an uns binden. Doch eigentlich sollte Virginal als reine Seele der Natur zur Rechten der königlichen Vernunft sitzen, und zur Linken der vernünftige Verstand als oberster Berater. So warnt der alte Spielmann als Schicksalsbote nicht umsonst vor dem Bund mit dem egoischen Verstand und der egoischen Körperlichkeit. Und die große Frage bleibt: Wie geht man mit dem Ego um? Zumindest rät der vernünftige Verstand zur Vorsicht…


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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
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