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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Wie wir am Ende des letzten Kapitels gelesen haben, war Dietleib als menschliche Körperlichkeit durch die Macht der Vergebung weit gekommen und hatte in Etzels Reich der Hünen bzw. wahrhaften Helden seinen Vater wiedergefunden, wie bei Odin als Allvater in Walhalla, der ihn zum Markgrafen in einer „Mark“ bzw. einem Grenzland namens Steiermark machte. Denn wer gibt, der empfängt auch, weil in der Ganzheit Geber und Empfänger nicht zu trennen sind. Der Name Steiermark stammt vom Fluß Steyr und bedeutet die „Anstauende oder Stehende“, was uns wieder an den Fluß des Lebens erinnert, in dem das Karma angesammelter Taten fließt, sowie an die Rolle des begrifflichen Verstandes, der sie anstauen und festhalten will. Entsprechend kann man auch unsere Menschenwelt als Grenzland zwischen Licht und Finsternis betrachten, das dem menschlichen Körper gegeben wurde, weil wir hier noch eine große Aufgabe zu erfüllen haben:
Meister Hildebrand saß zu Garden (am Gardasee) auf seiner Burg, leerte von Zeit zu Zeit den silbernen Becher, den ein dienender Knappe wieder füllte, und blickte hinaus auf den See und die Berge, die bis an das Ufer des Wasserspiegels reichten. Da sah er einen Reiter auf der Heerstraße daher traben, der ihm bekannt schien. Er winkte ihm ein Willkommen zu, denn es war Dietleib, der liebe Geselle, den er lange nicht gesehen hatte. Der Mann trat bald in das Gemach und erwiderte den Gruß, doch nicht frohen Mutes, wie er sonst pflegte, denn er schien eine wichtige Sache auf dem Herzen zu haben. „Ja, lieber Meister“, sagte er, als Hildebrand nach seiner Sorge forschte, „ich will es dir wohl kundtun, auf daß du mir deinen Rat nicht verweigerst. Ich hatte eine gar holdselige und kluge Schwester mit Namen Künhild, die meinem Haushalt in der Steiermark vorstand. Sie ging mit anderen Mägdlein zum Spiel und Tanz auf eine grüne Wiese, und ich selbst schaute der harmlosen Kurzweil zu. Da verschwand sie plötzlich mitten aus dem Reigen, und niemand wußte, wohin sie gekommen war. Später erfuhr ich von einem zauberkundigen Mann, daß der Zwergenkönig Laurin sie mittels einer Tarnkappe geraubt und mit sich in seinen hohlen Berg geführt habe. Dieser Berg ist im Land Tirol, wo der Zwerg auch einen wundersamen Rosengarten hat. Nun meine ich, guter Meister, du müßtest der Dinge wohl kundig sein und könntest mir mit Rat und Tat Beistand leisten, so daß ich die Jungfrau wieder aus der Gewalt der Unterirdischen befreie.“ - „Das ist eine üble Sache“, meinte Hildebrand, „und sie kann manchen tüchtigen Recken in Not bringen. Ich will aber mit dir nach Bern zu Dietrich und den anderen Gesellen reiten. Dort wollen wir gemeinsam beraten, was zu tun ist, denn das Gezwerg ist gewaltig durch seine Herrschaft über ein weites Reich unter der Erde und durch viele Zauberdinge.“
Hier finden wir das wunderbare Symbol der Tarnkappe wieder, das eine tiefe Bedeutung hat: Trennt man Zwerg und Tarnkappe, dann kann man Zwerg und Tarnkappe sehen. Vereint man sie, dann verschwinden beide, sowohl der Zwerg als auch die Tarnkappe. Und das kann im Prinzip auch mit unserer Unterscheidung von Subjekt und Objekt geschehen. Darin können wir die Macht des trennenden Bewußtseins erkennen, wie dadurch die Formen entstehen, die in der Ganzheit wieder verschwinden und nur formloser Geist bzw. reines Bewußtsein übrigbleibt. Das ist dann die unsichtbare Gottheit, die Nichtdualität des Advaita oder auch Leerheit im Buddhismus. Dahin deutet auch das Verb „tarnen“, wenn etwas äußerlich nicht mehr zu unterscheiden ist. Und „Kappe“ bedeutet ursprünglich einen Mantel mit Kapuze, mit der man sich den Kopf bedecken kann, damit sozusagen die Haare der Gedanken nicht mehr in die äußerliche Welt ragen. Und unter dieser Tarnkappe verschwand plötzlich auch die Schwester von Dietleib vor seinen Augen beim Spielen im grünen Garten der äußerlichen Natur, die es nun wiederzufinden gilt:
Die beiden Recken ritten nach Bern (heute Verona), wo sie den König und die Gesellen zusammen antrafen. Als nun der junge Held von Steiermark die Begebenheit berichtete, rief Wolfhart zuerst, er wolle das Abenteuer allein bestehen und nicht bloß die Jungfrau frei und ledig machen, sondern auch den Knirps von einem König auf seinem Sattelbogen gebunden nach Bern führen. - „Hei, unverzagter Held“, rief Dietleib, „weißt du auch den Weg zu finden, der in den Rosengarten führt?“ - „Den kenne ich wohl“, sagte der Meister, „aber Laurin behütet den Garten, und wer ihm die Rosen stört, von dem nimmt er keine andere Buße, als den rechten Fuß und die linke Hand.“ - „Er nimmt erst die Buße, wenn er die Gewalt dazu hat, und das sollen ihm unsere guten Waffen verwehren“, sagte Wittich, an sein Schwert schlagend. „Wohlan“, versetzte der König, „wir wollen nicht die lieblichen Blumen antasten, sondern die schöne Künhild, die Schwester unseres Gesellen, aus der Gewalt der Bergmännlein erlösen, denn das geziemt den Recken.“ Nachdem nun die Helden gelobt hatten, daß sie den Garten nicht verletzen wollten, erbot sich Hildebrand, ihr Führer zu sein. Mit ihm, dem kundigen Geleitsmann, machten sich folgenden Tages Dietrich, Dietleib, Wittich und Wolfhart auf den Weg, um den Zwergenkönig und seinen Garten in Tirol aufzusuchen.
In der Schwester von Dietleib können wir die Seele der Natur wiederfinden, die wie Schwester und Bruder natürlich immer auch mit einem Menschenkörper verbunden und im Grunde sogar vereint ist, denn ohne eine Seele als verursachendes Prinzip kann es auch keinen Körper geben. Sie trägt hier den Namen Künhild, der uns auch an Kriemhild erinnert, die eine ähnliche Rolle spielte. Nun scheint diese Seele von den Naturgeistern entführt und unter ihre unsichtbare Herrschaft gekommen zu sein, und die menschliche Körperlichkeit scheint sie als menschliche Seele in seinem Körperhaus äußerlich verloren zu haben. Damit hat die große Vergebung von Dietleib offenbar eine Grenze im Grenzland gefunden, was wohl vor allem daran liegt, das die ganzheitliche Vernunft, die im Menschen herrschen sollte, immer noch keine Vollkommenheit erreicht hat. So wünscht er sie gern wiederzuhaben, und wendet sich zuerst an Hildebrand als vernünftigen Verstand, der ihn dann zu Dietrich als wachsende Vernunft führt, um das Problem der Trennung zu lösen. Über diese Symbolik kann man sicherlich viel nachdenken, was dann auch in der folgenden Geschichte tiefgründig getan wird. Dazu erscheint ein blühender Rosengarten inmitten der hohen Berge der irdischen Materie, der von Naturgeistern beschützt wird, insbesondere von ihrem König Laurin. Der Name kann von lateinisch „Laurentius“ hergeleitet werden und bedeutet „der lorbeerbekränzte Sieger“, und wir werden sehen, ob und wie er es bleibt.
Der blühende Rosengarten wäre dann ein schönes Symbol für die äußerliche Natur, die man natürlich achten und bewahren sollte. Denn wer sie zerstört, der zerstört sich auch praktisch selbst zur Hälfte, zumindest seinen lebendig wachsenden Naturanteil, wie es die Buße oben andeutet. Dazu symbolisiert die Rose in ihrer Blüte die Schönheit der Natur, aber auch Leid und Schmerz in ihren Dornen für jene, die allzu gierig nach ihr greifen. So macht sich nun der Mensch mit seinem fünffachen Wesen als wachsende Vernunft mit dem vernünftigen und egoischen Verstand sowie der tierhaften und menschlichen Körperlichkeit auf den Weg, um die menschliche Seele zu befreien. Das ist kein einfacher Weg, denn er geht vor allem in die geistige Welt unseres körperlichen Wesens, ins „Reich der Alben“:
Die Reise ging nordwärts in die wilden Berge, durch finstere Schluchten, an Abgründen vorbei über Schneefelder und starrende Gletscher, wo man oft die Rosse am Zügel führen mußte. Es war eine mühevolle und gefährliche Fahrt. Sie stiegen immer höher in der einsamen Bergwüste empor, und oft erstarrten ihnen von der kalten Luft Hände und Füße. Als sie wiederum eine Höhe erstiegen und ein Schneefeld überschritten hatten, wehte ihnen plötzlich milde Frühlingsluft entgegen, und bald lag der wonnesame Garten vor ihnen ausgebreitet. Sie atmeten mit Lust den süßen Blumenduft und blickten mit Freude auf die Beete, wo Tausende von Rosen auf den Zweigen schwankten, auf die Lauben von Lorbeer, Granat- und Myrtenbäumen, auf die weitschattenden Linden und Olivenbäume, wo die Vöglein ihr süßes Getön hören ließen. Es wurde ihnen so wohl, als seien sie im Paradies, alle Sorgen der Erde schwanden, und frische, fröhliche Lebenslust erfüllte ihre Herzen.
Lange standen die Helden wie eingegangen in den himmlischen Freudensaal, der die Gerechten einst aufnehmen soll. Da rief Wolfhart, das Schweigen unterbrechend: „Hinein, Gesellen, in das irdische Paradies!“ Er spornte sein Roß nach dem Garten, aber ein mächtiges Tor aus Eisen mit Goldstäben verwehrte den Eintritt. Der Recke stand betroffen vor der Pforte und blickte das Eisen an. Dagegen stürmte der starke Wittich jetzt herzu, sprang vom Pferd und trat mit äußerster Gewalt gegen die Tür, doch richtete nicht mehr aus, als sein Gefährte mit Anstarren. Sofort gesellten sich auch Dietrich und Dietleib zu den Belagerern, und wie die vier kraftvollen Männer ihre Anstrengungen vereinigten, wich die Pforte aus Angeln und Banden, so daß der Zutritt offen war. Den inneren Raum umschloß noch eine Goldborte oder ein Goldfaden, wie vor Zeiten die heiligen Götterhöfe verwahrt waren. Die schwache Einfriedigung wurde von Wittich zerrissen und niedergetreten, und vom Widerstand erbittert, begann er zusammen mit Wolfhart, die Rosenbüsche zu verwüsten. Meister Hildebrand mahnte vergebens, sich des Frevels zu enthalten. Dietleib sah unentschlossen zu, und Dietrich blieb unter einer Linde stehen, deren Blütenduft ihn berauschte.
Das Eisentor mit den Goldstäben erinnert uns an die Materie, die das körperliche Leben beschützt, und läßt sich nur mit ganzheitlich vereinten Kräften öffnen und durchdringen. Doch noch mehr wird das Leben von einem kaum sichtbaren Goldfaden im Sinne eines Rings aus Wahrheit beschützt, wenn man das Gold als Symbol der Wahrheit betrachtet, der dann von Wittich als Ego-Verstand zerrissen, zertrennt und niedergetreten wird. Danach finden wir in Wittich und Wolfhart ein typisches Gespann von egoischem Verstand und tierhafter Körperlichkeit für die Zerstörung der äußerlichen Natur. Denn wie manches wilde Tier seine Macht zur Erhaltung des eigenen Lebens darin sieht, daß es andere Tiere töten und auffressen kann, so versteht auch der egoische Menschenverstand seine Macht der Herrschaft gewöhnlich darin, daß er alles töten und zerstören kann, über das er herrscht, und sich doch aus ganzheitlicher Sicht damit nur selbst schadet. Dabei besteht doch die wahre Macht der Herrschaft in der Freiheit von Bindung und damit im „leben und leben lassen“, wie es Meister Hildebrand als vernünftiger Verstand fordert und Dietrich mit Dietleib verwirklichen sollten. Doch die Dietrich-Vernunft läßt sich vom äußerlichen Blütenduft berauschen, und er scheint die Zerstörung durch seine eigenen Kräfte nicht wahrzunehmen, bis er dann aufwacht:
Schon hatten die beiden wütigen Zerstörer auch die Pferde in den Garten getrieben, um die Verwüstung fortzusehen, da rief Hildebrand, der außerhalb geblieben war: „Laßt ab! Nehmt eurer Schwerter wahr! Er kommt, der Herr des Gartens!“ Alle blickten auf und sahen einen Lichtglanz in der Ferne, der eilends näherkam. Bald unterschied man einen Reiter auf windschnellem Roß. Er war von kleiner Gestalt, aber ganz nach Reckenart gerüstet. Schild und Brünne glänzten von Gold, den Helm umschlossen Goldspangen und ein Reif von Juwelen, in deren Mitte ein Karfunkel wie die mittägliche Sonne strahlte. Er hielt sein Pferd an, als er die Verwüstung sah. „Heda!“, rief er zornig: „Ihr Raubgesellen, was habe ich euch Leids getan, daß ihr meine Freude und Wonne zerstört? Oder hattet ihr Ursache zur Fehde? Warum habt ihr mir diese nicht als ehrliche Recken angesagt? Nun sollt ihr mir alle Buße tun, jeder die rechte Hand und den linken Fuß!“ - „Bist du König Laurin?“, fragte der Berner Held: „Dann sind wir dir Buße schuldig, und ich will dir reichlich Gold darbringen. Aber die rechte Hand braucht jeglicher zur Führung des Schwertes, und auch den Fuß kann keiner füglich entbehren, der ein Roß besteigen will.“ - „Ein Feigling, wer von Buße redet!“, schrie Wolfhart: „Wir zahlen mit Lanzenstößen und Schwertstreichen.“ - „Und ich will den Däumling da samt der Geis, die er reitet, an der Steinwand zerschellen, daß das Gesinde der Knirpse seine Knöchlein nicht wieder zusammenlesen kann.“, schrie Wittich. „Wolfsgezücht!“, rief der Zwerg, „Wolfsgezücht mit vermessenen Zungen und schwachen Händen, macht eure Rede wahr, wenn ihr tüchtige Recken seid!“ Damit warf er sein Rößlein herum und rannte gegen Wolfhart, der bereits mit erhobenem Speer anstürmte. Der unverzagte Held flog aber, sobald ihn des Gegners Waffe berührte, wie eine Feder vom Sattel. Nicht besser erging es dem starken Wittich. Er verfehlte den Zwerg und stürzte selbst, von dessen Speer getroffen, fünf Schritte weit kopfüber in den Staub.
Hier erinnert uns diese Forderung der zweiten Hand und des zweiten Fußes auch daran, daß uns die Naturgeister wieder zum Einssein in der Ganzheitlichkeit führen wollen. Doch der menschliche Verstand sagt, daß er die Hand benötige, um im Spiel der Gegensätze zu kämpfen, und den Fuß, um auf der Körperlichkeit zu reiten. Und mit Recht wirft uns der König der Naturgeister vor, der tierhaften Körperlichkeit verfallen zu sein.
Laurin sprang vom Roß, zog ein großes Messer heraus und näherte sich dem Helden, der ohne Besinnung am Boden lag, um ihm Hand und Fuß abzuschneiden. Zum Schutz seines Gesellen erhob sich Dietrich. Doch Hildebrand raunte ihm zu: „Wage nicht den Speerstoß! Er hat drei Zauberdinge, die du ihm zuerst entreißen mußt: Am Finger den Ring mit einem Siegstein, um die Lenden einen Zaubergürtel, der ihm Zwölfmännerstärke verleiht, und in der Tasche ein Tarnkäpplein, das ihn unsichtbar macht.“ Der Berner streckte sein gutes Schwert Eckesachs über den gefallenen Wittich, um ihn zu beschützen. Sogleich griff ihn der Zwerg mit blanker Waffe an, umkreiste ihn, wie ein Habicht seinen Raub und schlug ihn bald da, bald dort, daß das Blut unter den Rüstungsringen hervorrann. Der kühne Berner dachte, das Männlein mit einem Schlag in Stücke zu hauen, aber er traf es nicht, und wenn er traf, so biß das Schwert nicht, denn Laurins Helm, Schild und Rüstung waren Zwergenarbeit und in Salamanderblut gehärtet. Der Kampf wurde für ihn immer nachteiliger, da rief ihm Hildebrand zu: „Edler Held, gedenke meines Rates, oder du bist verloren!“ Sofort tat der Berner einen Schirmschlag und wurde mit dem Zwerg handgemein. Zwar stieß ihn dieser mit der Kraft eines Riesen zurück, aber es war ihm doch gelungen, demselben den verhängnisvollen Ring vom Finger zu streifen, den der Meister herzuspringend sogleich an sich nahm. Dennoch war der Streit nicht weniger heftig, ja Laurin schien noch stärker als zuvor. Dietrich bat um eine kurze Waffenruhe und Laurin gewährte sie, indem er sagte: „Du bist ein wackerer Kämpfer, aber ich werde doch meine Pfänder nehmen.“ Er stützte sich dabei auf sein Schlachtschwert, dessen Knauf kaum seine Hände erreichten. Als der Kampf wieder begann, traf der Zwerg mit dem ersten Hieb den Schild des Königs, daß ein großes Stück davon herausgetrennt wurde. Dafür unterlief ihn der Berner nochmals und faßte ihn am Gürtel, während derselbe seine Kniee wie mit einer Zange umklammerte und ihn rücklings zu Boden warf, daß die Ringe der Rüstung laut klangen. Durch den heftigen Ruck, war indessen der Gürtel, den der König festhielt, zerrissen und beim Sturz des Helden zu Boden gefallen.
Fingerring, Gürtel und Tarnkappe können wir als besondere Symbole der Naturgeister sehen, für die Laurin hier als König erscheint. Der Ring mit dem Siegstein symbolisiert die Ganzheitlichkeit und damit Unbesiegbarkeit, der Gürtel erinnert an die unwiderstehliche Macht der Bindung in der Natur, und die Tarnkappe an die Formlosigkeit des reinen Geistes, der auch allen Naturgeistern zugrunde liegt. Diese „Zauberdinge“ kann ihm Dietrich im harten Kampf entziehen, und der Hildebrand-Verstand greift nach ihnen. Doch kann der Verstand als „Waffenmeister“ mit diesen Waffen der Ganzheitlichkeit wirklich etwas anfangen? Vermutlich werden wir in dieser Geschichte nichts mehr davon hören, weil sie in seiner zertrennenden Begriffswelt ihre Macht verlieren. Besser wäre es wohl gewesen, wenn sich Dietrich selbst ihrer bemächtigt hätte, wie es Siegfried in der Nibelungensage getan hatte, um eine ganzheitliche Vernunft zu sein, auch vereint mit den vielfältigen Naturgeistern.
Hildebrand bemächtigte sich sogleich des Kleinods, aber er, wie der kampfmüde Held und die anderen Recken sahen den Zwerg nicht mehr. Der Berner fühlte die Streiche des unsichtbaren Gegners, doch konnte ihn nicht treffen. Darüber geriet er in Berserkerwut, so daß er die Wunden nicht mehr fühlte und sein Atem wie versengende Glut wurde. Er warf Schwert und Schild weg, sprang wie ein Tigertier nach der Richtung, wo er des Gegners Waffe sausen hörte, und faßte den Zwerg zum dritten Mal. Er riß ihm die Tarnkappe vom gekrönten Helm, und nun stand der unglückliche Laurin vor ihm und bat um Frieden. „Erst nehme ich die Pfänder von dir und das Haupt dazu, dann hast du Frieden!“, rief der wütende Held, den flüchtigen Zwerg verfolgend. „Rette mich, Dietleib, lieber Schwager!“, rief dieser, zu dem Recken fliehend: „Deine Schwester ist meine Königin.“ Dietleib schwang den Kleinen sogleich zu sich auf sein Roß und jagte mit ihm davon in den wilden Tann. Daselbst ließ er ihn nieder und hieß ihn sich verbergen, bis er den ergrimmten König für die Sühne geneigt gemacht habe.
Hier lesen wir nun, wie der wütende und feuerspeiende Ego-Drache in Dietrich selbst erwacht, wohl als Wirkung, weil er seinen Gesellen Wittich als egoischen Verstand vom Wüten nicht zurückhalten konnte. Damit entreißt er dem Naturgeist seine formlose Geistigkeit und scheint ihn nun als äußerliche Form töten zu können. Ja, dieses fragwürdige Konzept des „Tötens“ für den „Sieg-Frieden“ geistert Dietrich immer noch im Kopf, vor allem, solange ihn der Ego-Drache beherrscht. Dietleib reagiert besser und menschlicher mit seiner Macht der Vergebung.
Als Dietleib auf den Kampfplatz zurückkehrte, fand er den Helden zu Roß und in gleicher Wut, wie zuvor. Er forderte von ihm des Zwerges Haupt oder sein eigenes. Schon blitzten die Schwerter in den Händen der erbitterten Helden, doch da umfaßte Hildebrand seinen Herrn, Wolfhart tat dasselbe mit Dietleib, und die freundlichen Reden der beiden Gesellen brachten endlich Versöhnung und auch Sühne mit Laurin zustande. Bald saßen die Männer ohne heimlichen Zorn beisammen, und der König der Unterirdischen wurde in den Bund der Gesellen aufgenommen. „Wohl, ihr tapferen Kämpfer“, sagte er, „nun will ich euch auch die Wunder in meinem hohlen Berg aufschließen und euch gastlich beherbergen. Und du, Dietleib, sollst mir dann deine holdselige Schwester zur rechtmäßigen Hausfrau zusprechen.“ - „Es ist altes Recht“, versetzte der Held von Steiermark, „daß einer Jungfrau, wenn sie geraubt und wiedergefunden ist, die Wahl zusteht, ob sie bleiben oder in ihr Haus zurückkehren will. Bist du dessen Willens?“ - „Mit Freuden!“, rief der Zwerg: „Laßt uns ungesäumt aufbrechen! Seht ihr dort den Berg mit dem weißen Haupt? Dort ist mein Reich. Also gleich zu Roß, damit ich die Verwüstung in meinem Garten nicht mehr sehe. Wenn die Maienlüfte wieder wehen, blühen meine Rosen von neuem.“
Wunderbar! Die Vergebung siegt, Versöhnung und Frieden sind gewonnen. Und die Naturgeister sind nun bereit, ihre innerlichen Schätze im hohlen Berg bzw. in der Materie zu offenbaren, wie auch unsere moderne Wissenschaft weiß, daß Materie innerlich hohl ist und zu über 99.9999% aus leerem Raum besteht. Doch vielleicht ist dieser Raum gar nicht so leer, sondern vom Geist unter der Tarnkappe belebt, und ein großer Schatz ist darin zu finden. Aber der Weg dahin ist weiter als wir gewöhnlich denken und glauben:
Die Reise nach dem schneegekrönten Berg war weiter, als die Recken geglaubt hatten, und dauerte bis zum folgenden Mittag. Da gelangte man an den Fuß des weißen Hauptes und erblickte einen Anger, so schön wie der Rosengarten. Blumendüfte erfüllten die Luft, Vogelsang ertönte tausendstimmig in den Zweigen, und Zwerglein zogen in Scharen vorüber, etliche rüstig mit Hammer und Schurzfell, andere geschmückt wie Könige, noch andere, mit Schalmeien und Hörnern blasend. Es war, als ob die Vögel ihr süßes Getön nach der Musik der Erdmännlein gestimmt hätten, so lieblich klang das alles zusammen. Laurin führte die Helden zu dem Berg, dessen Tor sich vor ihm auftat. Die Gäste waren so froh und von Erdensorgen frei, daß sie willig dem Führer folgten. Nur Wittich, der den Sturz durch den Speer des winzigen Gegners nicht vergessen konnte, war mißtrauisch und warnte vor dem Eintritt in die unterirdische Welt. Aber Wolfhart rief: „Haben wir nicht unsere Schwerter zum Schutz und Trotz? Ich muß die Wunder im Berg schauen, und wenn der Teufel selbst da unten los wäre.“ Damit sprang er in den inneren Raum, die anderen, auch Wittich folgten, und das Tor schloß sich krachend hinter ihnen. „Die Hölle hat ihren Rachen hinter uns zugetan, nun kommt der Teufel und seine Ahne, uns zu holen“, sagte Wittich. Auch die anderen Helden sahen sich erschrocken um, aber hatten keine Muße, lange nachzusinnen, denn die Wunder der Unterwelt taten sich vor ihnen auf, und die Schätze der Tiefe, die sonst niemals menschliche Augen zu schauen vermögen, offenbarten sich ihren Blicken.
In König Laurins Reich, aus Villamaria „Elfenreigen“
Eine lichte Dämmerung herrschte in dem weiten Raum der Halle, wie wenn der volle Mond die Erde beleuchtet. Die Wände waren glattpolierter Marmor, von Gold- und Silberstäben in Felder geteilt. Der Fußboden war wie ein einziger Achat, die Decke ein Saphir, und leuchtende Karfunkel hingen davon herunter, wie Sterne am blauen Nachthimmel. Mit einem Mal wurde es taghell, denn sie selbst, die Königin kam, umgeben von einer Schar Mägdlein, alle klein von Wuchs und doch lieblich anzuschauen. Ihr Gürtel und Halsschmuck glänzten von Juwelen, in ihrer Krone aber strahlte ein Diamant wie eine Sonne und verbreitete den hellen Schein, der die Halle durchstrahlte. Schöner als der Schmuck war die Herrin selbst, die ihn trug, und man konnte die Augen nicht von ihr abwenden. Sie setzte sich neben Laurin und winkte ihrem Bruder Dietleib, daß er sich an ihrer anderen Seite niederlasse. Als dies geschehen war, umarmte sie ihn, als wolle sie ihn nicht wieder von sich lassen, und fragte, wie es im Haus stehe, ob noch die Wiesen grünten, die Bäume blühten und das Wild in den Wäldern den fröhlichen Jäger für seine Mühen belohne, wie damals, als sie an seiner Seite mit dem Speer die heimischen Berge und Täler durchwanderte. Indessen waren die Tische mit köstlichen Speisen und Getränken besetzt, und die Gäste langten wacker zu. Während gespeist wurde, führten Bergmännlein und Mägdlein mancherlei Spiele auf, und Musik ertönte bald wie Vogelsang, bald ernst und feierlich, wie Orgel und Posaunen. Die Gäste fühlten sich so behaglich, daß selbst Wittich allen Argwohn und Groll schwinden ließ.
Als sich Laurin einmal entfernte, fragte Dietleib die Schwester, ob sie nicht hier im unterirdischen Paradies wohnen und Königin sein wolle. Da rannen ihr Tränen aus den Augen, und sie sagte ihm, sie könne die Heimat, die menschliche Gesellschaft nicht vergessen, und sie wolle lieber drüben in einer Bauernhütte wohnen, als hier unter dem Zwergenvolk. Laurin sei liebreich zu ihr, aber er sei doch nicht wie andere Menschen. Als Dietleib dies vernahm, versicherte er ihr, er werde sein Leben daran wagen, sie zu befreien.
Der Zwergenkönig trat wieder ein, bat Dietleib, ihm zu folgen, und führte ihn in ein abgelegenes Gemach. Hier sagte er ihm, seine Gesellen seien alle dem Tode verfallen, er aber solle als sein Schwager erhalten bleiben und gemeinsame Sache mit ihm machen. „Verräter, falscher Zwerg!“, rief der Held: „Ich lebe und sterbe mit meinen Gesellen. Du aber bist in meiner Gewalt!“ Er griff nach ihm, aber Laurin schlüpfte im Nu durch die offene Türe, die sich hinter ihm schloß und der Recke vergeblich zu öffnen versuchte.
In diesem abgeschlossenen Gemach können wir wieder Dietleibs Grundproblem der Trennung in dieser Geschichte sehen, so daß er nicht nur von seiner Schwester, sondern auch von der wachsenden Vernunft und ihren Gesellen getrennt wird, weil er weder das wahre Wesen der Naturgeister noch seiner Schwester erkennt.
Laurin trat wieder ganz harmlos in den Saal, ließ die Becher aus einem besonderen Gefäß füllen und forderte die werten Gäste auf, diesen Trank bis auf die Neige zu leeren, damit sie glückliche Träume hätten. Als sie dies arglos taten, fielen sie sogleich in Schlaf. Darauf sagte Laurin zur Königin: „Wende dich nach deinem Gemach, denn diesen Männern, die meinen Rosengarten verwüstet haben, muß es ans Leben gehen. Deinen Bruder habe ich jedoch in sicheren Gewahrsam gebracht, daß er um deinetwillen erhalten bleibe.“ Künhild weinte laut und erklärte ihm, daß sie sterben werde, wenn er das blutige Vorhaben ausführe. Er gab ihr keine bestimmte Antwort, sondern wiederholte sein Gebot. Sobald sich die Herrin entfernt hatte, stieß er in sein Horn, und alsbald erschienen fünf Riesen und viele Zwerge. Er befahl ihnen, den Recken Arme und Beine mit Stricken fest zu binden, damit sie sich, wenn sie erwachten, nicht rühren könnten. Dann hieß er sie die Gefangenen in ein tiefes Verließ schleppen und früh am Morgen wacker sein, um seine weiteren Befehle zu vernehmen. Er selbst begab sich hierauf in sein Schlafgemach und dachte nach, ob er die Eingekerkerten der Königin zu liebe im Verließ am Leben erhalten, oder für ihren Frevel mit dem Tod bestrafen solle. Letzteres schien ihm das Sicherste, und er entschlief mit diesem Gedanken.
Über diese Symbolik kann man wieder viel nachdenken, und wir möchten dazu ein paar Inspirationen geben: Unser gewöhnlicher Verstand wird gern in Laurin einen Betrüger sehen. Doch können Naturgeister betrügen? Oder ist es nur unser Verstand, der uns mit Konzepten wie Tod, Trennung und Ego betrügt? Naturgeister sind immer auch mit der Seele der Natur als Prinzip der Verursachung bzw. Kausalität verbunden und im Grunde vereint. Dafür steht hier Künhild als menschliche Seele, die aufgrund des Konzeptes der Trennung zwischen Bruder und Schwester den Kampf und damit auch die Verwüstung des Rosengartens verursacht hat, die dann Wittich als egoischer Verstand verwirklichte. Und durch dieses Prinzip der Verursachung wird der Mensch auch von den Naturgeistern in der körperlichen Materie gebunden, berauscht und eingeschläfert, so daß er zwischen Paradies- und Albträumen schlafwandelt. Und doch muß jeder Mensch irgendwann erwachen und wird sich seiner Lage bewußt:
Schon bald nach Mitternacht erwachte der Berner, fühlte sich geknebelt und rief die Gesellen zu Hilfe. Sie waren alle in gleich hilfloser Lage und ahnten den Verrat. Da geriet Dietrich in Wut, und sein Feueratem versengte die Stricke, so daß eine Hand frei wurde. Darauf löste er auch die andere Hand und die Füße und befreite sodann die übrigen Gesellen. Was aber war weiter zu tun? Sie vermochten die eherne Tür des Kerkers nicht zu sprengen und hatten weder Schwerter noch Heergewand. So waren sie hilflos der Rache des Zwerges preisgegeben. Wie sie sich über ihre schlimme Lage berieten, wurde leise an die Tür gepocht, und eine sanfte weibliche Stimme fragte, ob sie noch am Leben seien. „Heil dir, edle Königin“, sagte Hildebrand leise, „wir sind noch wacker, aber ohne Waffen.“ Sogleich sprang die Tür auf, ein Lichtschein fiel in den Kerker, und die Gefangenen erkannten die schöne Künhild und neben ihr den lieben Gesellen Dietleib. Dieser hatte auch die Waffen und Rüstungen herbeigeschleppt und erzählte ihnen, während sie sich wappneten, wie die Schwester von dem Verrat Kenntnis erhalten und gewacht habe, bis die Zwerge eingeschlafen waren, und wie sie dann mit einem Zauberring die Pforte seines Gemachs aufgesprengt, ihm die Waffen gezeigt und ihn endlich hierhergeleitet habe. Die Königin gab nun jedem Recken einen Ring, durch dessen Kraft man die Zwerge trotz ihrer Tarnkappen sehen konnte, und gebot ihnen, sich ganz still zu verhalten. Doch Wolfhart rief „Hollaho!“, daß es durch den Berg scholl: „Jetzt ist es an der Zeit zu lärmen, denn wir stehen in Rüstung!“ Wie eine Antwort auf den Fehderuf tönte dreimal der Klang eines Heerhorns, und es schwirrte und rauschte, es klirrte und rasselte von Waffen durch alle Gänge und Säle der unterirdischen Welt.
Hier zeigt sich nun wieder der feuerspeiende Ego-Drachen von Dietrich, der zwar mit Gewalt natürliche Bindungen zertrennen und natürliche Wirkungen zurückhalten, aber sich nicht davon befreien kann. Dazu kommt die reine Seele zur Hilfe, mit der Vergebung und der Liebe zum Leben. Und diesen Zauberring der Ganzheit, mit dem die Königin der Natur alle Türen öffnen kann, übergibt sie auch an uns Menschen. Ja, darüber kann man wieder viel nachdenken, wie die Seele als Prinzip der natürlichen Verursachung dafür sorgt, daß der Mensch die unsichtbaren Ursachen der sichtbaren Wirkungen, den formlosen Geist und seine Ganzheit erkennen kann, was man gern auch Selbsterkenntnis nennt.
Dazu schreibt Meister Eckhart in einer Predigt:
Wollen wir nun am Geiste erneuert werden, so müssen die sechs Kräfte der Seele, die obersten und die untersten, jede einen goldenen Ring haben, übergoldet mit dem Gold göttlicher Liebe. Nun schaut auf die niedersten Kräfte, deren sind drei. Die erste heißt Unterscheidungsvermögen, rationale; an der sollst du einen goldenen Ring tragen: der ist die »Erleuchtung«, auf daß dein Unterscheidungsvermögen allzeit zeitlos erleuchtet sei durch das göttliche Licht. Die zweite Kraft heißt die Zürnerin, irascibilis; an der sollst du einen Ring tragen: der ist »dein Frieden«. Warum? Nun: soweit im Frieden, soweit in Gott; soweit außerhalb des Friedens, soweit außerhalb Gottes! Die dritte Kraft heißt Begehren, concupiscibilis; an der sollst du einen Ring tragen: der ist »ein Genügen«, auf daß du genügsam seiest gegenüber allen Kreaturen, die unter Gott sind. Gottes aber soll‘s dir nie genug sein! Denn Gottes kann es dir nie genug sein: je mehr du von Gott hast, um so mehr begehrst du seiner; könnte es dir nämlich Gottes genug werden, so daß es in bezug auf Gott ein Genugsein gäbe, so wäre Gott nicht Gott.
Auch an jeder der obersten Kräfte mußt du einen goldenen Ring tragen. Der obersten Kräfte sind gleichfalls drei. Die erste heißt eine behaltende Kraft, memoria. Diese Kraft vergleicht man dem Vater in der Dreifaltigkeit. An dieser sollst du einen goldenen Ring tragen: der ist ein »Behalten«, auf daß du alle ewigen Dinge in dir behältst. Die zweite heißt Vernunft, intellectus. Diese Kraft vergleicht man dem Sohn. An der auch sollst du einen goldenen Ring tragen: der ist »Erkenntnis«, auf daß du Gott alle Zeit erkennst. Und wie? Du sollst ihn bildlos erkennen, unmittelbar und ohne Gleichnis. Soll ich aber Gott auf solche Weise unmittelbar erkennen, so muß ich schlechthin er, und er muß ich werden. Genauer noch sage ich: Gott muß schlechthin ich werden und ich schlechthin Gott, so völlig eins, daß dieses »Er« und dieses »Ich« Eins ist, werden und sind und in dieser Seinsheit ewig ein Werk wirken. Denn, solange dieses »Er« und dieses »Ich«, das heißt Gott und die Seele, nicht ein einziges Hier und ein einziges Nun sind, solange könnte dieses »Ich« mit dem »Er« nimmer wirken noch eins werden. Die dritte Kraft heißt Wille, voluntas. Diese Kraft vergleicht man dem Heiligen Geiste. An dieser sollst du einen goldenen Ring tragen: der ist die »Liebe«, auf daß du Gott liebst. Du sollst Gott lieben ungeachtet seines Liebenswertseins, das heißt: nicht deshalb, weil er liebenswert wäre; denn Gott ist nicht liebenswert: er ist über alle Liebe und Liebenswürdigkeit erhaben. »Wie denn soll ich Gott lieben« - Du sollst Gott ungeistig lieben, das heißt so, daß deine Seele ungeistig sei und entblößt aller Geistigkeit; denn, solange deine Seele geistförmig ist, solange hat sie Bilder. Solange sie aber Bilder hat, solange hat sie Vermittelndes; solange sie Vermittelndes hat, solange hat sie nicht Einheit noch Einfachheit. Solange sie nicht Einfachheit hat, solange hat sie Gott (noch) nie recht geliebt; denn recht zu lieben hängt an der Einhelligkeit. Daher soll deine Seele allen Geistes bar sein, soll geistlos dastehen. Denn, liebst du Gott, wie er Gott, wie er Geist, wie er Person und wie er Bild ist, - das alles muß weg. »Wie denn aber soll ich ihn lieben?« - Du sollst ihn lieben, wie er ist ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild, mehr noch: wie er ein lauteres, reines, klares Eines ist, abgesondert von aller Zweiheit. - Und in diesem Einen sollen wir ewig versinken vom Etwas zum Nichts. Dazu helfe uns Gott. Amen. (Predigt 42)
Zu dieser Selbsterkenntnis oder Gotterkenntnis in der Einheit und Ganzheit gebietet uns die Seele, „uns ganz still zu verhalten“, wie es oben heißt, denn die Stille ist die ganzheitliche Quelle dieser Erkenntnis. Hier schreit nun Wolfhart, unser tierhaftes Wesen, wieder laut auf, fühlt sich gerüstet, bewaffnet und voller Kraft, um sich im Kampf zu behaupten, denn diese Stille als Quelle von allem ist ihm unheimlich, ja sogar feindlich und unerträglich.
Laurin war durch Wolfharts Ruf erwacht und hatte sogleich, die Befreiung der Gefangenen erkennend, das Heervolk der Zwerge aufgeboten. Tausende strömten herbei, alle wohlgerüstet und entschlossen, ihren heimischen Berg, die Quelle ihrer Macht und ihrer Schätze, mit Gefahr ihres Lebens zu verteidigen. Der Sturm des Krieges war los, und aus entfernten Bergen zogen immer neue Scharen von Erdmännlein heran. König Laurin war nicht unwillig darüber, daß er nun mit offener Gewalt den Untergang der frevelhaften Recken herbeiführen konnte, anstatt mit arger List und Tücke. Er ordnete seine Macht und griff die fünf Gesellen mutig an. Diese kamen sehr ins Gedränge, wurden voneinander getrennt, verteidigten sich aber nicht bloß mit ihren guten Klingen, sondern mit allen Mitteln, die ihnen zu Gebote standen. Sie stürzten Steintische, eiserne Türen und Felstrümmer auf die zahllosen Zwerglein und zerschmetterten Tausende. Laurins Horn rief noch fünf Riesen mit ihren Stangen zu Hilfe, aber die starken, sieggewohnten Helden behielten endlich die Oberhand. Die Riesen wurden erschlagen, die Zwerge in ihre Schlupfwinkel verscheucht und Laurin selbst gefangen.
Sicherlich, diese Macht hat der Mensch, daß er die Natur mit ihren Riesenkräften scheinbar überwältigen und besiegen kann, mit seinem Schwert der Weisheit, mit Verstand, Gewalt und ihren eigenen Mitteln. Manchmal glaubt er sogar, den Tod töten zu können. Doch was ist das für ein Sieg? Daß der Mensch die äußere Natur besiegen will, ist ihm offenbar angeboren. Die große Frage ist nur: Wie und auf welche Weise?
Auf Bitten der Königin wurde dem König der Zwerge das Leben geschenkt, sodann belehnte Dietrich Sintram, einen anderen König, mit dem gewonnenen Berg gegen das Versprechen eines jährlichen Zinses. Nachdem alles wohlgeordnet war, verließen die Helden den Schauplatz ihrer Taten. Sie führten viele Schätze mit sich und auch die Königin, freudig über ihre gewonnene Freiheit, sowie den König Laurin, der unwillig über seine Gefangenschaft und die mißlungene Rache an den Zerstörern seines Gartens war.
In Bern war des Jubels und der festlichen Gelage kein Ende. Die Helden wurden weithin gepriesen, der unglückliche Laurin aber war der Leute Spott. Er ging frei herum, doch versuchte sich zu verbergen, soviel er konnte. Nur ein Wesen war da, welches ihm Teilnahme bewies, nämlich Künhild, die Königin. Sie traf ihn einstmals, wie er einsam am Ufer des rauschenden Sees weilte. Sie redete ihn freundlich an, suchte ihn zu trösten und versicherte ihm, er werde des Königs Huld erlangen, wenn er sich treu beweise. „Treu?“, lachte er grimmig: „Ja, sie meinen, sie hätten einen Hund getreten, der dafür die Hände lecke. Aber der getretene Giftwurm hat einen Stachel und sticht, und wer ihn getreten hat, muß daran sterben. Du sollst alles wissen, was sich begeben wird: Walberan, mein Oheim, dem das Zwergen- und Riesenvolk vom Kaukasus bis zum Sinai dienstbar ist, zieht mit Heeresmacht heran, mich zu rächen. Vor ihm wird der starke Dietrich mit seinen Gesellen erliegen, Bern und das ganze Land verwüstet werden, und dann, wenn die Rache erfüllt ist, führe ich dich wieder in mein Reich und pflanze den Garten, daß die Rosen im Maimond schöner blühen und du dort mit mir in einem königlichen Palast wohnst.“ - „Laurin“, versetzte sie, „du hattest mich damals durch List und Zauberkunst geraubt. Aber ich habe wohl deine große Liebe erkannt, womit du mich geehrt und geschmückt hast. In deinem unterirdischen Reich wollte ich nicht bleiben, aber ich will dir hold und deine Königin im Rosengarten sein, wenn du nicht mehr der Rache, sondern der Liebe und Treue gedenkst.“ Sie verließ ihn, und er dachte lange der Rede nach.
Hier kann man nun lesen, wie eng die Seele der Natur mit den Naturgeistern verbunden ist, wie sie sich am rauschenden See bzw. Meer der Ursachen treffen, und wie die Seele als Prinzip der Verursachung natürlich alles weiß, was die Naturgeister bewirken wollen, und wie auch sie in der Welt alle miteinander verbunden sind, seien es Zwerge oder Riesen. Und nachdem die Seele aus dem Unterirdischen nun wieder in die Menschenwelt geholt wurde, ist sie auch bereit, mit den Naturgeistern ganzheitlich in der äußerlichen Natur zu leben und ihren Rosengarten wieder zu beleben. Und das geschieht dann auch:
Wenige Zeit nachher kam der Berner Held zu dem Zwergenkönig, faßte seine Hand und sagte: „Lange genug hast du Schmach erduldet. Du sollst forthin kein Gefangener mehr sein, sondern unter meinen Gesellen sitzen, oder in deinen Berg zurückkehren, wenn es dich gelüstet. Den Rosengarten besuchen wir gemeinsam, sobald im kommenden Frühling die Blüten wieder hervorbrechen. Schweigend folgte der Zwerg dem König in die Halle, wo die Recken beim Gelage versammelt waren. Er saß an Dietrichs Seite mitten unter den fröhlichen Zechern und gedachte der Rache, die er nehmen wollte, wenn sein Oheim hereinbreche. Als aber die holdselige Königin erschien und ihm den Becher mit freundlichem Gruß darreichte, da siegte die Liebe über den Haß, und er rief, den Becher leerend: „Nun will ich euer Geselle sein auf Leben und Sterben!“
So zeigt uns nun hier die symbolische Geschichte einen Weg der Vergebung, Versöhnung und Liebe. Und wie Dietrich damals Virginal mit der Kraft der Liebe aus dem Naturreich in die Menschenwelt geholt hatte, so geht nun die Menschenseele freiwillig und liebend wieder in das Naturreich. Wunderbar! Doch das Spiel der natürlichen Verursachung, der Schuld bzw. des Karmas angesammelter Taten ist damit noch nicht beendet:
Noch saßen die Gäste beim festlichen Mahl, da trat ein Sendbote des Königs Walberan ein und verkündigte den Fehderuf seines Herrn. Derselbe entbot Krieg und gänzliche Verwüstung der Stadt und des Landes, wenn man nicht alsbald Laurin in sein Reich einsetze und als Buße für den Frevel alles Geld, alle Waffen der streitbaren Mannschaft, desgleichen die rechte Hand und den linken Fuß eines jeden Recken ausliefere, die sich der Gewalttaten schuldig gemacht hätten. „Sage deinem Herrn“, rief der Berner stolz, „daß wir ihn erwarten, dieweil wir des Geldes, der Waffen, der Hände und Füße zum Kampf bedürftig seien.“ - „Entbiete ihm auch meinen Gruß und Dank für seinen Beistand“, fügte Laurin hinzu, „und sage ihm, daß ich nun frei und ledig sei und in Liebe und Freundschaft mit dem König von Bern stehe.“
Man rüstete sich in Bern mit großem Eifer. Die Vasallen und Bundesgenossen wurden entboten, Waffen geschmiedet, Rosse herbeigeführt. Doch war die Kriegsbereitschaft noch nicht vollendet, als schon Walberan mit sechzigtausend Riesen und Zwergen vor Bern erschien. Die Leute hatten alle Tarnkappen und waren unsichtbar aus dem fernen Morgenland genaht. Aber vor der Stadt nahmen sie die Kappen ab und schlugen ihr Lager auf. Ein so großes und prächtig gerüstetes Heer war noch nicht gesehen worden, und die Krieger tummelten ihre Rosse und schwangen Speere und Schwerter, daß man wohl ihren Mut und ihre Wehrhaftigkeit erkannte. Laurin ritt ins Lager, um gütlichen Vergleich zu vermitteln, aber Walberan schalt ihn einen Knechtssohn, der sich in das Joch gefügt habe. Er behielt ihn bei sich und forderte als Vorspiel der Schlacht zwölf Recken zum Kampf auf offenem Feld mit einer gleichen Zahl seiner Krieger. Seine Forderung wurde genehmigt. Der Berner selbst nebst Wittich, Hildebrand, Dietleib, Wolfhart und andere trabten durch das offene Tor den feindlichen Kriegern entgegen, die sich bereits aufgestellt hatten. Wolfhart stürmte zuerst gegen den riesigen Schildung, wurde aber aus dem Sattel gehoben und von dem Gegner, der vom Pferd sprang, besinnungslos, wie er war, zum feindlichen König getragen. Diese Schmach zu rächen, sprengte der Berner in die Schranken. Ihn wollte Walberan bestehen, und wie derselbe aus der Mitte seiner Krieger hervorjagte, waren alle Augen vom Glanz seiner Rüstung geblendet. Sein Schild glänzte wie Spiegelglas, und die Krone auf seinem Helm bestand aus köstlichen Edelsteinen, die Sonne, Mond und Sterne vorstellten und sich ebenso wie die leuchtenden Himmelslichter bewegten. Als die königlichen Kämpfer zusammentrafen, krachten und zersplitterten die Schäfte, aber Dietrich wurde gleich seinem Vorgänger hart zu Boden geworfen. Er sprang indessen sogleich wieder auf und griff zur blanken Waffe. Der Schwertkampf war fürchterlich. Die Könige bluteten schon aus schweren Wunden, und es schien den Zuschauern, als ob beide sich gegenseitig fällen würden. Da stürzte plötzlich zwischen die blitzschnell geschwungenen, mörderischen Klingen der ungerüstete Laurin, ohne Furcht vor dem drohenden Tod. Er umschlang den König Walberan und flehte, daß er Frieden mache. Fast gleichzeitig umfaßte Hildebrand den zornigen Berner, und die Bitten der beiden Friedensboten bezwangen den wilden Mut der erbitterten Streiter. Sie senkten die Schwerter und gaben ihre Zustimmung zur Sühne.
So wurde die Kriegsfahrt in eine friedliche umgewandelt, und die Könige bestätigten bei frohem Festmahl den Bund des Friedens. Dann erhob sich der Berner Held und redete vieles zum Lob des treuen Gesellen Laurin, der mit Gefahr seines Lebens den Kampf geschlichtet habe, dem er deshalb seine Herrschaft in den Bergen und seinen Rosengarten als frei und eigen zurückerstatte. Als er so gesprochen hatte, trat Königin Virginal mit der schönen Künhild ein, legte deren Hand in die Laurins und sagte, die würdigste Belohnung für die Treue des Herrn der Berge sei die Hand seiner Königin, die künftig mit ihm den Rosengarten bewohnen wolle, wenn ihr Bruder Dietleib seine Zustimmung gebe. Dieser erhob keinen Einwand, und mit dem Fest des Friedens wurde zugleich die Hochzeit gefeiert. Als im Maimond des folgenden Jahres die Rosen wieder blühten, erhob sich durch die Hände der kunstreichen Zwerge im Rosengarten ein Wunderpalast, den mancher Hirte und Alpenjäger schon gesehen hat, der aber für neugierige Menschenkinder unsichtbar ist. Laurin, der reiche Zwergenkönig, und die liebliche Künhild sollen noch jetzt zuweilen in den Tälern von Tirol sich zeigen und treue, liebende Burschen und Mädchen beschenken, daß sie den Ehebund schließen und ihren Haushalt gründen können. Und wenn ein solches beglücktes Paar am frühen Morgen oder des Abends beim Geläut der Feierglocken auf einer Alpenhöhe weilt, so sieht es den Rosengarten an der Grenze des ewigen Schnees und darin den Palast, glühend vom Schein der auf- oder untergehenden Sonne.
Wunderbar! Die Natur hat wieder eine Seele, die Alpen glühen und das Reich der Alben ist wieder lebendig. Ja, das vermag die Vernunft mit der menschlichen Körperlichkeit und ihrer Seele durch die Kraft wahrer Vergebung, Versöhnung und Liebe zu erreichen. Wieder eine Erfahrung des „Sieg-Friedens“ auf dem langen Weg der wachsenden Vernunft. Weiter so!
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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen |