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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Am Abend saßen die Helden zu Bechelaren beim Gelage, der edle Markgraf Rüdiger zur Rechten von Dietrich und Meister Hildebrand zur Linken im Kreis der übrigen Gesellen und Recken. Der goldene Becher ging herum, man erzählte von bestandenen Abenteuern, und nachdem Hildebrand von Kriemhilds Rosengarten und seinem Kampf gegen König Gunther geschwärmt hatte, ergriff Rüdiger das Wort und erzählte eine Geschichte von König Etzel, in dessen Reich er nun glücklich lebte:
Diese Geschichte, die uns nun die Vernunft über das wachsende Hünenreich von König Etzel im Gegensatz zum verfallenden Kaiserreich von Ermenrich erzählt, wurde vor allem als Walthari-Lied in lateinischer Sprache aus dem 10. Jahrhundert überliefert. Als Autor gilt der Mönch Ekkehard von St. Gallen, zu dem es eine Zeichnung gibt, wie er in der Waldeinsamkeit auf einem hohen Berg sitzt und die Dichtung niederschreibt, also nicht in einem Skriptorium hinter Klostermauern, sondern in der wilden Natur vor einem Kreuz aus rohen Baumstämmen:
„Formulierender Geist in formulierter Natur mit abgesetzter Tarnkappe“
Quelle: Wikipedia Waltharius
Vielleicht sitzt er sogar auf seinem Wasgenstein und hat diese Geschichte in sich selbst erlebt und gekämpft, die er dann der Menschheit zum Gedenken in Versen aufgeschrieben hat. So lautet auch der letzte Vers:
Hochweiser Leser du, schenke meinem Werk Gnade!
Wohl gleicht mein rauher Reim dem Sang nur der Zikade,
Doch für das Höchste ist mein junger Sinn erglüht.
Gelobt sei Jesus Christ! - So schließt Waltharis Lied.
Wilhelm Wägner konnte dieser Geschichte offenbar nicht allzuviel abgewinnen und hat sie nur kurz nacherzählt, weil sie als Schlacht am Wasgenstein im Nibelungenlied erwähnt wurde. Wir haben versucht, diese Nacherzählung mit den alten Quellen zu erweitern und aus geistiger Sicht zu deuten. Dabei konnten wir wieder eine sehr tiefgründige Symbolik finden, über die man viel nachdenken kann und zu der wir einige Gedanken niederschreiben möchten.
Als Etzel das Reich der Hünen mit tapferer Hand gewonnen hatte, war er der mächtigste König in allen Landen. Da gedachte er, noch andere Reiche zu erobern. Er fuhr daher mit unzählbarem Heer aus und rückte bis an die Grenze von Frankenland. In Worms am Rhein traf er auf einen fränkischen König, den man aufgrund seiner Freigebigkeit auch Gibich nannte. Er verfügte zwar über mächtige und berühmte Recken, doch seine Schatzkammer war wegen seiner Großzügigkeit nur mäßig gefüllt, weshalb an kostspielige Kriege nicht zu denken war. So beriet er sich mit den Seinigen und folgte ihrem Rat, daß ein Bündnis mit den Hünen das Beste wäre. Dafür wollten sie reiche Schätze und Königszins zahlen und auch eine Geisel stellen, die als Pfand des Friedens zu Etzel ziehen sollte. König Etzel war mit diesem Friedensvertrag einverstanden, doch forderte er natürlich ein Königskind als Geisel. Weil aber der junge Gunther noch nicht von der Mutterbrust entwöhnt war, übergab man Hagen von Tronje, einen sechsjährigen Knaben aus des Königs Verwandtschaft. Und alle freuten sich, in diesem ungleichen Kampf Land, Leben und Frieden in Burgund am Rhein gerettet zu haben.
Danach zog König Etzel mit seinem Heer weiter ins Frankenland. Sie durchschwammen die Saône und kamen nach Chalon (heute Burgund in Frankreich), wo König Herrich seine feste Burg hatte. Sein einziges Kind war die junge Hildegund, im weiten Reich von Burgund an der Saône das schönste aller Mägdelein, die nach Gotteswillen einst seine Erbin sein sollte. Als die übermächtigen Hünen mit Etzel an der Spitze näherkamen, hatte der König durch Boten bereits erfahren, wie der Frieden im rheinischen Burgund bewahrt wurde, obwohl sie über mächtige und weitberühmte Recken verfügten. Da wollte er kein Narr des Krieges werden, sondern lieber sein einziges Kind als Unterpfand für den Frieden opfern. Barhäuptig und ohne Waffen schickte er seine Gesandten König Etzel entgegen, der sie höflich empfing und sprach: „Mehr als Krieg taugt Bündnis. Auch ich bin ein Mann des Friedens, nur wer sich meiner Macht töricht entgegenstemmt, wird die Leiden des Krieges erfahren. Darum gewähre ich gern die Bitte eures Königs.“ Darauf schritt der König selbst durch das Tor seiner Burg und übergab die vierjährige Königstochter mit reichen Schätzen. So wurde der Frieden beschworen, und er wünschte der schönen Hildegund alles Gute.
Nachdem Vertrag und Treuebündnis geschlossen waren, ging die Heerfahrt von König Etzel weiter nach Westen. Im Land Aquitanien (heute im Südwesten Frankreichs an der Grenze zu Spanien und der Atlantikküste) herrschte König Albhard mit starker Hand, der mit König Herrich gut befreundet war. Sein junger Sohn hieß Walther, und die beiden Könige hatten sich mit Eid geschworen, daß ihre Kinder Hildegund und Walther später heiraten sollten. Als das übermächtige Heer anrückte, kämpfte Alphard mit sich selbst im Herzen, doch folgte er schließlich dem Beispiel der Könige Gibich und Herrich und schickte Gesandte, um den Frieden zu erbitten und dafür seinen fünfjährigen Sohn als Friedenspfand zusammen mit reichen Schätzen anzunehmen.
Walther und Hildegund reiten mit den Hünen in ihr Reich
Froh des Gewinnes kehrte König Etzel mit reicher Beute wieder heim an die Donau. Dort pflegte der König die verpfändeten Knaben, als ob sie seine eigenen Kinder wären, und so auch Königin Helche das Mägdelein. Die Pfleglinge wuchsen unter solcher Obhut trefflich heran. Hagen und Walther wurden in den Künsten von Krieg und Frieden gelehrt, ihr Arm bezwang bald den stärksten Gegner und ihre Klugheit den klügsten Gelehrten. So liebte der König die beiden heranwachsenden Helden sehr und stellte sie bald an die Spitze seiner Heere. Die erblühende Hildegund wurde ein Liebling der Königin, wuchs an Tugend reich und bewies bald so viel Geschick und Treue, daß ihr sogar die Aufsicht über die Schatzkammer der Königsburg anvertraut wurde. Nur wenig fehlte, und sie wäre die Höchste im Reich geworden, denn was sie wünschte, wurde sogleich erfüllt.
So lesen wir nun, mit welchem Geist König Etzel sein Reich als „Weideland“ für die Hünen bzw. wahrhaften Helden ausbreitete, was uns im Prinzip auch an den germanischen Odin als göttlichen bzw. ganzheitlichen Allvater erinnert. Auf den ersten Blick wird es uns natürlich abschreckend erscheinen, daß man Kinder von ihren Eltern trennt und als Friedenspfand weggibt. Doch aus geistiger Sicht geht es hier um „Königskinder“, die König Etzel übergeben werden, um sie im „Weideland“ der Hünen als wahrhafte Helden entsprechend auszubilden und für ihre Rolle als Könige und Königinnen im Sinne einer friedlichen und wahrhaften Herrschaft vorzubereiten. Dazu ist dieses Reich der Hünen auch mehr ein geistiges Reich, das zwar anfangs weit außerhalb in der Ferne erscheint, aber dann in das Innere des Menschen kommen sollte, wie auch die Kinder zurückkehren werden. Und jeder vernünftige König sollte bereit sein, diesem ganzheitlichen Wesen Tribut zu zahlen und die eigensinnige Vorstellung von „Eigentum“ in sich selbst zu überwinden.
Entsprechend können wir hier im großzügigen Gibich als Vater von Gunther den König Dankrat wiederfinden, den wir auch in der Nibelungensage in der Rolle der Vernunft erkannt haben. Gunther wäre dann der heranwachsende begriffliche Verstand in einem Menschen, der sich zur ganzheitlichen Vernunft entwickeln sollte. Der Name Gunther läßt sich aus „gund“ für Kampf und „heri“ für Heer ableiten und bedeutet damit der „Heerkämpfer“, der mit dem Heer der Gedanken kämpft.
Eine ähnliche Rolle spielt dann Walther als „Heerführer“, der mit dem Heer waltet. Der Name seines Vaters Albhard erinnert an einen „starken Naturgeist“, und sein Land Aquitanien erinnert über lateinisch „Aqua“ an ein Reich am Wasser bzw. Meer oder über lateinisch „Aquila“ an einen Adler als König der Vögel, der sich mit seinen mächtigen Schwingen hoch erheben kann.
An der Saône bei Chalon finden wir dann ein zweites Burgund, das hier sicherlich nicht zufällig als Gegensatz zum Burgund am Rhein benutzt wird, denn während der Rhein als Fluß des Lebens nach Norden in die zunehmende Dunkelheit fließt, fließt die Saône in gegensätzlicher Richtung nach Süden in das zunehmende Licht. Der Name Burgund läßt sich von „Burg“ für Körper und „gund“ für Kampf ableiten und erinnert damit an die kämpfende Körperlichkeit, die um ihr Leben und Überleben kämpft, und das in unterschiedliche Richtungen, wie wir noch lesen werden. In Burgund an der Saône herrscht der König Herrich als „Reichtum des Heeres“. Seine Tochter Hildegund wäre dann „die im Heer kämpfende“, also die Seele der Natur als verursachendes Prinzip, die sich ebenfalls auf dem „Weideland“ der Hünen entwickeln und nach erfolgreichem Kampf und Sieg über das Ego mit der Walther-Vernunft verheiratet und vereint werden soll, wie auch Siegfried und Kriemhild in der Nibelungensage. Denn diese Einheit von Geist und Natur kann nur bestehen, wenn das trennende Ego-Bewußtsein nicht mehr herrscht.
Nun heißt es aber, daß der junge Königssohn Gunther noch zu sehr an der Mutterbrust hing, und dafür wurde der junge Hagen in das Weideland der Hünen geschickt, den wir in der Nibelungensage als herrschendes Ego kennengelernt haben, abgeleitet vom altdeutschen „hag“ als Umzäunung für ein abgetrenntes Bewußtsein. Doch warum hat ihn König Etzel angenommen und ebenso stark gemacht wie Walther? Warum läßt Gott den Teufel wachsen? Ja, um solche tiefgründigen Fragen zu beantworten, wurden solche langen Geschichten geschrieben und gelebt. Natürlich hat auch das Ego seine Rolle in der Welt zu spielen, und es gab wohl Ursachen dafür, die in Gunthers Mutter symbolisch angedeutet werden, welche in der Nibelungensage Ute heißt, was auch „Erbin“ bedeutet. In diesem Erbe steckt auch die berüchtigte Erbsünde, also ein trennendes Ego-Bewußtsein, das den Menschen von der Ganzheit bzw. Gottheit trennt.
Entsprechend können wir nun lesen, wie die Vernunft erkrankt und stirbt, wenn das Ego gestärkt und der Verstand nicht vernünftig, sondern gierig wird, und was dann weiterhin geschieht:
Nach einiger Zeit erkrankte und starb Gibich, der großzügige König zu Worms, und sein Sohn Gunther folgte ihm auf den Thron, der im jugendlichen Übermut und Stolz auf seine mächtigen Recken das Bündnis mit den Hünen kündigte und weiteren Königszins verweigerte. Als Hagen davon erfuhr, floh er aus dem Hünenland heimlich zu seinen Landsleuten nach Worms. Andere berichten, daß er mit Geschenken für seine Dienste vom König entlassen wurde. Königin Helche war darüber betrübt und befürchtete, daß auch Walther bald fliehen würde, der mittlerweile der stärkste Held im Reich war. Sie versuchte, den König zu überreden, daß er ihn im Hünenland seßhaft mache und durch Heirat mit einer edlen Hünendame binde. Der König sprach mit dem jungen Walther, doch der wollte sich auf diese Weise nicht binden lassen und antwortete: „Oh König, dies ist eine zu große Würde und Bürde. Werde ich an Frau, Haus und Hof gebunden, kann ich Euch nicht mehr mit ganzer Kraft dienen. Darum bitte ich Euch, mir die Freiheit zu lassen.“ Das gefiel dem König, er war damit zufrieden und wußte nun, daß er Walther niemals verlieren würde.
Hier können wir nun lesen, wie im Hünenreich gleichberechtigt einerseits die weibliche Natur als Seele und Prinzip der Verursachung und Bindung herrscht, und anderseits der männliche Geist als wirkendes Wesen, der die Freiheit hat, sich binden zu lassen oder auch nicht. Gunther will sich als begrifflich-gieriger Verstand nicht an das ganzheitliche Reich der Hünen binden lassen, und bindet sich damit an das herrschende Ego. Und Walther will sich als vernünftiger Verstand nicht im Hünenreich binden lassen, damit er der Ganzheit dienen kann, und vereint sich dann später mit der reinen Seele der Natur. Ja, darüber kann man viel nachdenken, was der Unterschied zwischen Bindung und Vereinigung ist, und warum der König diesen Helden nie wieder verlieren kann. Man sagt ja nicht umsonst: Trennung ist Tod, Bindung ist Leben, und Vereinigung ist Überleben.
Bald darauf wurde das Hünenreich von einem feindlichen Volk angegriffen. Der König stellte ein angemessenes Heer zusammen und ernannte Walther zum Heerführer. Dazu verlieh er ihm eine vorzügliche Rüstung, die Wielands Werk gleichkam, und ein Schwert, das Mimung überlegen war. Beide bewährten sich in der wilden Schlacht, so daß der Feind in die Flucht geschlagen wurde und Walther als Sieger mit reicher Beute in den königlichen Palast zurückkehrte. Da wurden Siegesfeste gefeiert, und er selbst diente am letzten Festtag als Wirt, während Hildegund die Becher füllte und den Zechern freundlich reichte. Auf Wunsch des Königs sang sie darauf zur Harfe:
»Von dem Lande tönet, Lieder,
Wo die Treue wohnt,
Wo die Liebe, rein und bieder,
Kühne Recken lohnt.
Heilige Heimat, teure Erde,
Wo mich einst die Mutter lehrte.
Meine Gedanken ziehen fort
Ewig hin nach diesem Ort.
Hören dort den Waldbach rauschen
Unter lebendigem Erlengrün,
Sehen am See die Sterne lauschen,
Wo die süßen Rosen blühn
Und die Lieben einsam weilen,
Freudig jetzt entgegeneilen
In den friedumfangnen Raum;
Ach, es ist ein Traum!
Wüsten, Klüfte, wilde Banden,
Blanker Schwerter Blitz
Trennen grausam die Verbannten
Von der Ahnen hohen Sitz;
Doch die Maid in ihrem Harm,
Sie vertraut dem starken Arm
Eines Helden. Sieh ihr Leid,
Guter Held, und sei bereit!«
Die hünischen Recken und Etzel selbst waren schon trunkenen Mutes und begriffen nicht den Sinn des Liedes. Nur Helche verstand die Jungfrau, und war traurig, daß Hildegund durch die liebevolle Pflege ihr nicht ganz zu eigen geworden war, und beschloß, ihre Fürsorge zu vermehren, aber zugleich ein wachsames Auge auf sie zu richten, damit sie nicht mit Walther entweiche. Denn dieser war nunmehr der tapferste Held im Hünenland, dessen Schwert man ungern entbehrte.
Es war aber noch ein anderer im Saal, der den Gesang gehört und verstanden hatte, und der war eben der junge Walther. Er fand Gelegenheit, sich mit der Sängerin heimlich zu beraten, da er ja wußte, daß sie einander versprochen und auch tief im Herzen in Liebe zugetan waren. „Schlafe nicht diese Nacht!“, sagte er zu ihr: „Schleiche in die dir anvertraute Schatzkammer und nimm aus der siebenten Truhe alles Gold und Silber, so viel du tragen kannst. Es ist der Schatz, den unsere Väter den Hünen zahlten. Fülle das reiche Gut in zwei Kisten und schaffe sie unter die Torhalle. Daselbst findest du mich mit gesattelten Rossen bereit zur Flucht. Wir werden schon weit genug sein, ehe die trunkenen Hünen erwachen.“ So taten die Beiden und entkamen aus dem Palast, da der König niemals die Tore schließen ließ. Als die Morgensonne aufging, verließen sie die vielbefahrene Heerstraße und nahmen ihren Weg durch die wilden Wälder. Nur ungern trieb Hildegund ihr Roß weiter, denn hier war es so schön, der sanfte Wind trug liebliche Düfte heran, die mächtigen Bäume rauschten wie Meereswellen, und die Vöglein sangen fröhliche Lieder. Nur das Heimweh drängte sie weiter. Auch des nachts kehrten sie in keine Herbergen ein, sondern lagerten in Klüften und unter Bäumen. Sie fanden reichlich Nahrung an jagdbarem Wild, Vögeln und Fischen, welche Walther mit Speeren, Netzen und Angeln zu erbeuten wußte.
Spät am Morgen erwachte der König als erster, hielt seinen Kopf und fluchte dem würzigen Wein. Dann ahnte er, was geschehen war, und rief nach Walther, doch die Diener fanden ihn nicht. Bald darauf erschien die Königin und beklagte, daß Hildegund verschwunden war. Da wußten sie, was geschehen war. Der König wurde von Unruhe ergriffen und berief seine Recken, um die beiden zu suchen und zurückzubringen. Doch so viel er auch Gold und Gut bot, keiner war bereit, sich mit Walther im Kampf anzulegen. Da fanden sich König und Königin damit ab, daß nun die beiden ihre eigenen Wege gingen.
Was war das für ein Schatz, den ihre Väter gezahlt hatten, und den sie nun wieder mit sich nahmen? Hier können wir aus geistiger Sicht wieder an das Gold der Wahrheit und das Silber der Lebenskraft denken, die sie aus dem Reich der Hünen in das Reich der Körperlichkeit mitnehmen, wo sie einst geboren wurden. Und das natürlich nicht umsonst, denn sie haben dort eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, weshalb sie in das Hünenreich geschickt wurden und nun zurückkehren, von ihren Vätern, Familien und Völkern erwartet. Ihre Reise wird tiefsinnig beschrieben, wie Hildegund als Seele die Natur liebt, und Walther in der Natur für ihre Nahrung sorgt. Die zwei Kisten erinnern uns an die Wahrheit und Lebenskraft für Vernunft und Seele bzw. Geist und Natur, die auf das Pferd der Seele geladen werden, um ins körperliche Reich zu reiten und dort die Trennung zu überwinden, zu heiraten und sich zu vereinen. Der würzige Wein, der die Hünen berauscht und betäubt hatte, erinnert uns an das Schicksal im Lauf der Welt, zu dem die Seele die Schicksalsharfe spielt und ihre Liebeslieder singt. Und deshalb war wohl König Etzel auch beruhigt, als keiner die Kraft fand, sie zurückzuholen, denn so wußte er, daß dies der Weg war, den sie gehen sollten:
Nachdem die Sonne vierzigmal auf- und untergegangen war, kamen die beiden Flüchtlinge bis zum Rhein, nicht weit von Worms entfernt, wo sie einen Fährmann fanden, der sie übersetzte. Walther bezahlte ihn mit den prächtigen Fischen, die er zuletzt in einem Quellteich im tiefen Wald gefangen hatte, aber kehrte nicht in Worms bei König Gunther ein, weil er demselben mißtraute. Der Held tat klug daran, daß er sogleich weiter nach Wasgengau eilte, der Heimat zu. Denn als der Fährmann dem König die goldschimmernden Fische brachte, erkannte dieser, daß sie nicht aus dem Rhein, sondern anderwärts herkamen. Er fragte, von wem er sie bekommen hatte, und wie der Mann die Flüchtlinge beschrieb, sagte Hagen, der zugegen war: „Das ist der kühne Walther, mein lieber Heergeselle bei den Hünen, und die schöne Hildegund, die mit ihm aus dem Hünenreich geflohen ist.“ Der Fährmann sprach ferner von zwei schweren Kisten, die nach Gold- und Silbermünzen klangen und die Flüchtlinge mit sich führten. „Vorzüglich!“, rief Gunther: „Das ist die Schatzung, die voreinst mein Vater den Hünen geben mußte. Die soll der Held uns erstatten oder das Leben lassen!“ Vergebens riet Hagen ab und erklärte, er werde nicht gegen seinen Heergesellen streiten. Der König ließ sogleich elf mächtige und kampferfahrene Krieger auf die Pferde steigen, setzte Hagen an ihre Spitze und verfolgte mit ihnen die Spur der Entflohenen, wie ein König mit zwölf Jägern ein Wild.
Indessen gelangte Walther mit der geliebten Jungfrau in das Gebirge des Wasgengaues (Vogesen) und zu der höchsten Kuppe, dem Wasgenstein, wo er zwischen zwei Felsen eine Kluft fand, deren Zugang so eng war, daß er Jungfrau, Schatz und Rosse auch ganz allein gegen viele verteidigen konnte. Hier wollte er ausruhen und eine Weile schlafen, da er sich während der Flucht nur selten eines friedlichen Schlafes erfreut hatte. Er bat die Jungfrau mit ihren weitsichtigen Augen, zu wachen und achtzuhaben, ob nicht etwa feindliche Gesellen sie überfallen und berauben wollten. Er hatte noch nicht lange geruht, da sah Hildegund Schilde und Helme blinken. Sie rief den Helden wach und sagte erschrocken, die Hünen seien gekommen, sie wieder in Gefangenschaft zu führen.
„Hier sind keine Hünen“, sagte er, „hier sind die Burgunden vom Rhein.“ Er stand auf und trat gerüstet an den Eingang der Schlucht. Hildegund fürchtete sich vor den vielen blinkenden Lanzen der Angreifer und bat: „Oh mein Held, ich flehe dich an, bevor ich in feindliche Hände falle und mich ein anderer Mann raubt, schlage mir das Haupt ab!“ Doch Walther antwortete: „Fürchte dich nicht! Fern sei es mir, mit schuldlosem Blut mein Schwert zu beflecken. Es hat mir bisher sicher gedient und wird uns auch heute bewahren.“
Daß Walther und Hildegund auf ihrem Weg in die Heimat einen so großen Umweg nehmen und bei Worms am Rhein vorbeikommen, zeigt bereits deutlich, daß es auch in dieser Geschichte nicht um geographische Orte geht, sondern um symbolische Bedeutungen. So erinnert uns der Name Wasgenstein an das altdeutsche Wort „wasga“ oder „waske“ für Wäsche bzw. Reinigung. Im weitesten Sinne könnte man sogar an den berühmten Stein der Weisen als Inbegriff für das reine Bewußtsein denken, denn wer sich auf diesen Stein zurückzieht, kann natürlich niemals besiegt werden, geschweige denn getötet. Dazu paßt auch die Symbolik von der engen Kluft zwischen den Felsen der Gegensätze, die sich hier alle ausgleichen, die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft, Mein und Dein, Dies und Das. Wahrlich, der Zugang ist so schmal, daß keine zwei nebeneinander dahin kommen können, doch nur hier ist das Leben wirklich sicher. Wie es auch in der Bibel heißt: »Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis abführt; und ihrer sind viele, die darauf wandeln. Und die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt; und wenige sind ihrer, die ihn finden. (Matth. 7.13)« Hier sollte man natürlich aufpassen, denn mit dieser Enge ist nicht das Bewußtsein gemeint, sondern der weltliche Weg. Wie auch der Fluß des Lebens mit der Zeit immer breiter und mitreißender wird, weshalb man auch zur Quelle gehen soll. Das ist der schmale Weg zum höchsten Gipfel des himmlischen Lichtes, im Gegensatz zu den breiten Wegen ins tiefe Tal der höllischen Dunkelheit. Auf diesem Weg kämpft Walther als wachsende Vernunft natürlich auch mit dem Schwert der Weisheit, das in manchen Sagen auch „Waske“ genannt wird und dem „Mimung“ von Wittich als Schwert der Trennung weit überlegen ist.
Die goldigen Fische erinnern uns dann an die wahre Lebenskraft aus der unerschöpflichen Quelle, mit der man auch den Fluß des Lebens überquert und aus der geistigen in die körperliche Welt kommt. Auf dieses symbolische Gold und Silber als Wahrheit und Lebenskraft aus dem Reich der Ganzheit hat es dann auch der gierig-begriffliche Gunther-Verstand abgesehen und will sich diese aneignen und festhalten. So jagt er nun mit seinen Gesellen und dem Ego an der Spitze der Vernunft hinterher, um sich deren Schätze und sogar die Seele der Natur anzueignen, was natürlich für ein körperliches Leben in gewissem Maße auch nötig ist. Die Frage ist nur: Auf welche Weise?
Als König Gunther mit seinen Recken den Hufspuren gefolgt war und den jungen Helden dort erblickte, sprach Hagen noch einmal: „Das geht nicht gut aus! Zu oft habe ich Walther im Kampf erblickt, wie er manch wackeren Recken ins Grab brachte. Ich weiß, wie gut er Speer und Schwert handhabt, und dazu noch im Schutz dieser Felsenburg.“ Doch der gierige Gunther ließ sich nicht warnen, sondern sprach stolz: „Wahrlich, du redest wie mein Vater! Auch der kämpfte viel lieber mit der Zunge als mit dem Schwert.“ Daraufhin entsandte er einen Recken mit der Forderung, die Schätze und auch die Jungfrau auszuliefern. Walther erbot sich, einen ganz mit Gold und Silber gefüllten Schild zu übergeben, wenn man ihm freie Reise vergönne. Aber der König beharrte auf seiner Forderung, und daher mußte der Kampf entscheiden. Doch die Kämpfer konnten nur einzeln in die Kluft hinaufsteigen. Sie griffen mit unterschiedlichen Kampfarten und Waffen an, je nach ihrer Neigung und Fähigkeit, mit Lanzen, Spießen und Speeren, mit Pfeil und Bogen, Schwert, Streitaxt, Enterhaken, Schlinge und Steinen. Doch wie man ein lautes Wort gegen einen mächtigen Felsen ruft und dessen Echo zurückkehrt, so kehrten auch ihre tödlichen Waffen zurück, und dazu gebrauchte Walther noch Speer und Schwert nach hünischer Weise, so daß einer nach dem anderen vor den gierigen Augen des jungen Königs durchbohrt, geköpft oder erschlagen wurde. Sie konnten dann zwar den Enterhaken in Walthers Schild bohren und zogen zu dritt mit aller Kraft am Seil, aber der junge Held stand festverwurzelt wie die Weltenesche. Da ergriff auch König Gunther das Seil, und die Burgunden vom Rhein zerrten, daß ihnen der Schweiß lief, bis sie ihm den Schild entreißen konnten. Doch auch ohne Schild besiegte er die letzten drei Recken, die sich in ihr eigenes Seil verwickelten und auch in die Schlinge, mit der sie ihn binden wollten.
So lesen wir nun aus der Sicht von Gunther, wie er nicht mit einem Teil des Schatzes zufrieden war, sondern alles haben wollte, sogar die Seele der Natur. Ja, so versucht der begriffliche Verstand mit seiner Verkörperung alles zu ergreifen und ein Ganzes zu werden, aber unabhängig von der Ganzheit, gegen die er ankämpft, um das Ganze zu erobern. Das ist natürlich absurd und kann für den Verstand nicht gut ausgehen, wie auch Mephisto in Goethes Faust sprach:
Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt
Gewöhnlich für ein Ganzes hält -
Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war
Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar
Das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht
Den alten Rang, den Raum ihr streitig macht,
Und doch gelingt's ihm nicht, da es, so viel es strebt,
Verhaftet an den Körpern klebt.
Von Körpern strömt's, die Körper macht es schön,
Ein Körper hemmt's auf seinem Gange;
So, hoff ich, dauert es nicht lange,
Und mit den Körpern wird's zugrunde gehn.
(Goethe, Faust I)
Selbst wenn die Vernunft ihm alles geben wöllte, der begriffliche Verstand kann es doch als ein Teil nicht empfangen, wie er auch die reine Seele niemals gewinnen kann. Denn dazu müßte er zur ganzheitlichen Vernunft werden, wofür er eigentlich in das Reich von Etzel als Friedenspfand für den großen „Sieg-Frieden“ gegeben werden sollte. Doch nun steht er hier im Kreis seiner zwölf „Krieger“ und muß zusehen, wie einer nach dem anderen im Kampf gegen die ganzheitliche Vernunft getötet wird, weil der Tod wie ein Echo aus dem reinen Bewußtsein zurückkommt. Denn das Bewußtsein wirkt wie ein Spiegel, und wer töten will, muß auch getötet werden. So geschieht es auch in diesem Kampf: Wer die Vernunft töten will, tötet nur sich selber und kann niemals den Stein der Weisen erobern. Wie auch Goethe sagt:
Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Toren niemals ein;
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.
(Goethe, Faust II)
Die zwölf Krieger erinnern uns natürlich an die zwölf Kämpfer, die in Kriemhilds Rosengarten kämpften und auch im Nibelungenlied aufgezählt werden, und die jeder Mensch in sich selbst finden kann als Verstandes-Konstrukte und „Krieger“, um etwas zu kriegen. In diesem „Walther-Lied“ werden vor allem ihre Kämpfe und Waffen beschrieben. Die ersteren erinnern mehr an geistige Kräfte, wie die fünf Sinne oder auch Gedächtnis, Intuition und Phantasie. Und später erscheinen mehr körperliche Kräfte, wie die körperlichen Handlungsorgane. Der begriffliche Gunther-Verstand steht dann als persönlicher Wille in ihrem Kreis wie der Zeiger einer Uhr und schickt eine Kraft nach der anderen in den Kampf, die dann im Laufe der Zeit vergehen, bis es sozusagen „kurz vor Zwölf“ ist:
Der starke Hagen stand immer noch seitwärts und kämpfte nicht mit. Zwar zuckte seine Hand nach dem Schwert, als er Freunde und Verwandte unter den Streichen des furchtbaren Helden fallen sah, aber er zog es nicht. Der König befahl ihn darauf selbst in den Kampf, doch er weigerte sich, warf ihm seinen gierigen Übermut vor und riet zum Rückzug. Nun war Gunther angesichts der zehn toten Recken so verzweifelt, daß er seinen Helm abnahm, sich weinend vor Hagen niederkniete und flehentlich bat, ihm zu helfen, weil er lieber sterben als sieglos heimkehren wollte. Das gefiel dem Tronjer Recken, er überlegte und machte den listigen Vorschlag: „Wir sollten uns zum Schein zurückziehen, und am Morgen, sobald die Flüchtlinge ihre Reise fortsetzen, können wir gemeinsam auf offener Heide den kühnen Helden angreifen. Dann kannst du unter meinem Schutz mit dem Schwert kämpfen und deine ganze Macht zeigen. Denn solange Walther seine Felsenburg hat, könnte er wohl allein das ganze Heer der rheinischen Burgunden schlagen.“ Das deuchte dem König wohlgeraten, und er legte sich mit Hagen in den Hinterhalt.
Was wäre wohl geschehen, wenn auch das Hagen-Ego in diesem Kampf gestorben wäre? Doch Hagen war im Reich von Etzel, hat die Macht der ganzheitlichen Vernunft kennengelernt und wird sich hüten, direkt gegen sie zu kämpfen. So weiß das Ego intuitiv, daß sich die Vernunft nur mit Hinterlist und Illusion besiegen läßt, zumindest scheinbar für den begrifflichen Verstand, der mittlerweile immer mehr verzweifelt war, weil er zwar Großes gewinne wollte, aber sich zunehmend in einer toten Welt im Kreis des Todes wiederfand, tote Sinne, tote Intuition, tote Phantasie, und auch der Körper wird zu einer toten Maschine. Kommt uns das bekannt vor? Macht nicht auch unsere moderne Wissenschaft die Welt mehr und mehr zu einer toten Welt, in der das geistige Leben nur noch ein winziges Randphänomen ist? Und zu wem flüchtet sich der Verstand in seiner großen Angst, sein stolzes Selbstbild zu verlieren? Nicht zur Vernunft, sondern zum Ego, das sich nun freudig zum Beschützer und Herrscher über den König aufschwingt und zur Hinterlist rät, während die Vernunft mit der reinen Seele aus diesem „Burgund am Rhein“ fliehen muß, das vom Ego-Verstand beherrscht wird.
Und dieses ganze Spiel können wir im Folgenden auch aus der Sicht der Vernunft lesen:
Die beiden Flüchtlinge brachten die Nacht, abwechselnd Wache haltend, ohne Störung zu. Walther hatte keine Angst vor den Burgunden vom Rhein, nur vor Hagen scheute er sich, denn er kannte dessen hinterlistige Macht aus manchem Kampf und fürchtete, er habe sich nur zurückgezogen, um frische Krieger zu holen. Als auch am frühen Morgen kein Feind in Sicht war, schaute sich Walther um und sah die zurückgelassenen Leichen liegen. Er wandte sich ihnen zu, und fügte jedem Rumpf das Haupt wieder an. Danach sank er im Licht der aufsteigenden Sonne knieend zur Erde und betete mit dem blanken Schwert in der Hand:
»Oh Schöpfer dieser Welt, der alles lenkt und richtet,
Nach dessen Gebot sich hienieden alles schlichtet,
Hab Dank, daß ich heute mit deinem Schutz bezwungen
Der ungerechten Feinde Waffengewalt und böse Zungen!
Oh Herr, der du die Sünden austilgst mit starken Armen,
Doch nicht den Sünder selbst - dich fleh' ich um Erbarmen:
Laß diese Toten hier zu deinem Reich eingehen,
Daß ich am Himmelsthron sie möge wiedersehen.«
Dann dachte er über sich nach und beschloß, noch bis morgen in dieser Felsenburg zu warten, damit der König nicht prahlen könne, er sei wie ein feiger Dieb bei Nacht und Nebel aus ihrem Land entflohen. Er legte Rüstung und Waffen ab, stärkte sich am Zuspruch der Jungfrau sowie an Trank und Speise, lagerte sich auf sein Schild und erholte sich im wohlverdienten Schlaf, um für weitere Kämpfe gestärkt zu sein, während Hildegund Wache hielt. Bis weit in die Nacht saß und wachte Hildegund am Haupt ihres Geliebten und verscheuchte mit Gesang den Schlaf von ihren Augen. Dann erwachte Walther mit neuer Kraft, ließ die Jungfrau schlafen, rüstete sich und wachte mit dem Speer in starker Hand. Doch es kam niemand. Die Nacht war verflossen, der Morgen dämmerte, leichter Tau fiel auf Büsche und Blätter, und bald drangen die ersten Sonnenstrahlen durch den Wald. Da ging er zu den Toten, um die sich offenbar niemand mehr kümmern wollte, zog ihnen die Rüstungen aus und begrub sie, so gut er konnte, mit den herumliegenden Steinen. Dann trieb er die übriggebliebenen Rosse der Toten zusammen, belud sie mit Rüstungen, Waffen und sonstiger Beute, und bald verließen sie auf sechs Rossen die sichere Wasgenstein-Burg und ritten mutig hinunter ihres Weges.
So lesen wir nun aus geistiger Sicht, wie sich die Vernunft in der Stille am Stein der Weisen erholt und stärkt, und sich dann um die Leichen kümmert, sie wieder zusammenfügt und zum Himmelsthron ins ewige Leben erhebt. Die vier übriggebliebenen Pferde der Toten können uns an die vier Elemente von Erde, Feuer, Wasser und Wind erinnern, die er mit den Rüstungen und Waffen der Körperlichkeit belädt und mit sich nimmt, um in sein Vaterland im Reich der Körperlichkeit zurückzukehren.
Sie waren noch nicht weit gekommen, da wurden sie plötzlich auf offenem Feld von zwei gewappneten Männern angegriffen. Walther erkannte die Wegelagerer. Er dachte nicht an Flucht, sondern schickte Hildegund zum Schutz in ein nahgelegenes Wäldchen, sprang vom Pferd und bereitete sich zum Kampf. Als die beiden näherkamen, fragte er Hagen: „Warum kommst du mir jetzt als Feind entgegen? Waren wir nicht Freunde in Etzels Reich?“ - „Ja“, erwiderte Hagen, „doch nun hast du in meiner Gegenwart Freunde und Verwandte getötet, die Treue gebrochen, und dafür mußt du sterben!“ Mit diesen Worten hob er seinen eisernen Speer und schleuderte ihn mit ganzer Kraft gegen Walther, der nicht ausweichen konnte, doch seinen Schild schräg entgegenhielt, womit er ihn ablenkte, so daß er tief in die Erde drang. Daraufhin warf auch König Gunther seinen schweren Eschenspeer, so gut er konnte, aber Walther ließ ihn mit Leichtigkeit am Schild abprallen. Nach diesem unglücklichen Anfang schwangen sich Gunther und Hagen von ihren Rossen und zogen gemeinsam die blanken Schwerter zum Angriff. Sie griffen den jungen Helden von zwei Seiten an, aber er war gewandt, wich aus, sprang bald zur Rechten, bald zur Linken, und zerhieb endlich dem König die Beinrüstung, so daß die Klinge tief bis auf den Schenkelknochen drang. Der König fiel, doch als Walther den Todesstreich tätigen wollte, fuhr Hagen mit seinem Kopf dazwischen, und das Schwert traf funkensprühend seinen Helm. Der Helm hielt stand, aber Walthers Schwert zerbrach daran in zahllose Trümmer, von denen ein scharfer Splitter tief in das rechte Auge von Hagen fuhr. Dieser bäumte sich im Schmerz auf, und schwang halbblind sein Schwert wütend im Kreis. Da war nun Walther einen Moment unachtsam, denn in ihm regte sich der Zorn über sein zertrümmertes Schwert und er überlegte, den goldenen Griff wegzuwerfen. Als er dann seine rechte Hand zum Wurf ausstreckte, wollte es das Schicksal, daß Hagens Schwert mit wütender Kraft den Arm traf und durch die Rüstung hindurch bis auf den Knochen schlug.
Was blieb nun übrig von den dreizehn Burgunden der Körperburg am Rhein? War der Ego-Verstand der einzig lebendige Kern dieser Verkörperung, der sich über jede Vernunft erheben und sie am liebsten töten will, weil sie nicht macht, was er will? So spielt nun die Geschichte weiter mit den drei Hauptrollen von Vernunft, Verstand und Ego im großen Kampf des Lebens. Und wir lesen, wie Ego und Verstand im Spiel der Gegensätze die Vernunft angreifen, um sich deren Schatz anzueignen. Das geschieht auf dem „offenen Feld“ der Natur, wo der Ausgang des Kampfes wieder offen ist, nachdem die reine Seele in den Wald der Vorstellungen geschickt wurde. Daß sie von ihren Pferden sprangen, erinnert uns daran, daß dieser Kampf mehr in der geistigen Welt geschieht, denn die körperlichen Krieger sind ja bereits tot. Der Schwächste im Kampf ist natürlich der begriffliche Verstand und verliert zuerst sein rechtes bzw. wahrhaftes Standbein. Daraufhin versucht die Vernunft, den Verstand zu töten, was wohl ein entscheidender Fehler war, denn sie trifft damit nur den Ego-Kopf, und der trägt einen mächtigen Helm, an dem das Schwert der Weisheit zersplittert. Ja, die ganzheitliche Vernunft sollte niemals töten, denn Tod ist ein Bewußtsein der Trennung, und damit zerteilt sich auch die Weisheit, die dann dem Ego die rechte bzw. wahrhafte Sicht raubt. - Darüber kann man viel nachdenken, daß es im Grunde die Vernunft als Ganzheit selbst sein muß, die dem Verstand mit dem Schwert der Weisheit das wahre Standbein und dem Ego mit einem Teil der Weisheit die wahre Sicht raubt. Und damit verwirft sie natürlich ihre Wahrhaftigkeit als goldenen Schwertgriff und verliert ihre Macht zum rechten bzw. wahrhaften Handeln. Erstaunliche Symbolik!
So waren die drei Recken kampfunfähig und konnten nichts Besseres tun, als sich vertragen. Denn keiner hatte in diesem Kampf etwas gewonnen, sondern nur verloren: Ohne sein rechtes Bein, konnte König Gunther nicht mehr stehen, ohne sein rechtes Auge, war Hagen halbblind, und ohne seinen rechten Arm, konnte Walther nicht mehr fechten. Nun trat Hildegund hinzu, die bisher ängstlich dem Kampf zugesehen hatte, und verband die Verwundeten. Gemeinsam hoben Walther und Hagen den König auf sein Roß, und die rheinischen Burgunder zogen wieder nach Worms. Walther und Hildegund erreichten ohne weitere Hindernisse das Burgund an der Saône, feierten in Aquitanien ihre Hochzeit, vereinten die beiden Reiche, und nachdem die väterlichen Könige gestorben waren, regierten sie als deren Nachkommen das Volk weitere dreißig glückliche Jahre. Denn Walthers rechter Arm wurde von Hildegund wieder geheilt, die von Königin Helche die Macht der Heilung empfangen hatte, während Gunther bis an sein Lebensende auf dem rechten Bein hinkte und Hagens rechtes Auge blind blieb.
Ja, es ist ein Teil der göttlichen Weisheit, die den Verstand hinken läßt und das Ego halbblind macht, so daß es immer nur eine Seite sehen kann. So herrscht nun in Burgund am Rhein weiterhin der Ego-Verstand und will sich dann auch der vollkommenen Siegfried-Vernunft nicht unterordnen, um wieder wahrhaftig zu werden, sondern tötet sie hinterlistig, wie wir im Nibelungenlied erfahren. Die Vernunft von Walther muß sich noch weiter entwickelten, um wahrhaft „walten“ zu können, und so finden wir ihn bei Kaiser Ermenrich im Wettkampf mit der vernünftig-menschlichen Körperlichkeit von Dietleib wieder, dessen Freigebigkeit und Macht der Vergebung er noch unterlegen war. Von Ermenrich zog er sich dann zurück, als das Kaiserreich jämmerlich verfiel. Schließlich heiraten Walther und Hildegund als Vernunft und Seele in der mystischen Hochzeit und vereinen damit auch die beiden Reiche von Geist und Natur als Grundlage für den „Sieg-Frieden“ eines wahrhaft glücklichen Lebens, so daß sich auch das Etzel-Reich der wahrhaften Helden immer weiter ausbreitete. Fast schon ein Happy-End!
So erzählte der edle Markgraf Rüdiger aus vergangenen Zeiten, wie das Reich von König Etzel gewachsen war und sich verbreitete hatte. Alle hörten aufmerksam zu, und Dietrich tröstet sich, in diesem Reich der Hünen zu sein, wünschte, den ruhmreichen König selbst zu besuchen, und hoffte, hier die nötige Hilfe zu finden, um sein Vaterland wiederzugewinnen.
Groß und weitherrschend war König Etzels Macht, nachdem die Wilkinenmänner überwunden und Osantrix unter Wildebers Schwert gefallen war. Jetzt saß er im reichgeschmückten Königssaal inmitten seiner fürstlichen Helden, und Königin Helche, die treue Gefährtin in seinem vielbewegten Leben, an seiner Seite. Er hatte durch Botschaft alles erfahren, was sich mit seinem hilfreichen Genossen, dem Berner Dietrich, begeben hatte, und erwartete ihn unter Rüdigers Geleit. Er wußte die Macht der Berner Helden wohl zu schätzen, und deswegen empfing er sie mit großen Ehren, als sie reich gerüstet in blanken Rüstungen eintraten. Dietrich erhielt einen Sitz neben der Königin. Was ihn aber am meisten tröstete, war das Versprechen, daß die ganze Macht der Hünen ihm zu Gebote stehen solle, damit er sein geliebtes Bern wiedergewinne. Dies war nach der Flucht der erste Freudenstrahl, der in die Nacht seines Kummers drang.
Die Becher wurden gefüllt und fleißig geleert, die Harfen der Sänger erklangen, die Recken waren frohen Mutes. Da erschien an der Pforte eine Frau in reichem Gewand, das Haupt verschleiert. Sie blickte sich im Saal um und trat alsbald vor König Etzel. Als sie nun den Schleier zurückschlug, erschien keine irdische Frau, sondern eine himmlische Erscheinung, denn ihr holdseliges Angesicht erstrahlte von überirdischem Glanz. „Frau Sälde (die Selige, Beseligende)!“ riefen mehrere Stimmen. Und sie war es, die oft den Helden in ihrer Not erschien und Hilfe brachte. Sie erhob flehend die Hände zum König und bat ihn, ihr einen Helden auszuwählen, der sie gegen ihren Verfolger, den schrecklichen Wunderer, beschütze. Ehe der König antworten konnte, vernahm man gräßliches Geheul von Rüden. „Sie kommen!“, rief die Frau: „Verschließt alle Tore! Der Wunderer ist nah!“ Etzel versuchte, sie zu beruhigen und versicherte, in seinem Haus würden die Tore niemals verschlossen, weil Bittende immer Zutritt hätten und kein Feind einzutreten wage. Indessen möge sie unter den anwesenden Recken einen Kämpfer auswählen, der ihren Verfolger bestehen könne. „Ich habe die Gabe, das innerliche Wesen und Denken der Menschen zu erkennen. Da sehe ich nur zwei Männer, die so kühn sind, daß sie vor dem Unhold nicht erschrecken.“ Indem Frau Sälde diese Worte sprach, trat sie zuerst auf Rüdiger zu, aber der weigerte sich höflich, denn es sei im Saal noch ein anderer anwesend, der dazu würdiger und mächtiger ist. Da wandte sie sich an Dietrich.
Während der Berner seine Bereitwilligkeit erklärte und von dem Hochsitz herunterstieg, hörte man bereits das schauerliche Geheul ganz in der Nähe. Gleich darauf stürmte der Wunderer mit seinen Bestien in den Saal, und letztere stürzten sogleich auf die Frau los, wälzten sich aber alsbald, von des Helden Schwertstreichen getroffen, in ihrem Blut. Der Unhold berührte mit dem Scheitel fast das Gewölbe. Sein weites Maul glich einem Löwenrachen und war blutrot, wenn er es aufsperrte und die langen Zähne zeigte. Er führte mit seinem ungeheuren Streitkolben einen Streich nach dem Helden und zerschmetterte eine eherne Säule, als derselbe auswich. Der Kampf war entsetzlich anzusehen, aber endlich gelang es dem König, den Riesen zu fällen. Mit zerspaltener Brust stürzte er brüllend zu Boden und verendete. „Mein Segen ruht auf dir, tapferer Kämpfer“, sagte Frau Sälde: „Du wirst immer siegreich sein, wie schwere Kämpfe du auch noch zu bestehen hast.“ Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, verschwand sie vor allen Augen wie ein Sonnenstrahl, wenn die Königin des Tages niedergeht.
So flüchtete nun die Dietrich-Vernunft mit den treugebliebenen Gesellen und seiner Macht der Demut aus dem verfallenen Kaiserreich in das geistige Etzel-Reich, dem „Weideland“ für wahrhafte Helden, um hier Hilfe und neue Lebenskraft zu finden. Und im großen Saal am Königshof empfing er auch sogleich eine große Hilfe, nämlich den unvergleichlichen Segen, immer siegreich zu sein. Diese Gewißheit des Sieges ist mit das Größte, was die Vernunft erreichen kann, also nicht irgendwann in Zukunft zu siegen und Sieger zu werden, sondern immer Sieger zu sein, denn das ist das wahre Wesen der Vernunft als reines Bewußtsein mit ganzheitlicher Sicht. Wie auch der alte Spruch andeutet:
Das Leben ist Kampf. Sieh zu, daß du Sieger bleibst!
Ja, dafür ist der Kampf des Lebens da, um diesen großen Segen als innerlichen „Sieg-Frieden“ zu erreichen, der als ewiger Sieg auch ewiges Leben bedeutet. Und dafür muß man den Kampf gegen eine Riesen-Kraft gewinnen, die diesen Segen für sich beansprucht und mit Gewalt erlangen will. Hier können wir den Ego-Verstand wiederfinden, der diesen Sieg-Segen mit seinen bissigen Jagdhunden der begrifflichen Gedanken jagt und sich als Beute aneignen, einverleiben und in sich hineinfressen will. Das ist der mächtige Wunderer bzw. Zauberer, der erst Wunder zaubert und sich dann wundert, wenn sie wieder verschwinden, wie für ihn auch jeder Sieg vergänglich ist und immer neue Kämpfe nach sich zieht.
Auf das Toben des Kampfes folgte tiefe Stille. Erst der Schrecken, dann die Freude über den Sieg des unbezwinglichen Helden und das Staunen über das Verschwinden der wunderbaren Frau machte die ganze Versammlung stumm. Nur allmählich erholte man sich und beglückwünschte den Berner, daß er die kühne Tat vollbracht hatte. König Etzel umarmte ihn und versicherte abermals, die ganze Macht der Hünen solle ihm zu Gebote stehen, daß er sein Reich wiedergewinne.
Nun können wir uns noch fragen, warum Rüdiger diesen Segen nicht erreichen konnte? Vielleicht lagt es daran, daß er sich im Hünenland als Markgraf an Frau, Haus und Hof binden ließ und diese Bindung nicht (wie Walther) verweigerte, um nach Spanien zurückzukehren und das Reich seines Vaters zu gewinnen, aus dem er vertrieben wurde. So wurde er dann auch am Ende der Nibelungensage im Kampf besiegt und getötet, vermutlich sogar in diesem Königssaal, wo Dietrich seinen Sieg-Segen erhielt.
An die dem Berner verheißene Hilfe war vorerst nicht zu denken, im Gegenteil, der König war niemals des Beistandes bedürftiger als in der nächstfolgenden Zeit. Waldemar nämlich, ein Bruder des erschlagenen Osantrix und Beherrscher aller Reußen, bot seine ganze Macht auf und brachte auch die Wilkinenmänner in Waffen, um mit einem Schlag das Reich der Hünen zu überwältigen. Da bedurfte man der Berner Schwerter, und Dietrich verweigerte sie nicht. Auf seinen Rat kam man dem Feind zuvor und rückte in Reußenland gewaltig ein, ehe noch alle Heerhaufen versammelt waren. Man traf bald auf den übermächtigen Feind, die Heerhörner riefen von beiden Seiten und die Schlacht entbrannte. Waldemar stritt gegen Etzel, brachte ihn nach wütendem Kampf zum Weichen und verfolgte ihn, daß die Hünen bald die Flucht ergriffen. Auf der anderen Seite kämpfte Waldemars Sohn, der auch Dietrich hieß, ein kühner und streitbarer Held, gegen die Berner und die ihnen zugesellten Hünen. Beide Anführer trafen in wildem Getümmel aufeinander. Die Schwerter blitzten, das Blut quoll den Kämpfern unter den Panzerringen hervor, doch gelang es dem Berner, seinen Gegner zu fällen. Der tapfere Jüngling jammerte ihn, und er nahm ihn gefangen. Seiner eigenen Wunden nicht achtend, kämpfte er fort, denn Waldemar war von der Verfolgung zurückgekehrt und die ganze Wucht des Gefechtes ballte sich nun um die Berner und ihre Genossen. Dietrich und seine Gesellen bahnten sich einen blutigen Weg durch die Feinde und erreichten, von der Nacht begünstigt, eine feste Grenzburg. Daselbst nahmen sie Herberge, aber des Morgens erblickten sie schon die Banner der Reußen, die sich auch bald um das Kastell sammelten. Die Belagerten fanden innerhalb der Mauern wenig Vorräte, und daher drohte der Hunger ihr gefährlichster Feind zu werden.
Hier kann man nun darüber nachdenken, inwieweit Dietrich selbst diesen Angriff der Reußen verursacht hatte, wie wohl auch Frau Sälde und der Wunderer für ihn in den Saal der Etzel-Burg gekommen sind, um den Sieg-Segen zu geben, den er sich verdient hatte. So wirkt das Spiel der Verursachung im Reich der Natur, denn als er den Wunderer bzw. Ego-Verstand getötet hatte, mußte dieser Sieg natürlich wieder einen Kampf nach sich ziehen, wie jeder Tod als Echo im Bewußtsein wirkt, eine Welle verursacht und sich nun in Gestalt der Reußen gegen ihn wendet. Ja, deshalb sollte die Vernunft niemals töten. Bis dieses Problem des Tötens und damit auch der Trennung und des Verlustes gelöst ist, wird sich der Sieg-Segen zwar immer mehr bewähren, aber kein vollkommener Sieg-Frieden sein. So muß nun Dietrich die Wirkungen seiner Tat ertragen und sitzt in einer belagerten Körperburg im Land der Reußen fest. Der Name Reußen ist eine altdeutsche Bezeichnung für Russen, doch erinnert uns hier auch an eine Reuse, ein trichterförmiges Netz, mit dem man Fische in der Strömung fängt, wie nun auch Dietrich im Strom von Ursache und Wirkung in dieser engumlagerten Burg gefangen war.
Vergebens blickten die bedrängten Krieger von den Türmen herab nach den Feldzeichen der Hünen, das Häuflein schien gänzlich vergessen. Da entschloß sich der kühne Wolfhart, in einer dunklen Nacht das Belagerungsheer zu durchbrechen, um dem getreuen Rüdiger Nachricht zu bringen. Er zündete mit einem Feuerbrand mehrere Zelte und Baracken an und entkam glücklich, während die Reußen den Brand zu löschen versuchten. Sobald der Markgraf die Botschaft vernommen hatte, sammelte er zahlreiche Heerhaufen und rückte schleunigst zum Kampf heran. Die Reußen, von der langen Belagerung ermüdet, zogen ab, und die Besatzung wurde befreit. Die Helden erreichten mit dem gefangenen Reußen-Dietrich die Etzel-Burg, wo sich indessen der kampfmüde König von den Beschwerden erholt und in Freuden gelebt hatte. Mit großen Ehren empfing er die kühnen Helden und tröstete sich beim festlichen Gelage über den unglücklichen Feldzug.
Durch den Sieg-Segen war natürlich Dietrichs Sieg sicher, nur Wolfhart als angeborene Körperlichkeit war ungeduldig und litt wohl auch am meisten unter dem Hunger in der Körperburg. So traute er dem Segen seines Herrn nicht und suchte bei einer anderen Vernunft Hilfe, bei Rüdiger als „Speer der Ehre“, dem es natürlich eine Notwendigkeit der Ehre war, dem Freund helfen zu müssen. Etzel schien dagegen wenig helfen zu wollen, denn zum einen vertraute er dem Sieg-Segen, und zum anderen war er als „Schirmherr“ zwar ein Übervater, aber keine Übermutter, die alles beherrschen und „im Griff“ haben will.
Die Namen Waldemar und Dietrich als Führer der Reußen sind sicherlich auch nicht zufällig und erinnern uns an Dietmar, den Vater des Berner Dietrichs, und daß er hier praktisch gegen sich selbst kämpft, auf der „Diet“-Seite als Mensch mit Verstand und Vernunft, und auf der „Wald“-Seite als Wald der Vorstellung einer äußerlichen Natur und auch Vernunft, weil die Vernunft ein ganzheitliches Bewußtsein auf beiden Seiten ist. Das wird hier trefflich symbolisiert. Glücklicherweise hatte er den Reußen-Dietrich nicht getötet, sondern gefangengenommen. Doch auch das war noch keine Endlösung, noch kein „Sieg-Frieden“:
Er wurde indessen bald aus seinem Freudenleben aufgeschreckt, da Waldemar von neuem im Anzug war, um seinen Sohn zu befreien. Während des Feldzugs entkam der Reußen-Dietrich seiner Haft, aber der Berner, der seiner Wunden wegen zurückgeblieben war, setzte ihm nach. Als der junge Held trotz aller guten Worte nicht umkehren wollte, erschlug er ihn im Kampf. Doch hatte er dabei neue Wunden empfangen, welche ihn ans Schmerzenslager fesselten, und Königin Helche („die Heilende“) bemühte sich wieder um deren Heilung. Der Feldzug lief übrigens noch unglücklicher ab als der vorherige. Selbst Meister Hildebrand wurde von einem tüchtigen Recken vom Pferd geworfen, und nur der unverzagte Markgraf, der ihn mit Schild und Schwert bedeckte, rettete ihm das Leben. Der alte Waffenmeister klagte, als er zu Dietrich kam, mit herben Worten über Etzels Fluchtfertigkeit und meinte, man müsse anderwärts Hilfe suchen als bei diesem Feigling von König. Sobald jedoch der Berner völlig genesen war, mahnte er den König, die erlittene Schmach in Feindesblut abzuwaschen, und nicht vergebens.
Ohje, nun hat er den Reußen-Dietrich doch getötet und sich damit wieder selbst schmerzlich verwundet, denn eine ganzheitliche Vernunft kann sich auf diese Weise immer nur selbst verletzen. So zweifelt nun auch Meister Hildebrand als Dietrichs vernünftiger Verstand an König Etzel, dessen wahres Wesen wohl nur mit vollkommener Vernunft zu erkennen ist, und möchte ähnlich wie Wolfhart anderwärts Hilfe suchen. Dennoch wirkt der Sieg-Segen, wie hoffnungslos die äußerlichen Umstände auch erscheinen:
Ein allgemeines Aufgebot rief die gesamte Reichsmacht zu den Waffen. An der Spitze eines unzählbaren Heeres, darunter Dietrich selbst, seine Gesellen und Dienstmannen, rückte Etzel in Reußenland ein. Felder und Dörfer wurden eingenommen, doch eine starke Burg leistete beharrlichen Widerstand. Dietrich überließ dem König die Belagerung und rückte weiter vor die Festung Smaland. Daselbst erschien Waldemar mit einem Heer zum Kampf, aber der Berner Held wich nicht, sondern griff mit Hildebrand, Wolfhart und Wildeber an der Spitze die Reußen an. Nach wilder Schlacht gelangten sie tief ins feindliche Heer, wo Wolfhart und Wildeber die Ritter niederkämpften, die das Banner beschützten, und Hildebrand schlug dem Bannerträger die rechte Hand ab, so daß das feindliche Banner fiel. Da erhob sich großes Geschrei und Getümmel, und in dieser Verwirrung gelang es Dietrich, den Reußenkönig vom Roß zu stürzen. So fiel Waldemar in der Schlacht, und sein ganzes Heer wurde zerstreut. Da indessen auch Smaland im Sturm genommen war und sich Herzog Iron, der Burgvogt, mit seinem Gefolge ergeben hatte, so stand das Reußenland den Siegern offen. Das Volk war ohne einen König und deshalb unfähig, dem Sieger zu widerstehen. Es unterwarf sich, entrichtete Schatzung, und Etzel ernannte Herzog Iron zum neuen König der Reußen.
Barfuß und barhäuptig schritt Herzog Iron mit seinen Gesellen aus der Burg
(Ego-Verstand ergibt sich demütig mit seiner Körperburg der Vernunft)
Quelle: Germania's Sagenborn, Engelmann, 1890
So zog der Tod des Reußen-Dietrich den nächsten Kampf nach sich, und nach dem Sohn mußte auch der Vater fallen. Damit konnte sich Dietrich aus dem Netz der Reußen befreien, der Sieg-Segen bewährte sich, und das Etzel-Reich wurde erweitert. Wieder war ein Sieg gewonnen, ein „schmales Land“ erobert, ein kleiner Schritt getan, doch auch dieser Sieg wird wohl einen neuen Kampf nach sich ziehen. Wie weit ist es noch bis zum „Sieg-Frieden“?
Nach der Rückkehr wurde zwar Dietrich hoch geehrt, aber von einem Hilfsheer zu seiner Unterstützung war nicht die Rede. Er drang zwar nicht darauf, doch zeigte seine umwölkte Stirne, daß der Unmut in ihm gärte. Nur wenn Herrat, die schöne Nichte der Königin, ihm zusprach, schwanden die Wolken, und er vergaß einige Augenblicke sein geliebtes Bern. Helche, die kluge und wohlgesinnte Königin, beobachtete alles mit scharfem Blick und sprach einstmals zu ihrem königlichen Eheherrn: „Ich weiß wohl, warum du den kühnen Helden von Bern nicht in sein Land zurückführst. Du möchtest ihn gern bei dir behalten, weil dir sein scharfes Schwert Gewinn bringt. Aber sei achtsam, daß du durch den Verzug den Freund nicht verlierst und dir dafür einen schädlichen Feind erwirbst. Wäre es nicht wohlgetan, wenn wir ihn durch Wohltat als treuen Bundesgenossen erwerben könnten! Ich weiß, daß er meine Nichte Herrat liebt und zu heiraten begehrt, und sie scheint ihm gleichfalls zugetan. Wollen wir ihm nicht die Jungfrau und das Land Siebenbürgen übertragen, das sie nun geerbt hat? Denn ihr Vater Rudolf ist im heldenhaften Kampf gegen die Reußen gefallen.“ Dem König dünkte die Rede heilsam, er sprach darüber mit Dietrich, und Helche mit Herrat, und als von beiden Seiten kein Einwand erhoben wurde, feierte man bald Hochzeit. Wenn jedoch der König dachte, er sei nun der Mahnungen zur Hilfsleistung enthoben, so irrte er sich. Denn die junge Frau war hohen Mutes und begehrte, daß der Held von Bern sein Reich wiedergewinne und sein Schwert nicht nur als Dienstmann für die Hünen ziehe. Helche selbst sprach für die Sache mit ihrem Eheherrn, und da mußte dieser endlich seine Zusage zur Ausführung bringen.
So kommt nun Hilfe von einer ganz anderen Seite, und die Vernunft gewinnt die lebendige Seele wieder, die ihm im Niedergang des Kaiserreiches gestorben war, diesmal in der Rolle von Herrat als „Ratgeberin für das Heer bzw. des Kriegers“. Damit konnte Helche als „Heilende“ im Etzel-Reich der Hünen nicht nur die körperlichen Wunden des Kampfes heilen, sondern auch die seelische Wunde. Und das war sicherlich ein überaus wichtiger Schritt für die Vollkommenheit der Dietrich-Vernunft als „Reichtum der Menschen“ und natürlich für den weiteren Verlauf der Geschichte, denn die geistige Wunde muß schließlich der Geist selbst heilen.
Das Land Siebenbürgen kennen wir heute im Zentrum von Rumänien. Der Name wurde wohl nicht zufällig gewählt. Er erinnert an „sieben Bürgen“ für ein äußerliches Land, die aus geistiger Sicht an die fünf Sinne mit Verstand und Ego erinnern, die uns gewöhnlich verbürgen, daß es da draußen eine körperliche Welt gibt, die natürlich wieder eng mit der lebendigen Seele verbunden ist. Sie erbte das Land von ihrem leiblichen Vater Rudolf als „Wolf der Ehre“ und vereint sich nun wieder mit der Vernunft, um die engen Grenzen der Körperlichkeit zu erweitern und Natur und Geist wieder in die Einheit zu bringen. Damit sorgt sie nun als seelisches Prinzip der Verursachung dafür, daß die Dietrich-Vernunft nicht wie Markgraf Rüdiger im Hünenreich gebunden wird, sondern in das Land der Körperlichkeit zurückkehrt, wo er geboren wurde, um dort seine Aufgabe zu erfüllen…
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
• Dietrichsage: Samson als erster großer König der Amelungen
• Dietrichsage: Dietrichs Kindheit und Jugend
• Dietrichsage: Die Hochzeit mit Virginal
• Dietrichsage: Die Kampfgesellen Heime und Wittich
• Dietrichsage: Die Geschichte von Seeburg, Ecke und Fasolt
• Dietrichsage: Die Gesellen Wildeber, Ilsan und Dietleib
• Dietrichsage: Zwergenkönig Laurin und sein Rosengarten
• Dietrichsage: Mönch Ilsan und Kriemhilds Rosengarten
• Dietrichsage: Die Heerfahrten für Etzel und Ermenrich
• Dietrichsage: Der Fall von Kaiser Ermenrich
• Dietrichsage: Über die Herrschaft von König Etzel
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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen: |