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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Zu Bechelaren wurde haltgemacht, um den Mannen und Rossen Zeit zur Erholung zu lassen. Hier verbreitete die Nachricht vom Tod der jungen Recken große Wehklage. Die Stätte des beglückenden Friedens wurde eine Stätte des Jammers. Man brach daher früher auf, als man Willens war, und erreichte nach mancher mühseligen Tagesfahrt die Etzel-Burg. Dietrich blieb mit Hildebrand in einer Herberge, das Heer aber zog am Palast vorüber nach der jenseitigen Ebene zur Lagerung. Königin Helche sah vom Fenster herab auf die zusammengeschmolzenen Scharen, denen zum Teil die fürstlichen Führer fehlten. Sie erkannte aber auch die Hengste, welche ihre Söhne geritten hatten, sah an Sattel und Decken Spuren von Blut, und eine Ahnung vom geschehenen Unglück stieg in ihrer Seele auf. Da trat Rüdiger in den Saal. Sein Antlitz verriet den Schmerz über seinen und ihren Verlust, bevor er die unglückliche Botschaft in Worten aussprach. Sie weinte und klagte bald sich selbst, bald den Gemahl an, daß er die Heerfahrt vergönnt hatte. Sie fluchte dem Mörder, begehrte sein Herzblut und wollte zu Etzel eilen, daß er von dem Berner das verpfändete Haupt einfordere. Mit Mühe bewog sie der Markgraf, daß sie auf seinen Bericht hörte. Als sie nun alles erfahren hatte, da siegte ihr Edelmut über den Schmerz. Sie ging an Rüdigers Hand in die Herberge, wo Dietrich, in sein Leid versunken, sie nicht eintreten hörte. Sie schlang die Arme um den trostlosen Mann, küßte ihn wie eine Mutter den Sohn und weinte mit ihm um die Verlorenen.
Es gelang der Königin, auch Etzel zur Versöhnung mit dem unglücklichen Berner Helden zu bewegen, so daß dieser wieder am Hofe erscheinen durfte. Die Zeit, die so viele Wunden heilt, linderte auch das Leid des Königs, und Dietrich gewann durch hilfreiche und kühne Taten wieder die Gunst seines Schirmherrn. Nur Helche genas nicht von der Wunde, welche ihr der Tod ihrer geliebten Söhne geschlagen hatte. Sie erkrankte und siechte langsam dem Grab zu. Als sie fühlte, daß die Stunde des Abschieds von aller irdischen Herrlichkeit nahe war, ließ sie Etzel zu sich kommen. „Mein Herr und Gemahl“, sagte sie, „wir haben in unserem ehelichen Leben manche Freude und auch manches Leid gemeinsam bestanden. Nun ist die Zeit gekommen, daß ich von dir gehen muß. Heute nacht, als ich das alles überdachte, hatte ich ein Traumgesicht, das mir ebenso deutlich die Zukunft offenbarte, wie jener Traum vor der Heerfahrt unserer Söhne, den wir aber nicht beachteten. Ich sah unsere Halle reich geschmückt, wie am Tag unserer Hochzeit. Eine schöne, aber blasse Frau saß an deiner Seite. Doch als ich sie recht betrachtete, gewahrte ich, daß nur Haupt, Brust und Arme menschlich, ihr Leib dagegen eine ungeheure Schlange war. Ihr Gewand, das den Schlangenleib zum Teil verhüllte, war nach Weise der Burgunden, so auch die Krone auf ihrem Haupt und das Wappenschild über der Krone. Sie erhob sich vom Thron und winkte mit der Hand. Da fiel ein Feuerstrahl von der Wölbung unter die versammelten Helden, und sie bekämpften und mordeten sich gegenseitig. Die flammende Lohe ergriff den ganzen Saal, und die Helden und sie selbst gingen darin unter. Du aber bliebst mit Dietrich und Hildebrand allein unter Leichen und Trümmern. Höre nun die Deutung des Traumes aus dem Mund der sterbenden Gattin: Du wirst dich nach meinem Abscheiden wieder vermählen. Wählst du eine Frau aus dem Königshaus der Burgunden, dann werden durch sie in dieser Halle deine Recken außer Dietrich und dem alten Meister untergehen.“ Die Königin sprach nicht weiter. Sie reichte dem Gemahl die Hand und verschied.
Warum starb Helche, die „Heilende“, die bisher das Hünenreich Etzels beschützt hatte? Nun, ihre Söhne als Erbe und Gewinn des Hünenreiches wurden vom Ego-Verstand getötet, und so starb auch die Erbin, oder besser gesagt, sie wandelte ihre Form als Seele der Verursachung von der „Heilenden“ zur „Rächenden“, wie es oben auch heißt: „Sie fluchte dem Mörder und begehrte sein Herzblut.“ Diese Vision sieht sie dann auch im Traum. Dort finden wir die Meerfrau als Norne und Schicksalsgöttin in Gestalt einer Nixe wieder, die man früher auch mit einem halben Schlangenleib anstatt Fischschwanz kannte, was der Symbolik als verursachende Seele eigentlich näherkommt. Doch nicht zu verwechseln mit dem Lindwurm oder Ego-Drachen, denn der wurde in ihr von Siegfried selbst besiegt, damit sich Geist und Natur durch die Macht der Liebe wieder vollkommen vereinen konnten. Und diese Liebe ist immer noch da, und zeigt sich nun symbolisch als Geist-Natur in einem Mensch-Tierwesen. So wird sozusagen aus der Wacht-Hilde eine Kriem-Hilde im Wellenspiel von Ursache und Wirkung auf dem Meer der Ursachen.
Etzel war untröstlich über den Verlust der langjährigen, treuen Lebensgefährtin. Das ganze Volk trauerte mit ihm, denn Helche war eine wahre Landesmutter gewesen. Ein ganzes Jahr gab es weder Festlichkeiten am Hofe noch Heerversammlungen. Indessen wurden Wünsche laut, der König möge sich wieder eine Ehegenossin wählen, damit das Land nicht verwaist sei, wenn er ohne rechtmäßige Erben sterbe. Die Wünsche kamen ihm zu Ohren, und vielleicht sehnte er sich selbst, des Witwerstandes überdrüssig, nach einer häuslichen Wirtin. Er beriet sich mit seinen Räten und mit dem geehrten Gast von Bern. Der Letztere meinte, es sei keine Frau in der Welt würdiger, den Thron mit dem großen König zu teilen, als Kriemhild, die Witwe des ruhmvollen Nibelungenkönigs Siegfried. Alle Räte stimmten dem Berner bei, weil die edle Königin jede andere Frau an Schönheit, Tugend und klugem Rat übertreffe. Der König war anfangs wenig geneigt, dem Vorschlag zuzustimmen. Er sprach von dem Traum der sterbenden Helche, aber man erwiderte, Kriemhild sei durch ihre Heirat mit Siegfried aus dem Geschlecht der Burgunden geschieden, und auf sie beziehe sich die Warnung nicht. Sofort wurde Rüdiger mit der Werbung betraut, und er erhielt mit einiger Mühe das Jawort.
Hier kann man nun lesen, wie das Schicksal seinen Lauf nimmt und die Dietrich-Vernunft selbst dazu rät, diesen Weg zu gehen. Und die Rüdiger-Vernunft gewinnt als „Speer der Ehre“ die schöne Kriemhild als neue Ehefrau für seinen König.
Wie danach durch Kriemhild alle Recken, auch die Gesellen des Berner Helden, im furchtbaren Kampf umkamen, wird ausführlich in der Nibelungensage erzählt, auch wie Siegfried geboren wurde, wie er Lindwurm und Drachen erschlug und dadurch unverletzbar wurde, wie er den Schmied Mimer besiegte, der sein Lehrer werden sollte, und sein Schwert selbst schmiedete, wie er den Zwergenkönig Alberich besiegte, den Nibelungenschatz gewann und wieder den Zwergen überließ, wie in Burgund König Gunther herrschte und Hagen als Berater regierte, wie Siegfried dem König Gunther diente und für ihn Brünhild zur Ehefrau gewann, wie Siegfried um Gunthers Schwester Kriemhild warb, wie er sie aus den Fängen des Drachens befreite und heiratete, wie es zum Streit zwischen Brünhild und Kriemhild kam, wie Hagen hinterhältig Siegfried tötete und sich dessen Schwert Balmung aneignete, wie Kriemhild zur Witwe wurde und Rache schwor, wie Markgraf Rüdiger im Auftrag von Etzel um Kriemhild warb, wie Etzel und Kriemhild heirateten und ihr Sohn Ortlieb geboren wurde, wie König Gunther zur Sonnenwendfeier ins Reich von Etzel eingeladen wurde, wie er mit seinen Brüdern Gernot und Giselher und vielen mächtigen Burgundern unter der Führung von Hagen in das Reich der Hünen kam, wie sie dort von Markgraf Rüdiger wie gute Freunde ehrenvoll empfangen wurden, wie er seine Tochter Dietlinde mit Giselher verlobte, Hagen mit dem Schild von seinem getöteten Sohn Nudung beschenkte und Gernot ein mächtiges Schwert verlieh, wie die Burgunder mit Rüdiger zur Etzel-Burg zogen, und wie sie von König Etzel und Kriemhild empfangen und auch von Dietrich ehrenvoll begrüßt wurden.
Danach ist von der großen Nibelungenschlacht ausführlich zu lesen, wie Kriemhild Blödelin, den Bruder von Etzel, für ihre Rache an Hagen gewann und damit die Schlacht begann, in der zuerst Blödelin fiel, wie daraufhin der unschuldige Ortlieb, der kleine Sohn von Etzel und Kriemhild, von Hagen vor aller Augen enthauptet wurde, wie die Schlacht im Königssaal der Etzel-Burg immer grauenvoller entbrannte, wie Kriemhild nur Hagen als Geisel forderte, um die Schlacht zu beenden, aber ihn die Burgunder nicht preisgeben wollten, wie sich nun Rüdiger und Dietrich nicht mehr aus dem Kampf heraushalten konnten, wie Rüdiger von Gernot mit der verliehenen Waffe getötet wurde und seine Gefolgsleute fielen, wie nach und nach alle Burgunder bis auf Hagen und Gunther, sowie alle Gesellen von Dietrich bis auf Hildebrand im wilden Kampf starben, wie Dietrich schließlich selbst in den Kampf zog, Hagen und Gunther überwältigte und gefangennahm, wie Kriemhild Hagen freisprechen wollte, wenn er ihr das Geheimnis vom versenkten Nibelungenschatz in der Tiefe des Rheins preisgebe, wie sich Hagen weigerte, solange sein König Gunther lebt, wie sie daraufhin ihren Bruder Gunther köpfen ließ, aber Hagen trotzdem stolz blieb und sich weiter weigerte, wie sie schließlich selbst das Schwert Balmung ergriff und Hagen vor den Augen von König Etzel enthauptete, wie dies Waffenmeister Hildebrand nicht ertragen konnte und Kriemhild erschlug, wie am Ende von allen Helden neben dem König nur noch Dietrich und Hildebrand übrigblieben, wie die zahllosen Leichen im Hünenreich beklagt und begraben wurden, und wie Siegfrieds Schwert nach Burgund zurückgebracht und in Siegfrieds Totenhügel mit der Botschaft von Hagens Blut zurückgegeben wurde.
Hier kann man nun darüber nachdenken, wie die Seele als verursachendes Prinzip in der Natur arbeitet, und wie der Geist als Ego-Verstand immer wieder die Chance bekommt, sich von der Rache-Wirkung zu befreien, wenn er sich der Vernunft ergibt und der Seele das „Rheingold“ zurückgibt. Denn das ist die Macht der Wahrheit, die der Ego-Verstand aus Furcht vor der Rache im Fluß des Lebens versenkt und verborgen hat. Ja, wahre Hingabe und Vergebung ist eine große Kraft, die das Begreifen- und Festhaltenwollen des Ego-Verstandes an der Wurzel lösen kann. Andernfalls muß er schließlich wie Hagen seine Schuld mit der Gabe seines Lebensblutes bezahlen, zusammen mit allen, die mit ihm verbunden sind.
Die Symbolik solcher allumfassenden Schlachten, wie diese Nibelungenschlacht der „Nibel- oder Nebel-Wesen“, in denen alles Vergängliche und Sterbliche untergeht und nur das Unvergängliche und Unsterbliche übrigbleibt, kennen wir von vielen Kulturen. Denken wir nur an die große Kurukshetra-Schlacht im altindischen Mahabharata, oder auch die Ragnarök-Schlacht von Odin am Ende der Welt. So kann man sich nun fragen, ob auch das Hünenreich von Etzel nur dazu geschaffen wurde, um diese große Schlacht zu kämpfen, damit die Dietrich-Vernunft den Ego-Drachen endlich an der Wurzel besiegen kann, nicht allein und getrennt von anderen, sondern als ganzheitliche Vernunft in einem ganzheitlichen Kampf. Und am Ende bleibt nur das übrig, was nicht sterben kann.
So können wir in der Nibelungensage auch ausführlich lesen, wie die Rüdiger-Vernunft als „Speer der Ehre“ sterben mußte, weil er an seinem verstandesmäßigen Ehrbegriff gebunden war, seine Tochter Dietlinde bzw. Seele als „menschlicher Lebensbaum“ an den Verstand verlobte und sogar den Ego-Verstand mit seinen eigenen Waffen beschenkte, mit dem Nudung-Schild der Gegenwärtigkeit und dem Schwert der Ehre, das ihn schließlich auch tötete. Ja, wenn der Ego-Verstand die Waffen und Rüstungen der Vernunft empfängt und damit für seine eigenwilligen Ziele kämpft, dann kommen harte Zeiten für die Vernunft, und es ist kein Wunder, wenn diese Form der Vernunft vom Verstand getötet wird, der sich damit wiederum nur selbst tötet, so daß am Ende nur das Unsterbliche überlebt.
Dort steht auf hoher Warte noch immer die alte und doch ewig junge Sage. Sie winkt uns, sie deutet nach Osten der Donau entlang, nach dem Land der Hünen, wo die Etzel-Burg mit ihren goldenen Zinnen emporragt. Wir folgen auf den Flügeln der Phantasie ihrem Fingerzeig und erblicken zur Rechten der Burg einen Hügel, von einer mächtigen Säule aus schwarzem Marmor gekrönt. Das Morgenrot spiegelt sich in seiner glatten Fläche und beleuchtet auch die Blumen, die eine sorgsame Hand dahin gepflanzt hatte. Ein Mann im grauen Trauergewand schreitet wankenden Schrittes nach der einsamen Stätte, und wie er da steht, ist es, als wolle er mit seinen starren Blicken bis in das Innere des Hügels dringen. Es ist König Etzel, ohne Krone, ohne Perlenschnur, ohne den goldenen Gürtel um die Hüften. Er war jählings gealtert, denn seine Haare und sein Bart sind in wenigen Tagen eisgrau geworden. „Ja“, murmelt er, „da haben wir sie hingebettet, und mit ihr, mit meiner Königin Kriemhild, ist alle meine Freude und Wonne zu Grabe gegangen. Unser Söhnchen Ortlieb schläft bei ihr, in ihrem Arm, und ich selbst werde wohl bald mit ihnen vereinigt sein. Aber das hat nicht sie getan, die man die Unheilstifterin nennt, das haben die finsteren Nornen so gefügt, die im Verborgenen die Geschicke der Menschen weben.“ Er läßt sich auf einem Rasensitz nieder und versinkt in düsteres Schweigen.
Ja, über König Etzel kann man viel nachdenken. Alle seine dienlichen Verkörperungen hatten sich aufgelöst: Sein Bruder Blödelin als begrifflicher Verstand für die körperliche Welt, seine heilende Helche-Seele, ihre gemeinsamen Söhnen Erp und Ortwin als Erbe und Gewinn im Kampf, und dann auch seine rächende Kriemhild-Seele, sowie ihr gemeinsamer Sohn Ortlieb als die Liebe im Kampf. Sie alle sind wieder ins Meer der Ursachen eingegangen und schließen dort ihren ewigen Kreis mit Siegfried, der sein Schwert mit dem Racheblut wieder zu sich genommen hatte. Damit hatte wohl König Etzel seine Aufgabe als „Weideland“, was sein Name bedeutet, und als Schirmherr der Hünen oder wahrhaften Helden erfüllt und kommt im Meer der Ursachen wieder zur Ruhe, ins Schweigen und Schlafen, bis er wieder zum Kampf in der Welt der „Wirklichkeit“ wachgerufen wird. Ähnlich, wie auch die alte Kyffhäuser-Sage (Sage vom „Berg-Hauser“) von König Barbarossa berichtet:
Der alte Barbarossa, · Der Kaiser Friederich,
Im unterirdschen Schlosse · Hält er verzaubert sich.
Er ist niemals gestorben, · Er lebt darin noch jetzt;
Er hat im Schloß verborgen · Zum Schlaf sich hingesetzt.
Er hat hinabgenommen · Des Reiches Herrlichkeit,
Und wird einst wiederkommen, · Mit ihr, zu seiner Zeit.
Der Stuhl ist elfenbeinern, · Darauf der Kaiser sitzt;
Der Tisch ist marmorsteinern, · Worauf sein Haupt er stützt.
Sein Bart ist nicht von Flachsen, · Er ist von Feuersglut,
Ist durch den Tisch gewachsen, · Worauf sein Haupt ausruht.
Er nickt als wie im Traume · Sein Aug halb offen zwinkt;
Und je nach langem Raume · Er einem Knaben winkt.
Er spricht im Schlaf zum Knaben: Geh hin vors Schloß, o Zwerg,
Und sieh, ob noch die Raben · Herfliegen um den Berg.
Und wenn die alten Raben · Noch fliegen immerdar,
So muß ich auch noch schlafen · Verzaubert hundert Jahr.
(Friedrich Rückert, 1817)
Auf der anderen Seite des Palastes erhebt sich ein größerer, noch umfangreicherer Hügel, und dort steht ein Mann in glänzender Rüstung. Es ist Herr Dietrich, der König von Bern, der, so scheint es, seine Heergesellen aus dem Todesschlaf erwecken möchte. „Sie hören mich nicht“, murmelt er wie Etzel vor sich hin, „sie vernehmen nicht mehr die Stimme ihres verlassenen Herrn, mit dem sie in Freud und Leid verbunden gewesen waren. Sie schlafen mit den anderen, die sich feindlich bekämpften. Jetzt hat sie alle das Grab versöhnt und vereint. Aber warum habt ihr mich allein und hilflos zurückgelassen? Wer soll mir nun zur Seite stehen, daß ich mein Amelungenland, mein geliebtes Bern wiedergewinne? Hei, du gutes Schwert, bist mir nun unnütz geworden. Ich will in die weite Fremde gehen und Bettelbrot heischen, bis mich der Tod mit euch zusammenführt. Brich, unnütze Klinge, dein Dienst ist zu Ende!“
Wie Etzel seine Aufgabe erfüllt hatte, so hatte nun auch Dietrich sein Ziel erreicht und den Ego-Drachen an der Wurzel in sich selbst besiegt. Denn er hatte Hagen und Gunther als Ego und Verstand unterworfen und gebunden, sie nicht selbst getötet, sondern der verursachenden Seele übergeben. So hat er dafür gesorgt, daß schließlich die Vernunft siegte und nicht der Ego-Verstand. Dafür mußte er allerdings alle äußerlichen Gesellen opfern, um sie innerlich in sich selbst als ganzheitliche Vernunft zu vereinen, bis auf Hildebrand und Herrat als vernünftiger Verstand und körperliche Seele, die ihn nun zurück in die körperliche Welt führen, wo er die gleiche Aufgabe zu erfüllen hat und mit Sieg-Segen und Sieg-Frieden sein Vaterland der Amelungen erobern soll:
Er zieht sein Schwert, um es zu zerbrechen. Aber da legt sich ein weicher Arm um seinen Nacken, und wie er sich umwendet, blickt er in das Angesicht seiner treuen Gattin Herrat. „Held von Bern“, spricht sie sanft mahnend, „hast du den alten Mut verloren? Wo ist dein gewohnter Heldensinn hingeschwunden? Raste nicht länger rat- und tatenlos im Hünenland, wo König Etzel gebrochenen Mutes keine Heerfahrt mehr rüstet. Zieh ohne seine Hilfe ins Lombarden-Land! Gedenke des Segens der guten Frau Sälde, daß du niemals sieglos sein sollst. Vertraue auf dich selbst, auf dein Recht, auf dein Schwert und nicht mehr auf andere Menschen.“ - „Doch aber auf den getreuen Hildebrand!“, rief der Meister, der ungesehen genaht war. „Der Alte steht zum König von Bern“, fuhr er fort, „und auch der rät zur Heerfahrt, gleichwie die edle Frau hier an der Totenstätte.“ „Herr“, setzte er hinzu, als der Berner seine hochherzige Gattin in die Arme schloß, „Herr, wer solch eine Frau sein eigen nennt, der hat, bei meinem Graubart, einen größeren Schatz, als der Nibelungenschatz ist. Nun aber bringe ich gute Nachricht: Der getreue Eckehart harrt mit seinen Gesellen auf unsere Ankunft in Lombarden, und mein lieber Junge Hadubrand, den ich als Knäblein bei Frau Ute zurückließ, ist ein stattlicher Recke geworden und führt Befehl zu Garden. Er und noch andere Recken werden zu uns stehen. Darum auf nach Lombarden, mag auch der Kaiser Ermenrich zu Romaburg seine Heere aufbieten!“
„Auf nach Lombarden!“, wiederholte der Berner Held, richtete sich auf, blickte seiner hochherzigen Frau ins Angesicht und sprach: „Ich fahre mit Hildebrand nach Bern, mein Amelungenland zu gewinnen oder ruhmvoll zu sterben.“ - „Und ich fahre mit euch“, sagte sie, „um euch zu pflegen auf der mühereichen Fahrt.“ - „Du bleibst in Etzels Hut, bis ich zurückkehre, um dich als Königin heimzuführen. Eine Frau kann nicht mit uns im wilden Schlachtgetümmel das Schwert führen. Sie würde bei unglücklichem Ausgang Schmach erdulden.“ - „Ist es denn das Schwert allein, das den Sieg gewinnt?“, versetzte sie: „Bedarf der Held nicht des klugen Rates, und wenn ihn die Wunde lähmt, der Pflege? Eine Frau führt zwar nicht das Schwert in den Reihen der Kämpfer, aber sie duldet keine Schmach und weiß zu sterben.“ Ein Dolch blitzte in ihrer Hand. „Verstehst du mich?“, fügte sie hinzu: „Es ist der treueste Helfer, der vor Schmach bewahrt.“
Was ist das für ein Dolch der Seele, mit dem sie „zu sterben weiß“? Auch darüber kann man viel nachdenken, wie sich die Seele der Natur als verursachendes Prinzip selbst opfert, um den Geist von der Bindung an die Verursachung zu befreien, so daß auch der Tod selbst verschwindet und für die ganzheitliche Vernunft alles wieder heil, lebendig und gegenwärtig wird.
Er nahm seine traute Liebe in den Arm:
„Du bist der kühnste Held,
Verscheuchst mir Sorg' und bittren Harm;
Nun trotz ich einer Welt.“
Dietrichs Auszug mit Herrat und Hildebrand,
rechts drei Zwerge, die aus dem Quellwasser steigen und sich ankleiden
Der Bund auf Leben und Sterben war geschlossen, und Dietrich nahm Abschied von König Etzel, der in seiner Verdüsterung wenig Teilnahme zeigte. Er fragte nur, ob der Berner seine Mannen im Grabhügel wachgerufen habe? Dann winkte er ihm, zu scheiden, denn er wollte allein sein.
== All-Ein-Sein ==
So bereiteten sich die drei Verbündeten zur Reise nach Amelungenland, wo der König von Bern vor vielen Jahren vom mächtigen Kaiser Ermenrich mit großer Gewalt aus seiner Herrschaft vertrieben worden war. Jetzt wollte der kühne Held mit Meister Hildebrand und Herrat sein Land wiedergewinnen. Der Meister hatte viel von Helfern im ersehnten Land gesprochen, und daher erschien die Hoffnung auf Erfolg nicht eitel. Zwei Lasttiere begleiteten den Zug, das eine mit Mundvorrat und Rüstzeug, das andere mit Gewandung und Schätzen der edlen Frau beladen. Der Ritt über das Gebirge war beschwerlich und ging langsam voran. Der Berner, von Ungeduld getrieben, war oft eine weite Strecke voraus. Als er auf eine Hochebene gelangte, über welche aus steilem Felsen eine Burg emporragte, jagte der alte Meister hinter ihm her und rief: „Herr, haltet Speer und Schwert bereit, denn in dem Felsennest haust ein grimmiger Wolf, der starke Elsung, ein Wegelagerer und Feind der Amelungen.“ Die Warnung war nicht vergeblich, denn der Raubritter brach plötzlich mit seinem Gefolge an Recken aus einer Schlucht hervor. Er forderte höhnisch als Wegegeld Rosse und Rüstungen, desgleichen die rechte Hand und den rechten Fuß der Wanderer. „Rüstzeug, Hände und Beine können wir nicht gut missen“, versetzte Hildebrand, „wir benötigen sie zum Kampf im Amelungenland.“ Da indessen auch Herrat angelangte, so begehrte der Wegelagerer auch die schöne Frau, die ihm wohlgefalle, und die er zur Kurzweil als Ehegenossin auf seine einsame Burg führen wolle. „Auch der herrlichen Frau sind wir bedürftig“, erwiderte der Meister, „dieweil sie auf der Reise für unsere Leibespflege sorgt.“ Der Berner Held hatte indessen den Speer ergriffen und rannte den Wegelagerer kopfüber vom Pferd. Sogleich begann der Kampf mit den Recken, der mit ihrer Niederlage endigte. Der Burgherr selbst wurde gebunden und sollte auf einem der erbeuteten Pferde mitgeführt werden. Da sprach er grimmigen Mutes: „Habt ihr mich geschädigt, so will ich euch üble Nachricht melden. Denn ich erkenne euch wohl, ihr seid Ermenrichs Mannen und kommt aus fernen Landen. Vernehmt denn: Der Kaiser Ermenrich, euer Herr, hatte einst auf Ratschlag seines ungetreuen Marschalks Sibich die schöne Swanhild, seine Gemahlin, von Rossen zertreten lassen. Dafür wurde er nun von deren Brüdern an Händen und Füßen verstümmelt und liegt todkrank darnieder. Wenn ihr nach Romaburg kommt, ist er vielleicht schon gestorben, und der Marschalk wird euch in einem dunklen Verließ Unterkunft verschaffen.“ - „Hei, unverzagter Mann“, rief Dietrich, „du rennst dem Galgen zu, wenn du dein Raubgeschäft nicht aufgibst! Aber uns bist du gegen deinen Willen ein glücklicher Bote. Daher löse man dem Strolch die Bande und lasse ihn laufen.“ - Der frei gelassene Räuber sah verwundert mit offenem Mund den Reisenden nach, die lachend ihres Weges zogen.
Nun lesen wir, wie Vernunft, Seele und Verstand aus dem geistigen Hünenreich in die körperliche Welt zurückkehren, um dort ihre Aufgabe zu erfüllen. Und wie Walter und Hildegund damals zwei Kisten mit Gold und Silber als Wahrheit und Lebenskraft aus dem Hünenreich mitgenommen hatten, ähnlich wurden auch jetzt zwei Lasttiere beladen. Der Weg aus dem geistigen Reich von Etzel führt dann wieder an eine bewachte Grenze, wo man gewöhnlich die Wahrhaftigkeit des reinen Geistes als Wegezoll hingeben muß, um in die körperliche Welt zu kommen, nämlich die geistige Rüstung und Lebenskraft, das rechte bzw. wahrhafte Handeln und den wahrhaften Stand bzw. Verstand, sowie die reine Seele. So könnte Elsan als „Wolf und Burgherr“ wieder die Körperlichkeit symbolisieren, mit seinem Gefolge der Sinne und Gedanken, die an der Grenze zwischen innerer und äußerer Welt wachen, herrschen und durch die Illusion der Trennung dem Geist die Wahrheit rauben. Doch sie konnten von der Dietrich-Vernunft mit dem Hildebrand-Verstand überwältigt und besiegt werden, so daß man die Körperlichkeit gebunden mitführen wollte. Doch als Dietrich erkannte, daß sich nun nach dem Sieg der Vernunft im geistigen Reich die Probleme in der körperlichen Welt wie von selbst im Spiel von Ursache und Wirkung auflösen, verzichtete er auf weitere Bindung und ließ die Körperlichkeit laufen, wie sie eben läuft. Wunderbar! Welches körperliche Wesen kann das verstehen? Starke Symbolik!
Die Straße führte nach einem anderen Burgsitz, wo der mit Hildebrand befreundete Graf Ludwig mit seinem tapferen Sohn Konrad bisher seine Freiheit gegen den Kaiser Ermenrich behauptet hatte. Die Reisenden wurden mit großen Ehren empfangen. Doch verweigerte Dietrich die Einkehr ins Schloß, weil er gelobt hatte, nicht eher unter ein Dach zu treten, bis er sein geliebtes Bern wiedergewonnen habe. Deswegen wurde das festliche Mahl im Freien hergerichtet, und da mundete den werten Gästen und Gastgebern die leckere Kost unter dem grünen Gezweig trefflich, wo die befiederten Sänger ihre Lieder dazu sangen. Frau Herrat selbst füllte den tüchtigen Helden fleißig die Becher mit rotem Südwein. Da gab es fröhliche Reden, heitere Trinksprüche und mancherlei Kurzweil. Das Gelage wurde unterbrochen durch einen Boten vom getreuen Eckehart, der eilends auf schweißtriefendem Roß daher jagte. Er berichtete, Ermenrich sei seinen Wunden erlegen, und der falsche Sibich habe sich der Herrschaft bemächtigt. Derselbe stehe an der Spitze eines zahlreichen Heeres von Söldnern, das er mit den kaiserlichen Schätzen geworben habe, aber alles Volk begehre den König von Bern zum Herrscher in Romaburg. „Das ist gute Nachricht!“, sprach Frau Herrat: „Nun laßt uns wacker sein, daß sich der Spruch von Frau Sälde erfülle. Vernehmt meinen Rat: Der König von Bern, mein Eheherr, reitet mit dem jungen Recken Konrad und begleitet von mir nach der Stadt seiner Ahnen, während der alte Meister mit Ludwig, unserem edlen Gastgeber, nach Garden reitet, wo die Wölflinge, sein Geschlecht, heimisch sind. Wie werden sich seine Frau Ute und sein Sohn Hadubrand der Heimkehr des teuren Mannes freuen! Am großen Heerstrom finden wir uns dann wieder zusammen, und dorthin bescheiden wir auch den getreuen Eckehart mit seinem kühnen Gesellen Hache (Rache). Dann ziehen wir gemeinsam nach Romaburg, um den üblen Marschalk, der sich jetzt Kaiser nennt, zu züchtigen.“ Der Rat der klugen Frau deuchte den Recken heilsam, und sie brachen am folgenden Tag auf, um das große Werk zu vollbringen.
Nachdem sie die Körperlichkeit freigegeben hatten, treffen die drei als Vernunft, Seele und Verstand folgerichtig auch auf eine Körperburg, die sich ihre Freiheit bewahrt hatte. Der Name Ludwig bedeutet „ruhmreicher Kämpfer“, und Konrad der „kühne Ratgeber“, die uns wiederum an Vernunft und Verstand erinnern. Hier wird bereits das Spiel von Vater und Sohn angedeutet, wie sie vereint in einer Körperburg leben, was im Hildebrand-Lied weiter unten noch tiefgründiger thematisiert wird. Doch die Dietrich-Vernunft will in kein „Burg-Schloß“ eingehen, bevor sein Vaterland der Amelungen bzw. der Geschöpfe Gottes wiedergewonnen wurde. So speisen und erholen sie sich unter „freiem Himmel“ im Reich der Natur, wo die Seele den Wein der Illusion von Körper und Materie ausschenkt. Und wieder erscheint ein Bote, der berichtet, wie hier das Schicksal weiter am Sieg-Segen der Dietrich-Vernunft arbeitet, die im geistigen Hünenreich bereits gesiegt hat. So rät nun auch die verursachende Seele, daß der Hildebrand-Verstand mit der Ludwig-Vernunft das Vaterland der Wölflinge gewinnen soll, und die Dietrich-Vernunft mit dem Konrad-Verstand das Vaterland der Amelungen, um danach gemeinsam nach Romaburg zu ziehen, um das verfallene Kaiserreich wieder aufzurichten.
Fröhlichen Mutes trabte der alte Meister mit Ludwig und seinen Mannen nach Garden am glänzenden See. Er erzählte viel von seinen Abenteuern, insbesondere vom schrecklichen Ende der Burgunder. Schmetternde Hörner unterbrachen seine Rede. Als er sich umkehrte, erblickte er wehende Banner, die er wohl kannte. Es waren die Feldzeichen der Hünen, und bald sah er sich inmitten einer Heerschar hünischer Krieger, die des Stillsitzens müde und den Spuren des Berners gefolgt waren. Sie begrüßten jubelnd den alten Meister und schlossen sich dem Zug an. Der Marsch ging weiter durch das Ledrotal an starren Felswänden vorüber, dem Ponalbach entlang, der aus finsterer Schlucht hervorbrechend, brausend und schäumend dem Spiegel des Sees zueilt, wo er Ruhe findet, wie der Held nach mühereicher Bahn in Odins Halle. Da sah man zu beiden Seiten der Straße Aloe aus Felsspalten hervorstarrend, bald auch Oliven- und Maulbeerpflanzungen und das dunkle Laub der Zitronen und Orangen. „Dort“, rief der Alte freudig bewegt, auf die glänzenden Zinnen deutend, „dort ist Garden, meiner Ahnen, der Wölflinge Sitz. Da warten meine liebe Frau Ute und mein Sohn Hadubrand auf mich, den ich als zartes Knäblein vor vielen Jahren verlassen mußte. Da werden wir freudig empfangen werden.“
Er hatte das Wort kaum ausgesprochen, da sah man einen gerüsteten Heerhaufen herantraben, dem der feuerrote Heerschild, das Wahrzeichen des Kampfes, voranleuchtete. Ein Recke in glänzender Rüstung sprengte vor. „Heda!“, rief er, „Kommt ihr Hünen, um unser Feld zu verwüsten? Aber ihr findet uns zur Wehr bereit. Ist nun ein unverzagter Recke unter euch, der mit mir das Schwertspiel Stirn gegen Stirn versuchen will, der trete hervor!“ Von dem nun folgenden Zweikampf sangen die Barden lange Zeit, denn es war ein Kampf zwischen Vater und Sohn.
Ich hörte von Leuten, die der Länder kundig waren, daß sich einst im Feld zum blutigen Kampf zwischen zwei Heeren Hildebrand und Hadubrand mit zornigem Mut herausforderten, herrlich gerüstet, Vater und Sohn, nach Siegesruhm begierig. Um breite Brust schnürten sie die Brünne, daß stark im Streit die Rüstung schirme. Die scharfen Schwerter gegürtet, strebten sie zum Streit. Hildebrand, der greise Krieger, an Weisheit groß, sprach: „Welches Vaters rühmst du dich, junger Recke? Oder welches Geschlechts? Gib schlichte Antwort! Nenne einen der Männer, so weiß ich auch die andren alle. Der Könige kenne ich viele, kund ist mir das Erdenvolk.“ Darauf sprach Hadubrand, Hildebrands Sohn: „Mir sagten Leute, die längst dahingeschieden sind, daß mein Vater in ein fernes Land fuhr. Vor Sibichs Zorn wich der Recke mit Dietrich und wenigen Gesellen weithin ostwärts. In der Fremde darbte er, ein freudloser Mann, der sonst im Kampf vor allen voran stritt, die Fahne zum frohen Sieg führend. So war er kund den kühnen Männern. Doch sie sagten, er sei im Sieg gefallen, die Feinde verfolgend auf feurigem Roß. Ich glaube nicht, daß er noch im Leben weilt.“
Da sprach Hildebrand, Herbrands Sohn: „Ein Verwandter scheinst du mir, mutiger Recke. Nenne deinen Erzeuger, wie sich der Jugend ziemt!“ Mit Hohn antwortete Hadubrand dem Alten: „Wenn du im Staub hingestreckt von meinen Streichen liegst, trugsinnender Dränger, dann trägst du die Geschichte hin nach Helheim, die ich nicht länger hehle.“ Antwort gab Hildebrand, Herbrands Sohn: „Oh Gott im Himmel, du weißt, daß du mich niemals zur Walstatt sandtest, um mit so nahen Verwandten das Schwertspiel zu wagen.“ Er wand vom Arm eine gewundene Spange, die kunstvoll aus Kaisergold geschmiedet war: „Die gab mir gütig der hehre König, der Hünen Herrscher, und sprach huldvoll, daß ich sie dem werten Recken reiche, dem trauten Sohn sendet er die Gabe.“
Darauf sprach Hadubrand, Hildebrands Sohn: „Mit scharfem Speer empfängt man solche Gabe, Spitze gegen Spitze, das ist Sitte, alter Hüne! Listig spähend und mit Rede umspinnend sinnst du, mir den Speer in die Seite zu bohren. Trug sinnst du, Unseliger, so alt an Jahren! Mir sagten Seeleute, die westwärts im Wind weit gesegelt waren, daß der werte Vater fiel, gefällt im Kampf. Tot ist der starke Held!“ Antwort gab Hildebrand, Herbrands Sohn: „Dich zwang in Zwietracht niemals ein Tyrann, als elender Flüchtling der Heimat zu entfliehen. Mir sandte der waltende Gott solches Leiden ohne Verschulden. Ich wurde im Heervolk an die vorderste Front im Kampf gestellt. Bisher fällte mich nicht der Tod im Toben des tödlichen Streites. Doch nun soll das geschwungene Schwert des Sohnes im Blut des Vaters schwelgen! Wie verblendet bist du?! Willst starrenden Stahl mir ins Herz stoßen. Oder ich muß dich morden mit tödlicher Waffe. Versuch es, Geselle, und wirf den Speer! Wenn kriegerische Kraft dich zur Untat kräftigt und es dich recht dünkt, dem verwandten Recken mit raffenden Händen das Rüstzeug zu rauben. Der Feigste im Volk verschmäht ein solches Gefecht. Und du strebst lüstern zum Kampf, um Gewand und Wehre eines Greises zu gewinnen. Doch nur der Allwaltende weiß, wer die Beute gewinnt.“
Da schossen sie in schirmende Schilde die scharfen Speere, Schwerter krachten mit geschwungener Kraft, und zerspaltene Schilde verloren ihren Glanz. Des Meisters Helm klaffte zerhauen, da wandte sich ab, wankend der Held, der nicht morden wollte den jungen Recken. Doch dreht sich nur, und schlägt ihn mit einem harten Schirmschlag anrennend rücklings zu Boden. Mit erhobenem Schwert droht er nun dem gefällten Feind den Tod, wenn er nicht Geschlecht und Namen nenne. Da spricht Hadubrand, Hildebrands Sohn: „Des Sieges ledig durch den listigen Kämpfer, doch nimmer bin ich der Ehre bar, so daß du mir deinen Willen aufzwingen kannst. Hei, gebrauche dein Recht! Schneide mir die Todes-Rune in die Brust, ich schaudre nicht. Oh großer Gott, laß Frau Ute genesen, die harmvoll wartet auf Gatten und Sohn!“ Darauf spricht Hildebrand, Herbrands Sohn: „Du selbst, kühner Recke, bist Sieger geworden. Denn ich, der Alte, nenne mich zuerst. Schau hier, das Ringlein reichte mir Ute als liebliche Jungfrau zur Feier der Vermählung. Du warst und bist unser einziger Sohn, ein herrlicher Held und Herrscher zu Garden.“ Da hob er den Hochgemuten von der Erde, zog ihn an seine Brust und umarmte ihn wie eine Rüstung.
„Bei Gott, Frau Ute, sollst eilends niedersteigen vom Söller, zu schauen den lieben Sohn! Heim kehrt der kühne Held als herrlicher Sieger. Einen Gefangenen führt er, dessen Helm er zerhauen hat, einen alten Krieger mit langem Graubart.“ So mahnte die sorgliche Magd die Herrin. Als Vater und Sohn in den Saal eintraten, freute sich die Frau, des Fremdlings nicht achtend, küßte den Liebling und lobte ihn immer wieder. Dann setzen sich die Männer freundschaftlich an die Tafel, zuoberst der Alte, wie dem Edlen geziemt. Dessen zürnte Frau Ute, und zornigen Mutes begann sie zu schelten, zu schmähen den Sohn, weil er den Gefangenen mit Fülle von Ehren vor anderen Helden im Sitz erhoben hatte.
„Mutter Ute!“, ruft der Recke: „Der Alte bezwang mich im Zweikampf voller Kraft, und doch ist er uns ein Freund, auch zu deiner Freude. Ich denke, du kennst den mächtigen Helden. Hei, biete ihm den Becher, mit neuem Wein gefüllt.“ Frau Ute schaute ihn genauer an: Wie schäumende Wellen floß ihm der graue Bart bis zum Gürtel hinab, und tiefe Narben, vom Schwert gerissen, durchfurchten das Antlitz des furchtlosen Recken. Doch den angetrauten Gemahl konnte sie nicht erkennen. Sie bot ihm den Becher mit zarten Händen, und er leerte ihn mit leuchtenden Augen bis zur Neige. Dann ließ er ungesehen das Ringlein hineinfallen und gab den Becher zurück. Da erblickt und erkennt sie die Gabe der Liebe, die sie einst dem geliebten Gatten verliehen hatte. Nun umfängt sie ihn und hält fest in ihren Armen, den lange Verlorenen und verlassenen Helden, der in friedloser Fremde ein freudloser Mann war. Da sitzen nun beisammen in seliger Wonne die Wölflinge, Vater, Mutter und Sohn. Sie feierten ein großes Fest, dem Alten zu Ehren, der viel Leid erlitten hatte und doch den Sieg gewann.
Die Barden preisen die Helden, wie die Schicksalsgeige spielt
Das „Hildebrand-Lied“ stammt aus dem 9. Jahrhundert und gilt als das älteste germanische Heldenlied, das schriftlich überliefert wurde, aber nur als Bruchstück, bis der Kampf zwischen Vater und Sohn beginnt. Den Rest hat Wilhelm Wägner ergänzt, und zwar in zwei Versionen. In [Wägner 1878] wird der Vater vom Sohn getötet und danach von Ehefrau Ute und Sohn bitterlich beklagt. Wir folgen hier der zweiten Version aus [Wägner 1882], die uns aus geistiger Sicht sinnvoller erscheint, denn auch der vernünftige Hildebrand-Verstand kann in der körperlichen Welt unsterblich werden, wenn sich der Sohn im Vater erkennt und sich Vater, Seele und Sohn wieder vereinen, wie auch Graf Ludwig mit seinem Sohn Konrad als Vorbild dient und Hildebrand zu diesem „letzten großen Kampf“ begleitet. Die endlose Verkettung von Vater und Sohn, der wiederum zum Vater wird, wird bereits im Redespiel angedeutet: Hildebrand, Herbrands Sohn, und Hadubrand, Hildebrands Sohn. In all diesen Namen schwingt die Bedeutung „Schwert und Feuer des Kampfes“ mit, und diese lange Kette von Vater und Sohn kann man bis zum göttlichen Allvater zurückverfolgen und ewig in die Zukunft weiterspinnen, was der gewöhnliche Verstand auch nicht anders begreifen kann. Für die ganzheitliche Vernunft ist diese Verkettung im Grunde nur ein ewiger Kreis um die reine Seele in der ewigen „Nudung“-Gegenwart von Hier und Jetzt, wie im Text auch der goldene Ehering am Grund des Weinbechers der Illusion andeutet.
Ja, diese Symbolik von Vater und Sohn ist schon uralt und auch in der Bibel ein großes Thema, wie Meer, Quelle und Fluß immer zusammengehören und in Wahrheit nicht getrennt werden können. Die große Aufgabe unseres Verstandes in der körperlichen Welt können wir dann darin finden, uns im Vater und seiner Schöpfung der äußerlichen Welt wiederzuerkennen, daß wir schon vor dem Vater da waren und ewig da sein werden. Was man auch die „Wahrheit“ nennen kann, also das, was da war, bevor etwas wurde. Und ja, mit dieser Erkenntnis erhebt sich der Verstand wieder in die Weite und das Licht der ganzheitlichen Vernunft, während er unter der Regierung des Egos in die Trennung, Enge und Dunkelheit fällt.
Wohlgemut zog indessen der Berner Held nach seiner lieben Vaterstadt. Er wurde von den Burgmannen festlich empfangen. Sie hatten die Söldner Sibichs aus ihren Mauern vertrieben und schwuren ihrem alten Herrn freudig den Eid der Treue. Bald kamen viele Könige und Fürsten mit ihren Mannen aus Burgen und Städten des Amelungenlandes. Sie brachten Gold und Rüstzeug und gelobten Beistand gegen den ungetreuen Sibich, der sich zu Romaburg die Kaiserkrone aufs Haupt gesetzt hatte. Auch Meister Hildebrand fand sich mit seinem Sohn ein, verstärkte nicht nur das Heer, sondern erhob auch durch seine Zuversicht das Vertrauen der Kämpfer auf Ruhm und Sieg. Auch die mutige Herrat erinnerte an den Segensspruch von Frau Sälde und begleitete ihren Gatten auf der Fahrt. Sie entdeckte einen Sendling Sibichs, der mit viel Geld aus der kaiserlichen Schatzkammer die Kämpfer zum Treubruch und Verrat verleiten wollte. Dazu kam der tapfere Ludwig, der sich wieder mit seinem Sohn Konrad vereinte, auch der getreue Eckehart mit seinem Gesellen Hache (Rache), und sogar Heime, der in einem Kloster Buße getan hatte, war nach der Kunde von Dietrichs Heimkehr zu ihm geritten, weil er seines Lehnseides durch Ermenrichs Tod ledig war.
Die Heere trafen bald aufeinander, doch wie groß auch die kaiserliche Übermacht war, und wie gewaltig die streitbaren Söldner des ungetreuen Mannes stritten, sie bestanden nicht vor Dietrich und seinen Helden. Sie lösten sich auf, wie der Nebel in der Sonne, und ergossen sich in allseitige Flucht. Eckehart und Hache (Rache) spähten nach dem ungetreuen Sibich und erkannten ihn unter den Flüchtlingen, obgleich er den Schild und alle Abzeichen seiner angemaßten Würde von sich geworfen hatte. Eckehart ergriff ihn, schwang den Feigling auf sein Roß und jagte nach dem Lager. „Gedenke der Herlungen!“, rief er ihm zu, während eilig ein Galgen errichtet wurde. Wohl dachte der tückische Verräter an die Herlungen, die Kinder, die er auf dem Gewissen hatte, an Ermenrich, an alle Opfer seiner hinterlistigen Bosheit, wie auch an die gerechte Strafe, die ihn jetzt mit tödlichem Schlag treffen sollte. Er flehte um das nackte Leben, bot Geld, mehr und immer mehr, nur für einen kurzen Aufschub. Ein Hohngelächter war die Antwort, und der Ruf „Gedenke der Herlungen!“ scholl ihm in den Ohren, bis er am Galgen der Rache baumelnd sein ruchloses Leben endete.
Auch hier zeigt sich, wie sich für die Vernunft nach dem Sieg im geistigen Reich in der körperlichen Welt alle Probleme wie von selbst lösen, wie sich sogar Heime als egoische Körperlichkeit im Kloster gereinigt hatte und zur Vernunft zurückkehrte, denn der Egoismus als größtes Hindernis wurde geistig besiegt und verschwindet damit auch aus der körperlichen Welt.
Die Schlacht war gewonnen. Das siegreiche Heer zog mit dem Helden von Bern an der Spitze unaufgehalten weiter bis nach Romaburg. Überall kamen dem König von Amelungenland die Herrscher und das Volk freudig entgegen. Sie begrüßten ihn als Oberhaupt, und in Romaburg empfing er die Kaiserkrone. Bei dem Gastmahl saß Herrat, die hochherzige Ehegenossin des vielgeprüften Helden, neben ihm auf dem Thron und teilte mit ihm die Ehre, wie sie die Gefahren mit ihm geteilt hatte. Die Spielleute besangen die Taten der Helden zum Saitenklang, die goldenen Becher wurden fleißig geleert, Freude und Jubel rauschten durch den weiten Raum der Halle. Als aber ein Sänger den edlen Rüdiger pries, wie auch Wolfhart, Dietleib, Alphart und andere kühne Helden, da glänzte eine Träne im Auge des Kaisers und rann in den goldenen Becher. Es war der Wermutstropfen, der in den Freudenkelch rinnt, damit sich der Sterbliche nicht seines Glücks überhebe. Die gefallenen Gesellen konnte der Berner Held nicht mehr mit Gütern belohnen, doch die lebenden, die mit ihm gesiegt hatten, beschenkte er großzügig mit Land und Burgen.
Die Dietrich-Vernunft als Sieger auf dem schwarzen Heime-Roß mit Herrat als reine Seele bzw. Frau Sälde (als nackter Krieger symbolisiert??) und dem bärtigen Hildebrand-Verstand im Vordergrund. Neben Dietrich vermutlich Ludwig mit der Siegesfahne auf dem weißen Roß. Im Hintergrund wird das Sibich-Ego erhängt. Unter ihm das Denkmal des Ego-Drachens, der von Siegfried mit dem Schwert der Weisheit besiegt wird, gleich neben dem bärtigen Papst an der mächtigen Säule, der mit Leidenskreuz und Hirtenstab an Etzel erinnert und alles segnet, besonders die Kinder der Vernunft, die das ewige Heldenlied singen.
So kommt nun Dietrich zur Romaburg des Kaisers. Damit haben wir auf der langen Reise viele verschiedene Burgen kennengelernt, von denen wir die wichtigsten noch einmal zusammenfassen wollen:
- Die Etzel-Burg an der Donau im geistigen Reich als „Weideland“ der Hünen und wahrhaften Helden, deren Tore immer offenstehen, und in der die große Nibelungenschlacht der Nibel- bzw. Nebel-Wesen stattfand.
- Die Burg zu Bechelaren an der Donau, wo der edle Markgraf Rüdiger als „Speer der Ehre“ mit seiner Frau Gotlinde und ihren Kindern Dietlinde und Nudung lebte.
- Die Alpen-Burg Jeraspunt, wo die Elfenkönigin Virginal mit ihren Zwergen wohnt und von Zauberern und Riesen bedroht wird.
- Die unbezwingbare Felsenburg auf dem Wasgenstein oder Stein der Weisen, wo Walther und Hildegund kämpften und siegten.
- Die Körperburg als Burgund am Rhein, die vom Ego-Verstand als Hagen und Gunther beherrscht wird, wo die reine Kriemhild-Seele geboren wurde, und wo im Fluß des Lebens der Nibelungenschatz des Rheingoldes versenkt wurde und noch heute zu finden ist.
- Die Treueburg der Herlungen am Rhein, wo der Goldschatz von Diether versteckt war und Eckehart als Pflegevater von Imbreke und Fritele lebte, den beiden Söhnen von Diether, die auf Ratschlag Sibichs von Ermenrich getötet wurden.
- Die Burg des Verstandes am Gardasee als „Garten und See des Gedächtnisses“, wo die körperlichen Wölflinge mit dem vernünftigen Hildebrand-Verstand geboren wurden und leben.
- Die Burg zu Bern, wo die Vernunft geboren wurde und die Amelungen als mächtige Kräfte der Schöpfung leben.
- Die Roma-Burg des Kaisers über die christlich-römische Welt, wo die ganzheitliche Vernunft als Christusbewußtsein herrschen sollte, um Vater und Sohn im Heiligen Geist zu vereinen.
Dort wurde nun Dietrich als „Reichtum des Menschen“ zum Kaiser, und unser Verstand könnte noch fragen: Warum hatte Dietrich keine leiblichen Kinder, obwohl er zweimal verheiratet war? Ja, die Frage der Kinder spielt eine wichtige Rolle in dieser ganzen langen Geschichte. Warum wurden alle Söhne von Ermenrich, Diether, Rüdiger und Etzel vom Ego-Verstand getötet? Warum kann er die Kinder der Vernunft nicht ertragen? Nun, der eigenwillige Ego-Verstand glaubt natürlich, alles töten zu müssen, was sein Eigentum bedroht, um seine Ego-Blase zu beschützen. Deshalb fürchtet er die Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein, in dem jede Trennung in Mein und Dein verschwindet. Das Ego weiß aus vielen Erfahrungen, daß diese Ganzheit nicht direkt und ursächlich zu besiegen ist, und versucht deshalb, deren Kinder als Wirkungen in der Welt zu töten, um sie für ihn unwirksam zu machen, aber tötet sich damit nur selbst, wie mit Sibich, Wittich und Hagen symbolisch beschrieben wurde.
Und was sind die Kinder der Vernunft? Sie hat vor allem geistige Kinder, während der begriffliche Verstand leibliche Kinder braucht, die er äußerlich begreifen kann, wie auch oben im Hildebrand-Lied erklärt wurde. In diesem Sinne kann auch nur die Vernunft zu einem wahrhaften Kaiser werden, der alle Wesen in seinem Reich wie seine Kinder betrachten kann, weil ein ganzheitliches Bewußtsein keine Trennung kennt. Und das kann natürlich nur geschehen, wenn er das trennende Ego-Bewußtsein an der Ursache im geistigen Reich besiegt hat. Dann verfolgt der Kaiser keine eigenwilligen Ego-Interessen mehr (wie Ermenrich), sondern die Interessen aller im „Amelungen-Land“ der Geschöpfe Gottes. Happy-End!
Weit gebietend stand die Macht des ruhmvollen Herrschers aufgerichtet, unangetastet von äußeren Feinden oder böswilligen Lehnsträgern über viele lange glückliche Jahre. Die Felder waren fruchtbar, es regnete zur rechten Zeit, und es gab keine Mißernten, Hungersnöte und Seuchen, keine verheerenden Kriege und keine schrecklichen Verwüstungen. Die Menschen achteten sich untereinander, sie erfüllten ihre Pflichten im Leben, je nach Stand und Beruf, ließen sich nicht von Haß und Neid beherrschen und starben nicht vor ihrer Zeit. So schien sich der Segen von Frau Sälde im ganzen Kaiserreich auszubreiten. Noch im hohen Alter bewies Dietrich seine Kühnheit und Kraft im Einzelkampf. Als nämlich Altrian, ein räuberischer Riese, ins Reich eindrang und große Verwüstungen anrichten wollte, versuchte ihn Heime, der alte Geselle, zu besiegen, wurde aber erschlagen. Nun zog der Herrscher selbst aus und erlegte den Unhold nach hartem Kampf. Es war der letzte Streit, den der gealterte Held ausfocht.
Ja, so trügerisch sind die alten Geschichten, denn von den langen glücklichen Jahren, in denen die Vernunft auf Erden herrscht, gibt es im Vergleich zur restlichen Geschichte nur ein paar Zeilen zu berichten. Nichts Spektakuläres, keine Kriege, keine Schlachten, denn alles geht seinen geordneten Gang. So kommt natürlich auch Dietrich ins Alter und wird von „Altrian“ bedrängt. Doch wie läßt sich dieser übermächtige Riese der Vergänglichkeit in der Natur besiegen? Die Wissenschaft sagt, es gibt kein Perpetuum mobile, das sich unvergänglich bewegen kann. Das stimmt nicht ganz, denn das Universum selbst, soweit man darin ein Ganzes und Einheitliches sieht, ist ein Perpetuum mobile. Es bewegt sich, ohne äußerliche Energie zu benötigen, weil es kein Außerhalb hat. Alter und Vergänglichkeit gibt es nur für getrennte Formen, die in diesem Ganzen erscheinen, und sobald sich das Bewußtsein mit solchen Formen identifiziert, scheint es auch selbst vergänglich zu werden. Doch wer daran kein Eigentum hat, keine eigenen Eltern, keine eigenen Kinder, keinen eigenen Körper und keine eigene Seele, der wird ein Ganzes und All-Eines, ein Allvater, ein Allsohn und eine Allseele als ein ganzheitliches Bewußtsein, das wir auch Vernunft nennen. Und so können wir lesen, wie Dietrich auch seinen letzten großen Kampf in der körperlichen Welt als „Einzelkampf“ und nicht als „Zweikampf“ gewinnt und damit den mächtigen Riesen der Vergänglichkeit besiegt, dem Heime als seine äußere Körperlichkeit natürlich zum Opfer fallen muß. Und dementsprechend verläßt dann auch die Seele den Körper:
Seine Lebensgefährtin, die edle Herrat, die treue Gehilfin in drangvoller Zeit, kam ebenfalls ins Alter, erkrankte und starb. Dies trübte die Heiterkeit seines Gemüts. Er wohnte nicht mehr den fröhlichen Gelagen der Helden bei, selbst die Feste zu Ehren seiner Siege waren ihm gleichgültig. Nur die Jagd machte ihm noch Vergnügen. Wenn die Hörner schallten, die munteren Rüden anschlugen, wenn er selbst zu Roß dem flüchtigen Wild nachjagte, mit dem kurzen Jägerspieß den wilden Keiler fing, da war er wieder frisch und fröhlich wie in heiterer Jugendzeit.
Was bleibt, ist das geistige Wesen der Vernunft, das sich nicht mehr allzuviel um die Gelage und Ehrenfeste kümmert. Doch wenn der Verstand in der körperlichen Welt mit seinen Gedanken zur Jagd ruft, um Ziele zu erreichen und sich davon zu ernähren, dann ist die Vernunft noch lange behilflich, frisch und fröhlich wie in heiterer Jugendzeit, mit unvergänglicher Kraft, und alles gelingt auf wunderbare Weise in dieser Welt der Formen. Hier spricht man gern von einem goldenen Zeitalter auf Erden, in der die Menschen glücklich und zufrieden leben. Doch auch diese Zeit muß im ewigen Wellenspiel der Gegensätze wieder vergehen, denn diese irdische Welt ist offenbar nicht dazu da, die Verdienste der Vernunft zu genießen, sondern sie im Kampf zu gewinnen.
Einstmals badete Dietrich im Fluß. Da trabte ein Sechszehnender mit goldenem Geweih vorüber, wunderbar anzusehen, dem grünen Wald zu. Er sprang aus dem Wasser, warf sein Gewand um und rief nach Roß und Hunden. Ehe die Diener das Verlangte herbeischaffen konnten, erblickte Dietrich einen rabenschwarzen Hengst, der ihm entgegenwieherte. Schwert und Jagdspieß ergreifend schwang er sich auf das edle Tier und jagte dem Hirsch nach. Vergebens folgten ihm die mit Pferden herzueilenden Knappen. Der Held ritt fort, schneller und immer schneller und kehrte nicht wieder. Man wartete umsonst Wochen, Monate und Jahre auf seine Rückkehr. Das Reich war und blieb ohne Oberhaupt. Blutige Kriege waren die Folge dieses Verlustes. Man wünschte den Herrscher zurück, daß er richte und schlichte, aber keine Sehnsucht, kein frommes Gebet brachte ihn dem zerrütteten Reich wieder. Sein Ahnherr Wodan (der Allvater Odin) hatte ihn zu sich emporgehoben, daß er mit ihm nächtlich in der wilden Jagd über Berge, Täler und Heiden dahinbrause. Da hat ihn mancher einsame Wanderer auf dem schwarzen Roß gesehen, und das Volk in der Lausitz und in anderen Gegenden kennt ihn noch jetzt als Dietherbernet (Dietrich von Bern) im Geleit des nächtlichen Heeres.
Auch über diese Symbolik zum Abschluß der Geschichte kann man noch viel nachdenken: Der wunderbare Sechszehnender mit dem goldenen Geweih erinnert uns an die acht Prinzipien in der Welt der Dualität, die „Sieben Bürgen“ der Herrat als Seele der Natur für die körperliche Welt und das achte Prinzip der Vernunft, soweit sie in der Welt der Gegensätze zu finden ist, aber auch wieder verschwinden kann. Ähnlich soll auch der Allvater Odin auf einem Pferd mit acht Beinen reiten. Das Gold des „Geweihs“ erinnert an die Wahrheit, die man darin sucht und nach der man hier jagt. Der Fluß, in dem die Vernunft badet und sich reinigt, ist der Fluß des Lebens, in dem auch das „Rheingold“ zu finden ist. Doch was ist der rabenschwarze Hengst, der die Vernunft davonträgt, so daß man sie in dieser Welt nicht festhalten kann? Manche sahen darin den Teufel, und ja, in gewissem Sinne paßt das auch, denn es ist der Ego-Teufel, der die Vernunft aus dieser Welt verschwinden läßt, zumindest scheinbar.
Doch wir würden in dieser Symbolik mehr das ewige Spiel von Licht und Dunkelheit sehen, von Yin und Yang, zwischen denen sich unsere Welt der Gegensätze im Wellenspiel bewegt. Diesbezüglich könnte man im obigen Bild auch die zwei Raben Hugin und Munin des germanischen Allvaters Odin wiederfinden, die für Gedanken und Gedächtnis stehen, welche im Raum zwischen den Köpfen von Licht und Dunkelheit fliegen und für die allgemeine Bewegung sorgen. Dazu trägt die Vernunft das Schwert der Weisheit mit den Runen der Schöpferkraft, den Gürtel der Bindung für die verursachende Seele und den Speer der Zeit bzw. Vergänglichkeit. In diesem Sinne vereint die vollkommene Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein schließlich alles in sich selbst, das ewige Licht, die ewige Dunkelheit und die ewige Welle der Bewegung zwischen den Gegensätzen auf dem Meer der Ursachen im Wind des Geistes. Amen - OM
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
• Dietrichsage: Die Kampfgesellen Heime und Wittich
• Dietrichsage: Die Geschichte von Seeburg, Ecke und Fasolt
• Dietrichsage: Die Gesellen Wildeber, Ilsan und Dietleib
• Dietrichsage: Zwergenkönig Laurin und sein Rosengarten
• Dietrichsage: Mönch Ilsan und Kriemhilds Rosengarten
• Dietrichsage: Die Heerfahrten für Etzel und Ermenrich
• Dietrichsage: Der Fall von Kaiser Ermenrich
• Dietrichsage: Über die Herrschaft von König Etzel
• Dietrichsage: Die Raben- oder Ravenschlacht
• Dietrichsage: Rückkehr zu Etzel und Nibelungenschlacht
• Dietrichsage: Dietrichs Sieg und Kaiserkrönung
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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen |