Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Dietrichsage: Mönch Ilsan und Kriemhilds Rosengarten

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Dieser Geschichte liegt ein Versepos aus dem 13. Jahrhundert zugrunde, das in unterschiedlichen Versionen überliefert wurde. Wilhelm Wägner hat darin wenig Sinn gefunden, abgesehen von der Beschreibung des Mönches Ilsan. So hate er die Nacherzählung entsprechend kurzgehalten, vor allem auch, weil die Geschichte an vielen Stellen dem Nibelungenlied zu widersprechen scheint. Wir wollen nun versuchen, die Geschichte aus anderen Quellen etwas zu erweitern und vielleicht aus geistiger Sicht mehr Sinn darin zu erkennen, zumal es manche Ähnlichkeit zur Geschichte von Laurins Rosengarten im vorhergehenden Kapitel gibt. Los geht’s:

Dietrich war unter Abenteuern und Kriegsfahrten in das reifere Mannesalter eingetreten, er war jetzt ein vollendeter Held und sich seiner Kraft bewußt. Als nun der König einstmals viele seiner Gesellen um sich versammelt sah und der Becher fleißig geleert wurde, da meinte er großmütig, kein Herrscher auf Erden habe solche Helden um sich vereinigt, keiner solche Abenteuer siegreich bestanden, als er mit seinen Gesellen, und keiner könne sich mit ihnen vergleichen. Jubelnd stimmten ihm die Recken zu, nur der junge Herzog von Brabant, der kürzlich als Gast aus dem Rheinland erschienen war, blieb still und sah spöttisch drein, als sich mancher seiner Taten rühmte. Da fragte ihn der Berner, ob er auf seinen Fahrten kühnere Helden irgendwo gesehen habe? „Wohl habe ich solche gefunden“, rief jener, „mit denen sich keiner vergleichen kann, wer er auch sei, und das war in der guten Stadt Worms am Rheinstrom im Land der Burgunden. Da ist der große Rosengarten, eine Meile lang und eine halbe breit, von einer goldenen Borte umfriedet, den die wunderschöne Kriemhild selbst mit ihren Dienerinnen pflegt, und zwölf gewaltige Recken halten Wache, daß niemand den Garten betrete ohne den guten Willen der königlichen Jungfrau. Sie lädt alle ein, die mit den Wächtern kämpfen wollen, doch bisher konnte sie niemand besiegen, und viele Riesen und Recken haben schon ihr Haupt verloren.“ - „Hei, laßt uns Rosen pflücken, die mit dem Blut der Helden begossen sind!“, rief der Berner: „Mit meinen Heergesellen gedenke ich, die stolzen Wächter zu bestehen.“ - „Wenn ihr das versuchen wollt“, sagte der Herzog, „so wisset, daß die liebliche Jungfrau jedem Sieger ein Rosenkränzlein und einen Kuß gewährt.“ - „Um eine Rose und einen Jungfrauenkuß“, sprach der alte Meister, „gebe ich nicht ein Haar aus meinem Bart, noch weniger mein Haupt, und ich habe doch viele Barthaare, aber nur ein einziges Haupt. Wer Rosen pflücken und Jungfrauen küssen will, der findet deren genug zu Bern, und es bedarf nicht der Fahrt an den Rhein.“ Die anderen Gesellen stimmten ihm zu, denn sie kannten wohl die burgundischen Recken. Aber der unverzagte Berner sprach trotzigen Mutes, es sei nicht um Rosen und Küsse zu kämpfen, sondern um ewige Ehre und Heldenruhm, und wollten die Gesellen nicht mit ihm reiten, dann würde er das Abenteuer allein bestehen. Darauf erhob sich Meister Hildebrand und sagte, auf seinen ergrauenden Bart deutend, er sei in Ehren ergraut und werde den König nicht verlassen. Er habe so manche Fahrt mit ihm vollbracht, daher hoffe er auch, im Rosengarten sein Haupt zu bewahren. Diese Worte erweckten den Mut der Gesellen, und sie erklärten sich alle zur Fahrt bereit. Da waren: Der Berner Dietrich selbst, Meister Hildebrand, Hornboge, der starke Wittich, Helfrich und sein Sohn Ruotwin, Heime, genannt der Grimmige, Wildeber und Wolfhart. Es waren aber nur neun kühne Recken, und es sollten zwölf sein, um den zwölf Wächtern zu begegnen.

Aus geistiger Sicht können wir zunächst einen symbolischen Wettkampf zwischen zwei Menschen sehen. In dem einen herrscht die Vernunft als König, und er lebt mehr in einem geistigen Reich. Und im anderen herrscht der Ego-Verstand, und er lebt mehr in einem körperlichen Reich, wie wir die Burgunder in der Nibelungensage aus geistiger Sicht bereits kennengelernt haben. Kriemhild als Seele der Natur und Prinzip der Verursachung ruft zum Wettkampf zwischen ihnen in ihrem Rosengarten, den wir nun auch im Inneren des menschlichen Körpers finden. So wird er in der Überlieferung auch als „großer Rosengarten“ bezeichnet, im Vergleich zu Laurins „kleinem Rosengarten“, was uns daran erinnert, daß die innere Natur im Vergleich zur äußeren in Wahrheit viel größer ist, auch wenn unser gewöhnlicher Verstand mit den äußerlichen Sinneserfahrungen genau das Gegenteil glaubt. So ruft nun die Seele der Natur wieder zum Kampf, wie auch Virginal und Künhild zum Kampf riefen. Und in diesem Wettkampf sollen sich die Kräfte der beiden symbolischen Menschen im Zweikampf vergleichen und natürlich daran wachsen und daraus lernen. Das Ziel ist sicherlich nicht das Töten, aber der Tod bzw. Verlust des Hauptes spielt natürlich im Kampf auch eine wichtige Rolle, vor allem für den Verstand, der aus Gegensätzen lernt und angesichts des Todes nach dem Leben strebt, angesichts des Kampfes nach Frieden und angesichts der Trennung nach Ganzheit. So wird auch Hildebrand als vernünftiger Verstand in dieser Geschichte wieder zum Führer. Der Siegespreis ist ein Kuß der reinen Seele als Symbol der unvergänglichen Liebe zusammen mit dem Rosenkranz als Ring aus Blüten und Dornen, den wir noch ausführlicher betrachten werden.

Zu diesem Thema schreibt auch Meister Eckhart „Vom edlen Menschen, der auszog in ein fernes Land, um sich ein Reich zu gewinnen, und zurückkehrte“:
Man soll zum ersten wissen, und es ist auch deutlich offenbar, daß der Mensch in sich zweierlei Naturen hat: Leib und Geist. Darum sagt eine Schrift: Wer sich selbst erkennt, der erkennt alle Kreaturen, denn alle Kreaturen sind Leib oder Geist. Darum sagt die Schrift vom Menschen, es gebe in uns einen äußeren und einen anderen, den inneren Menschen. - Zu dem äußeren Menschen gehört alles, was der Seele anhaftet, jedoch umfangen ist von und vermischt mit dem Fleisch, und mit und in einem jeglichen Gliede ein körperliches Zusammenwirken hat, wie etwa mit dem Auge, dem Ohr, der Zunge, der Hand und dergleichen. Und dies alles nennt die Schrift den alten Menschen, den irdischen Menschen, den äußeren Menschen, den feindlichen Menschen, einen knechtischen Menschen. - Der andere Mensch, der in uns steckt, das ist der innere Mensch; den nennt die Schrift einen neuen Menschen, einen himmlischen Menschen, einen jungen Menschen, einen Freund und einen edlen Menschen. Und der ist gemeint, wenn unser Herr sagt, daß »ein edler Mensch auszog in ein fernes Land und sich ein Reich gewann und wiederkam.« [Eckhart, Vom edlen Menschen]

Interessanterweise muß Dietrich als herrschende Vernunft einige seiner geistigen und körperlichen Kräfte erst im weiten Reich einsammeln, was bereits an eine gewisse Ganzheitlichkeit und Weite des Bewußtseins erinnert, das aber noch Trennung kennt:

Hildebrand wußte auch jetzt Rat. Er sagte: „Der zehnte Recke ist der gute Rüdiger von Bechelaren, der uns den Dienst nicht versagen wird, der elfte ist der tüchtige Dietleib von Steiermark, und der zwölfte mein frommer Bruder, der Mönch Ilsan.“ - „Der Mönch Ilsan!“, riefen die Helden durcheinander, „der schmaust im Kloster Fastenspeise, mästet den Leib und betet Litanei! Der reitet nimmer auf Heldenfahrt!“ - “Wir wollen gehen und ihn werben. Er hat unserem Herrn eine Heerfahrt auf Treue gelobt und wird sich uns nicht verweigern.“ So sprach der Meister, und die Recken machten sich auf den Weg, die drei Mitkämpfer zu werben.

Warum gerade zwölf Recken? Die Zahl Zwölf begegnet uns erstaunlich oft, sowohl in der Nibelungensage als zwölf Riesen, zwölf Nibelungen von Siegfried, zwölf Recken zu Worms, zwölf Frachtwagen für den Nibelungenschatz, zwölf goldene Spangen und Zwölfmannesstärke, sowie auch in dieser Dietrichsage als zwölf Wächter der Brücke, gegen die Wittich kämpfte, zwölf Recken, die Walberan für Laurin zum Zweikampf forderte, und nun auch zwölf Recken von Bern gegen die zwölf Recken zu Worms. Den tieferen Sinn können wir nur vermuten, und so scheint uns diese Zahl eine gewisse Vollkommenheit zu bedeuten, wie der Ring der zwölf Sternbilder des Tierkreises über die zwölf Monate des Jahres oder die zwölf Stunden auf dem Ziffernblatt der alten Uhren. Die Zwölf schließt hier den Kreis bzw. Ring der Vielfalt und macht ihn im Übergang zur Eins ganz und vollkommen, und darin können wir die Aufgabe der Vernunft wiederfinden, wie auch die Geburt des Christuskindes als ein göttliches bzw. ganzheitliches Bewußtsein am Ende des zwölften Monats im Jahreskreis gefeiert wird. In dieser Hinsicht könnte man auch an die zwölf Apostel denken, die Christus vereint.

Sie kamen zuerst nach Bechelaren im Donauland. Dort fanden sie gute Herberge bei Rüdiger, dessen Hausfrau, die edle Gotlinde, mit Dietrich verwandt, nämlich die Tochter seiner Base (seiner Vatersschwester) war. Was Haus und Keller des reichen Markgrafen vermochten, wurde den werten Gästen dargereicht. Auch weigerte sich der gutmütige Rüdiger nicht, die Helden an den Rhein zu begleiten, nur wollte er zuvor Abschied von Etzel nehmen, weil er sein Markgraftum von dem mächtigen König als Lehen trug. Die Helden fuhren dann weiter nach Steiermark zu Dietleib, dem kühnen Mann. Sie fanden ihn nicht in seinem Heim, sondern nur Biterolf, seinen Vater, der von dieser Fahrt an den Rhein ernstlich abriet, weil nur ein Narr um eine Rose und eines Kusses willen den Kampf auf Leben und Tod mit den kühnsten Recken aller Welt versuche. Als sie aber auf der Fahrt dem jungen Helden begegneten, sprach Dietrich: „Lieber Dietleib, sage mir mit wahrer Treue, ob dich etwas am Übermut der Recken vom Rhein ärgert, zu denen uns Kriemhild, die königliche Jungfrau, herausgefordert hat. Wenn wir diese Herausforderung nicht bestehen, wäre es uns ewig Schimpf und Schande.“ Daraufhin fanden sie ihn sogleich entschlossen, in ihrem Gefolge den Kampf im Rosengarten zu wagen. Weiter ging die Reise nach dem Kloster Münchenzell, wo sich Hildebrands Bruder aufhielt.

Zu den drei Gesellen, die aus der Weite des Reiches geholt werden, gehört zuerst Rüdiger, den wir in der Nibelungensage als „Speer der Ehre“ und weitentwickelte Vernunft kennengelernt haben, die aber noch am weltlichen Begriff der Ehre haftet. Er diente auch dort gern als Bote und wurde ähnlich wie Dietleib von König Etzel zum Markgrafen und Lehnsherrn in einem Grenzland seines Reiches ernannt. Der zweite Geselle ist Dietleib, die vernünftig-menschliche Körperlichkeit mit der Kraft der Vergebung, der ebenfalls aus dem Grenzland von Etzel geholt wurde. Und der dritte Geselle ist der Mönch Ilsan als verstandesmäßig-fromme Körperlichkeit und damit ein „leiblicher“ Bruder von Hildebrand, dem vernünftigen Verstand. Seine Rolle ist in dieser Geschichte besonders interessant:

Auf dem weiten Feld vor dem Kloster schlugen sie ihre Zelte auf, und als Mönch Ilsan am Morgen auf die wehrhafte Klostermauer stieg und Ausschau hielt, da sah er auf der Heide das stolze Heer liegen. Sogleich wandelte sich das Gemüt des frommen und heiligen Mannes, und er rief: „Das sollen sie wohl bereuen, die uns hier angreifen!“ Seine Brüder fürchteten seinen kämpferischen Zorn und daß sie durch ihn alle verlorengingen. Doch Mönch Ilsan sprach: „Ich will ihnen entgegenreiten und sie allein bestehen. Solange mir das Schwert in der Hand nicht zerbricht, sollen sie manche tiefe Wunde erfahren.“ So wurde der Mönch in stahlharte Rüstung gekleidet, und kühnen Mutes ritt er mit gewaltiger Lanze in starker Hand vor des Klosters Pforte. Da erkannte Meister Hildebrand als erster, daß der Mönch Ilsan in der Kutte angeritten kam und sprach: „Ich sehe wahrlich, das ist mein Bruder, der uns in seiner Wildheit ganz allein bestehen kann.“ Sogleich ritt er dem zornigen Klostermann entgegen, der ihn mit der Lanzenspitze alsbald anrannte. Doch dem Stoß wich er aus, nahm den Helm ab und sprach seinen Bruder mit freundlicher Rede an: „Du sollst mit uns reiten und unser Heergeselle sein. Wir wollen zum Rosengarten nach Worms am Rhein, um dort Rosen zu pflücken, vom Blute rot, und die königliche Jungfrau zu küssen oder den grimmigen Tod.“ - „Hei, du alter Graubart!“, antwortete der Mönch: „Bist du noch nicht genug nach Abenteuern geritten? Ziehst du wie ein Gockelhahn allen Kämpfen nach? Du solltest doch bei deiner Frau Ute gut Gemach haben.“ - „Das könnte ich, wenn ich wöllte“, antwortete Hildebrand, „doch hat mich mein König zu dir hierher gesandt, daß du des Eides und der Hilfe gedächtest, die du uns gelobt hast, wenn wir ihrer bedürftig wären.“ - „Wohl gedenke ich des Eides, den ich ihm einst getan, doch kämpfe ich nicht zur Kurzweil.“, sprach der Mönch: „Ist es euch Not zu Bern, dann will ich mit euch gehen. Doch geht es nur um Rosen, will ich mein Haupt bewahren.“ Darauf sprach der alte Hildebrand: „Magst du den Dienst nicht dem edlen König von Bern leisten, dann tue es, um meinetwillen, frommer Bruder. Ich möchte dich wohl schauen, mit dem Schwert in starker Hand, zur Ehre aller Mönche!“ - „Gut, ich will mir Urlaub erbeten, wenn es der Abt gewährt. Derweilen kommt zu Tisch, zu speisen, was ihr begehrt. Bestellt sind Keller und Küche mit Vorrat aller Art, mit Wildbret, Wein und Fischen. Der Abt mit den Dechanten schmaust und trinkt gern, derweil wir armen Brüder von ferne zuzuschauen haben, und müssen beten und fasten und das Brevier lesen.“ - „Und doch hast du feiste Wangen.“, sprach Hildebrand: „Das Fasten ist wohl heilsam dir.“

Hier wird nun ein allgemeines Problem des frommen Klosterlebens angesprochen: Soll man die natürliche Körperlichkeit hinter Klostermauern einschließen und aushungern, um sich allein um geistige Fähigkeiten zu kümmern? Oder soll man die körperlichen Fähigkeiten in der äußerlichen Welt nutzen, um die geistigen zu fördern und eine Einheit von Körper und Geist zu finden? Diese Frage wird zum Beispiel auch im biblischen Gleichnis von den verliehenen Talenten behandelt. Dennoch findet man im christlich gelebten Glauben oft eine Ablehnung der äußerlichen Natur, weil man die göttliche Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligen Geist sucht, in der das weibliche Wesen der Natur scheinbar fehlt. Entsprechend sieht man auch gern die Sünde in der äußerlichen Natur und den Teufel im heidnischen Glauben an die Naturgeister, so daß auch allgemein die natürliche Vielfalt der Glaubenssysteme und Religionen ablehnt wird. Damit geht oft die Wahrhaftigkeit des christlichen Glaubens verloren, wie im Text bezüglich des Fastens angesprochen wird und sich auch Luther über diesen allgemeinen Verfall beschwerte.

Zumindest bittet nun der Mönch Ilsan seinen Abt, auch den körperlichen Kampf in der äußerlichen Welt wagen zu dürfen:

Darauf ging Mönch Ilsan zum hochwürdigen Herrn und sprach: „Gebt mir Urlaub, um mit dem König von Bern zu reiten und mir ein Siegerkränzlein am Rhein zu holen. Das will ich euch aus dem Rosengarten bringen.“ Der Abt sprach: „Frommer Bruder, es ist nicht unser Recht, daß wir für Könige fechten sollen, denn wir sind Gottes Knechte. Zu seinem Dienst sollen wir Tag und Nacht bereit sein, dem Gott, der uns geschaffen hat, und Buße tun für die Sünde in dieser Zeitlichkeit.“ - „Hochwürdiger!“, rief im Zorn der Mönch: „Hört mein Wort: Träfe diese Recken am Rhein ein Leid, das ich abwenden könnte, aber ihr mich nicht gehenlaßt, dafür müßten meine Brüder wahrlich Buße tun.“ Der Abt erschrak und sprach: „Viellieber Bruder, willst du mir vom Rhein ein Rosenkränzlein bringen, dann wollen wir für dich beten und für deine Sünden Buße tun. Wenn du gern reitest, dann zieh hin nach deiner Wahl.“ Da ging der starke Mönch Ilsan mit Freude vom Abt zur Halle, wo die Recken sich weidlich taten. Dort zog er die Kutte aus und stand in stolzer Rüstung, wie ein Held bedarf.

Auch hier spielt die Geschichte mit einer großen Frage: Wem soll der Mensch mit seiner Körperlichkeit in dieser Welt dienen? Der Abt sagt „Gott“. Doch wen meint er damit? Wer hat den Menschen geschaffen? Wo ist dieser Schöpfer? Ist er nicht auch ins uns selbst als ein ganzheitliches und göttliches Wesen, dem die ganzheitliche Vernunft bereits sehr nahekommt, die nicht umsonst als das Höchste und Beste im Menschen gilt? Nun, dann wäre es wohl auch das Beste, mit der Dietrich-Vernunft zu gehen, der ganzheitlichen Vernunft als Held im Kampf zu dienen und die Sünde als Trennung von Gott zu besiegen. Ja, dafür ist wohl auch unsere Körperlichkeit geschaffen worden.

Meister Hildebrand rief: „Trägst du immer eine Rüstung unter der Kutte?“ - „Ja, lieber Bruder“ antwortete der Mönch, „das ist mein altes Kampfgewand.“ Dietrich beschaute des Mönches Breitschwert und sprach: „Mit einem guten Predigerstab bist du wohl auch bewährt. Wem dieser Stab den Bann löst, der ist zwar seiner Sünden ledig, aber nicht mehr weit vom Grab. Wüßten die Burgunden, wie du Sünde vertreibst, dann wollten sie wohl lieber Heiden bleiben als dir beichten.“ Und mancher alte Bruder, der das von ferne sah, sprach: „Gott sei Dank und Lob! Er hat uns oft die Bärte tüchtig gerauft und gezogen, wenn wir ihm nicht tun wollten, was er gebot. Vielleicht kommt er nicht wieder, dann hat im Kloster unsere Not ein Ende.“ Ja, manche verfluchten ihn sogar und baten Christus im Himmel um seinen Tod. So schauten sie mit einem lachenden und einem weinenden Auge zu, wie sich Ilsan seinen Schild und Speer bringen ließ, womit er in früheren Tagen oft gekämpft hatte, sein gutes Roß Benig („Gutmütig“) bestieg und voller Freude mit den Recken von Bern durch die Klosterpforte davonritt.

Hier kann man nun darüber nachdenken, wie manche, die den geistlichen Weg gehen wollen, gern wünschen, ihren Körper loszuwerden, der sich nicht nur gegen übermäßiges Fasten wehrt, sondern auch sonst seinen Willen fordert und schmerzlich an ihren Haaren zieht, die wir als Symbol der Gedanken sehen können, die aus dem Kopf wachsen, weshalb wohl auch viele Mönche ihre Köpfe rasieren. Ja, dieser Körper ist nicht immer ein paradiesischer Rosengarten, oft überwiegen die leidvollen Dornen, und manch blutiger Kampf wird darin ausgetragen, wie wir noch lesen werden. Und doch wissen auch die Mönche, daß Gott diese Körperlichkeit geschaffen hat, und sicherlich nicht ohne Sinn. Sich davon trennen zu wollen, den Körper zu verfluchen und ihm den Tod zu wünschen, kann wohl nicht der Weg zur Ganzheit bzw. Gottheit sein. Zu diesem Thema findet man auch in der Bibel die berühmte Geschichte von Hiob über die Rolle der Körperlichkeit in dieser Welt.

Die Helden fuhren vorerst nach Bern, wo die Versammlung war. Dort erwartete sie Wolfhart, der sich über den gerüsteten Mönch im Gefolge sehr wunderte, und mit ihm nichts zu tun haben wollte. „Der alte Sünder soll zurück in seine Zelle gehen!“, rief er, worüber Ilsan erzürnte, so daß Meister Hildebrand den Streit mit guten Worten schlichten mußte. Der edle Markgraf Rüdiger war der letzte, der sich einfand. Er hatte zuvor Abschied von seinem Lehnsherrn, König Etzel, genommen und von ihm eine silberglänzende Rüstung mit goldbesticktem Umhang erhalten, denn der reiche Führer der Hünen wollte, daß sein Markgraf in Ehren unter den kühnen Recken von Bern wie unter den Burgunden sich kundtue. Nun ging die Fahrt an den Rhein, wo der kühne Fährmann den rechten Fuß und die rechte Hand als Preis für die Überfahrt forderte, vor allem, als er den Mönch Ilsan im Gefolge erkannte. Er rief: „Wer hat nach euch gesandt, ihr alter Laienbruder? Macht euch wieder in eure Zelle! Dort solltet ihr mit euren Brüdern Metten singen, daheim im Kloster mit heiligem Sinn und Mut.“ Meister Hildebrand mußte wieder vermitteln, denn er war ein guter Freund des Fährmanns, und bezahlte ihn mit Gold, Silber und Gewändern. So wurden die Helden samt ihrem zahlreichen Gefolge in einem Boot über den Rhein gebracht, das so überladen schien, daß Wolfhart aus Furcht ins Wasser sprang, um ans Ufer zurückzukehren und dabei bald ertrunken wäre. Nur mit Mühe konnte er aus dem reißenden Strom gerettet werden.

Hier kann man nun darüber nachdenken, warum Wolfhart als angeborener tierhafter Körper nichts mit der verstandesmäßig-frommen Körperlichkeit des Mönches zu tun haben möchte, wie sich auch der Fährmann gegen ihn sträubt und ihn lieber in der geistigen Welt lassen will. Ja, wir lieben unseren tierhaften Körper, soweit man das Liebe nennen kann! Der Rhein erinnert uns wieder an den Fluß des Lebens mit seinen beiden Ufern, dem körperlichen und geistigen, wie man auch an einen äußeren und inneren Menschen denken kann, so daß die Überfahrt die rechte bzw. wahrhafte Seite kostet. Denn am körperlichen Ufer verlieren wir gewöhnlich das wahrhafte Handeln und den wahrhaften Stand im reinen Bewußtsein, denn im Äußerlichen der Körperlichkeit ist alles „auf Sand gebaut“. Doch Meister Hildebrand ist es als vernünftigem Verstand zu verdanken, daß auch die wahrhafte Seite als reine Vernunft über den Fluß des Lebens in unsere körperliche Welt mitkommt, und sogar der schwergewichtige Wolfhart, der darin bald versunken wäre, wie er am Ende auch darin versinken muß.

Vor Worms schlugen sie ihre königlichen und reichgeschmückten Zelte auf. Darauf erwählte man Rüdiger zum Boten an den König zu Worms, um den Kampf im Rosengarten anzukündigen. Er war wohlbekannt am Rhein und wurde gastlich von der wunderschönen Kriemhild selbst empfangen. Sie verweilten im Rosengarten unter einer Linde, in der aus Gold gemachte Vögel saßen, die durch Luftröhren mit einem Blasebalg zum Singen gebracht werden konnten. Sie sangen gegeneinander, kleine und größere, und es war niemand so traurig, daß er daran keine Freude finden konnte. Auf Wunsch des edlen Markgrafen ließ Kriemhild den Blasebalg betätigen, und nachdem er eine Weile auf den Gesang gelauscht hatte, sprach er: „Ihr habt auf dieser Erde ein paradiesisches Himmelreich. Könnte ich darin verbleiben, wenn ich das sagen darf, mir wäre ein ganzes Jahr wie ein einziger Tag.“ Dazu spielte eine Jungfrau aus dem Gefolge Kriemhilds die Harfe so himmlisch schön, daß alle Herzen von höchster Freude und Liebe erfüllt wurden. Der Markgraf erhob sich, zog den goldbestickten Ehrenumhang aus, den er von König Etzel empfangen hatte, und schenkte ihn der Harfenspielerin zum Dank. Unsinnig erschien es ihm jetzt, in diesem paradiesischen Garten von Kampf zu reden, doch Kriemhild fragte ihn nach dem Grund seines Erscheinens. Da überbrachte er seine Botschaft, die freudig aufgenommen wurde, und Kriemhild, die schönste aller Jungfrauen, setzte Tag und Stunde fest, da im Rosengarten um Rosen und Küsse und unvergänglichen Ruhm gekämpft werden sollte.

Wie im Nibelungenlied Rüdiger ein Bote von Etzel war, um Kriemhild in das Land der Hünen zu holen, so ist er nun hier ein Bote von Dietrich als König der Vernunft. Dazu finden wir wieder eine wunderbare Symbolik: Die Linde erinnert uns an den Baum des Lebens, und die goldenen Vögel an die gegensätzlichen Gedanken und auch Kräfte in diesem Baum. Sie sind künstlich aus Gold gemacht, also in ihrem Wesen reine Wahrheit, aber künstlich als Form geschaffen, und werden durch den Wind als Symbol für den Geist bewegt, was wiederum durch die Seele der Natur verursacht wird. Wer darauf als stiller Zeuge lauschen kann, für den wird dieser Garten wieder ein Paradies, in dem Zeit und Raum dahinschwinden, wie man auch vom göttlichen Paradies sagt, das dort tausend Menschenjahre für Gott wie ein Tag sind. Ja, die reine Vernunft ist dazu fähig, wenn sie sich vollkommen entwickelt hat, wozu die Dienerin der Seele die Schicksalsharfe der harmonischen Natur bzw. vollkommenen Verursachung spielt, und wozu dann auch die folgenden Kämpfe dienen. Wie weit Rüdiger hier als Vernunft bereits entwickelt ist, zeigt das Ablegen des äußerlichen Ehrenmantels, doch innerlich hängt er noch am weltlichen Ehrbegriff, wie wir am Ende des Nibelungenliedes erfahren haben.

Der Garten war eröffnet, die Recken kampfbereit, zwölf gegen zwölf, doch immer nur je zwei gegeneinander. Der stürmische Wolfhart wollte der erste sein, und ihm begegnete der mächtige Küchenmeister Rumold, der ihm im ersten Anlauf mit der Lanze vom Pferd stieß, so daß er in die dornigen Rosen fiel. Daraufhin erwachte in ihm der wilde Wolf, und er schlug Rumold so tiefe Wunden, daß er mit seinem Blut die Rosen begoß und das Feld räumen mußte. Nachdem der stolze Wolfhart seinen Gegner gefällt hatte, verschmähte er den Kuß der Jungfrau und begnügte sich mit dem Kränzlein. Danach kämpfte Wildeber gegen den Truchseß Ortwin, Heime gegen den Mundschenk Sindold, Dietleib gegen den Marshall Dankwart und Hornboge gegen den Kämmerer Hunold. Die Kämpfe wogten hin und her, doch schließlich siegten Dietrichs Gesellen und gewannen sich Küßchen und Rosenkränzlein. Das wollte sich Hagen, der mächtige Berater des Königs, nicht länger mit anschauen, und begab sich in die Schranken. Hildebrand forderte Wittich auf, ihm zu begegnen, der aber gegen diesen mächtigen Recken nur kämpfen wollte, wenn er Dietrichs Pferd Falke für diesen Kampf bekomme. Dietrich willigte ein, und gewaltig stießen sie sich mit ihren Lanzen, bis diese brachen und die Helden zu ihren Schwertern griffen. Hier konnte nun Wittich mit seinem Schwert Mimung einen Vorteil gewinnen, verwundete Hagen nach langem Gefecht und zerschlug ihm Schild und Schwert. Daraufhin wurde Hagen grimmig und verfluchte Kriemhild als Urheberin dieses Unglücks im Rosengarten. Wittich senkte sein Schwert, verschonte Hagen, reichte ihm die Hand, schloß Freundschaft mit ihm und verzichtete auf Kuß und Rosenkranz.

Die Paare der Kämpfer werden in den verschiedenen Überlieferungen der Sage sehr unterschiedlich beschrieben. Die körperlichen Rollen von Rumold, Sindold und Hunold wurden dort zu Riesen mit ähnlichen Namen. So haben wir hier versucht, die Kampfpaare mit den Namen aus dem Nibelungenlied und den bisherigen Gesellen von Dietrich aus geistiger Sicht zusammenzustellen. Dabei merken wir bereits, daß es im Grunde nicht um zwei getrennte Menschen geht, sondern dieser Wettkampf auf Wunsch der Seele in jedem Menschen stattfindet, um zu lernen, ob die Vernunft oder der Ego-Verstand herrschen sollte. Entsprechend lesen wir, daß sogar das Wittich-Ego mächtiger wird, wenn es vom Pferd der Dietrich-Vernunft getragen wird. Doch absurd scheint es zunächst, daß die beiden Egos von Wittich und Hagen als trennendes Bewußtsein am Ende Freundschaft schließen, womit wohl gemeint ist, daß das Ego im Kampf eigentlich immer gewinnt, weil es daraus seine Kraft zieht, und auf diese Weise nicht zu besiegen ist. Entsprechend wird es auch in diesem Wettkampf des Lernens nicht „vernünftiger“, und wir werden noch sehen, welche Rolle Wittich in der weiteren Dietrichsage spielen wird.

Nun schritt der Mönch Ilsan in seiner grauen Kutte zu Fuß in die Schranken und wälzte sich mit Wonne in den Rosen herum, so daß Kriemhild meinte, man habe ihr einen Narren gesandt. Darauf gebot sie den Spielman Volker in den Kampf, der zunächst glaubte, mit seinem Fiedelbogen ein einfaches Spiel zu haben, sich lustig machte und rief: „Zum Kirchenchor möge er lieber gehen und beim Messesingen helfen. Das stünde dem Narren besser an!“ Darauf antwortete Ilsan: „Du sollst noch spüren, ob ich ein Narr bin!“ Und schlug ihn mit der Faust, daß er mit seiner Fiedel rücklings in die dornigen Rosen fiel. Da bemerkte der kühne Spielmann, daß er einen gewaltigen Kämpfer gegen sich hatte, erhob sich und ging den Mönch mit harten Schlägen an. Sein Fiedelbogen strich gewaltig über den Helm, und im Gegenzug sauste der Predigerstab durch die Rüstung, daß die Rosen ringherum mit Blut benetzt wurden, und die beiden Recken in große Not gerieten. Schließlich schlug der Predigerstab so hart auf des Fiedlers Nacken, daß ihm das Blut in Strömen floß, und er zu Boden sank. Um Volkers Leben zu schonen wurde der Kampf beendet, und der Sieger empfing den Kuß der königlichen Jungfrau, die dabei laut aufschrie, denn ihre rosenroten Lippen wurden vom Stachelbart des Mönches verwundet, daß ihr das Blut über das Kinn rann. Da sprach er:

„Schöne Jungfrauen am Rhein, doch von allzu weicher Art,
Ich küsse keine wieder mit meinem Stachelbart.“

Daraufhin drückte sie ihm den Rosenkranz so hart auf sein geschorenes Haupt, daß auch ihm das Blut wie Tränen über die Wangen lief.

Hier kämpft nun aus geistiger Sicht der Mönch als verstandesmäßig-fromme Körperlichkeit gegen Volker als Schicksalsgeiger und siegt über das Schicksal. Ja, darüber kann man viel nachdenken, und auch warum der Mönch so feindlich gegenüber dem weiblichen Wesen sowohl der Menschen als auch der Natur ist, wenn wir die stachligen Barthaare als Symbol für die Gedanken betrachten, die aus dem Kopf in die äußerliche Welt wachsen. Und entsprechend reagiert dann auch die Seele der Natur.

Das Ganze verdroß nun auch König Gunther, und er schickte seinen jüngsten Bruder Giselher in den Wettkampf, der auf Helfrich traf, aber ebenso unterlag wie der Markgraf Gere gegen Helfrichs Sohn Ruotwin. Darauf sprach der König zu Gernot, seinem mittleren Bruder: „Laß dir unseren schändlichen Spott geklagt sein! Nun sorge du dafür, tüchtiger Held, stets kühn und mutig, daß man von deiner Stärke ewig singt und spricht.“ Sogleich machte sich Gernot kampfbereit und forderte Markgraf Rüdiger heraus. Als der Kampf einige Zeit blutig hin und herwogte, sprach jene Jungfrau, die von Rüdiger das edle Ehrengewand geschenkt bekam: „Ach, reicher Gott im Himmel, hilf doch dem guten Rüdiger!“ Bei diesen Worten erzürnte Kriemhild und verbot ihr solche Rede, daß sie schwieg. Doch bald darauf unterlag Gernot und flüchtete blutüberströmt, um sein Leben zu retten. Da gab Kriemhild dem edlen Rüdiger einen besonders liebreichen Kuß und einen duftig blühenden Rosenkranz, so daß der Markgraf den Garten als hochgeehrter Held verließ.

Die drei Königsbrüder Gunther, Gernot und Giselher haben wir in der Nibelungensage in der Rolle des Verstandes kennengelernt, der von Hagen als Ego beraten und regiert wurde, und deren königliche Schwester Kriemhild ist. So kämpfen hier nun die beiden jüngeren Königsbrüder in der Rolle des Verstandes gegen Helfrich als Intuition und Rüdiger als weitentwickelte Vernunft, und können natürlich nicht gewinnen. Die Episode mit dem Gebet für Rüdiger soll uns wohl daran erinnern, daß nicht irgendein Gott außerhalb dieser Welt solche Kämpfe „von oben herab“ entscheidet, sondern die innerliche Seele der Natur als Prinzip der Verursachung zusammen mit dem wirkenden Geist in dieser Welt.

Als König Gunther sah, wie seine Brüder im Wettkampf unterlagen, wurde er zornig, rüstete sich selbst zum Kampf, um die Wunden seiner Brüder zu rächen, und erschien mit einer Krone aus rotem Gold auf seinem Helm. Ihm stellte sich Meister Hildebrand entgegen und sprengte auf seinem Roß ins Rosenfeld. Gunther galoppierte ihm entgegen, und ihre Lanzen zersplitterten gegenseitig an ihren wehrhaften Schilden. Da stiegen sie von den Pferden und schlugen sich mit ihren scharfen Schwertern gegenseitig tiefe Wunden. Das Blut floß durch die Rüstungsringe und färbte das Rosenbeet. Bald hatten sie sich auch ihre Schilde zerhauen, und Meister Hildebrand holte zu einem mächtigen Schlag gegen Gunther aus. Da sprang Kriemhild zwischen die Kämpfer, um das Leben ihres Königs und Bruders zu retten, und verlieh Hildebrand das Rosenkränzlein. Auf den lieblichen Kuß verzichtete er und sprach: „Nein, das soll nicht sein! Ich will ihn daheim von meiner lieben Ehefrau Ute empfangen. Nun laßt euren Bruder in die Herberge tragen und seine Wunden pflegen.“ So verließ der alte Hildebrand den Kampfplatz und wurde von Dietrich freudig empfangen.

König Gunther war verzweifelt und wußte nur noch einen Rat, um die Ehre der Burgunder zu retten: Der unverletzliche Siegfried solle anstatt Markgraf Eckewart in den Kampf ziehen, der von den zwölf burgundischen Recken noch übrig war. Hagen stimmte zu, und König Gunther versprach Siegfried für diesen Dienst die Hand seiner Schwester Kriemhild. Siegfried war bereit, Kriemhild küßte ihn freundlich auf seinen Mund und sprach: „Nun kämpfe mutig, und ich tue dir mehr dergleichen kund.“ So legte er seine Rüstung an, ergriff die Waffen und rief: „Wer nimmt den Kampf mit mir auf?“ Darauf sprach Hildebrand: „Dietrich mein Herr, ich habe dir die Ehre hier am Rhein bewahrt. Siehst du Siegfried aus Niederland in den Garten reiten? Nun kämpfe du für unsterblichen Ruhm mit diesem mächtigen König!“ - „Meister, laß dein Spotten sein!“, antwortete der Berner, „Lieber bestände ich vier Recken, selbst die besten vom Rhein. Willst du mich an diesen Unverwundbaren verraten? Wer könnte mit einem fechten, den keine Waffe verletzen kann?“ - „Freilich, niemals besiegt ihn eine zaghafte Hand“, antwortete Hildebrand, „aber wer mit ganzem Herzen kämpft, kann ihn sicherlich bestehen.“ - „Nein, ich will nicht gegen ihn kämpfen!“, rief Dietrich, riß sich zornig den Helm vom Haupt und ging aus dem Rosengarten. Hildebrand rannte ihm nach und sprach: „Nie sollst du mehr mein Herr sein, verzagter Dietrich, denn du schändest damit nicht nur dich, sondern auch deine Gesellen!“ Sie gingen in ein kleines Wäldchen, und Hildebrand versuchte, Dietrich immer mehr zu provozieren, bis er ihm sogar mit der Faust ins Gesicht schlug, daß er niedersank, und schließlich sein Schwert zog, um Dietrich als Feigling zu töten. Da zog nun auch Dietrich das Schwert und schlug Hildebrand, der noch schwach und verwundet vom Kampf sogleich niedersank. Mittlerweile hatte Wolfhart die beiden im Rosengarten vermißt, fand sie im Wäldchen und rief: „Herr von Bern, erschlagt ihr jetzt eure eigenen Gesellen? Und getraut euch nicht vor den Frauen mit Siegfried zu kämpfen?!“

Daraufhin sah Dietrich keinen Ausweg mehr, ließ sich sein Roß Falke bringen und ritt in den Rosengarten, wo er auf Siegfried traf. Sie grüßten sich ritterlich, verneigten sich voreinander und begannen den Kampf mit ihren Lanzen, die aber bald schon an ihren Schilden und Rüstungen zerbrachen. Daraufhin stiegen sie von den Rössern und kämpfen in den Rosen mit ihren Schwertern, Siegfried mit Balmung und Dietrich mit Eckesachs. Wild tobte der Kampf, und ihre Helme glühten bald von den Schlägen, doch keiner konnte den anderen verletzen. Mit Lust sah Kriemhild diesem Spiel zu. Doch Hildebrand bemerkte bald, daß Dietrich nicht mit ganzer Kraft kämpfte und schickte Wolfhart in den Ring, der dort lautstark verkündete: „Meister Hildebrand ist tot! Er ist an seinen Wunden gestorben und muß begraben werden.“ Da stürzte in Dietrich eine Welt zusammen. Was war nun noch zu verlieren? Ohne zu denken ließ er jetzt sein Schwert tanzen, das mit jedem Gegenschlag von Siegfried mächtiger und bald so schnell und unvorhersehbar wurde, daß Siegfrieds Schild, Rüstung und Helm völlig zertrümmert waren, seine Kleider zerfetzt, und Kriemhild das Schlimmste befürchtete. Mit lauten Worten wollte sie den Kampf beenden und rief: „Laßt nun ab, Herr Dietrich, von eurem Streit und stellt um meinetwillen das Fechten ein. Ihr habt gesiegt zu Worms am Rhein!“ Aber Dietrich hörte sie nicht, und man sah ihn wie einen Wütenden durch die Rosen toben und Siegfried vor sich hertreiben. Da erschien Hildebrand, stellte sich furchtlos zwischen die Kämpfer und sprach zu Dietrich: „Wohlgetan! Du hast gesiegt, und ich bin wiedergeboren!“ Diese Worte hörte Dietrich, kam wieder zu sich und beendete den Kampf, so daß sich Siegfried vor ihm verneigen und den Rosengarten verlassen konnte. Darauf sprach Kriemhild: „Herr Dietrich, ihr seid ein tapferer Held, wie wohl keiner sonst in der Welt zu finden ist.“ So empfing der Berner Kuß und Rosenkranz, und umarmte auch Meister Hildebrand, glücklich, daß er noch lebte.

In Siegfried haben wir in der Nibelungensage aus geistiger Sicht die vollkommene Vernunft gefunden, die natürlich als reines und ganzheitliches Bewußtsein unverletzlich und unbesiegbar ist. Nur durch den Verstand und die Verkörperung wird sie besiegbar, verletzlich und sterblich, und diese drei finden wir auch hier in den Rollen von Dietrich, Hildebrand und Wolfhart. Die Symbolik ist aus geistiger Sicht tiefsinnig gezeichnet: Erst durch Wolfhart als Körperlichkeit ist überhaupt ein Kampf zwischen Vernunft und Vernunft möglich. Und erst, wenn der Verstand stirbt und keine Gedanken mehr wirken, kann dieser Kampf gewonnen werden, denn ohne gegensätzliche Gedanken sammelt sich das ganze Bewußtsein bzw. alle Energie und Kraft in einem Ganzen, und damit läßt sich natürlich alles besiegen. So mußte dann auch Dietrich gewinnen, denn er herrschte in Bern, während Siegfried in Burgund diente. Denn wer die Vernunft nicht herrschen läßt, wird schließlich nur verlieren. Ja, das ist eine sehr tiefgründige Geschichte, und in diese Richtung könnte man darüber nachdenken.

Schließlich sprach Dietrich: „Verehrte Königin, haben wir gesiegt, so gewährt uns nun, wieder nach Hause zurückzukehren.“ Sie antwortete vor allen Recken: „Wohl getan! Zieht heim mit Heil, ihr unverzagte Helden. Wer sich mit Überheblichkeit den Spott erkaufte, hat mit Recht Schande verdient.“ So hatten die unverzagten Helden von Bern in Worms am Rhein unvergänglichen Ruhm gewonnen und kehrten freudig und hochgefeiert in ihre Heimat zurück.

Auch Ilsan kehrte in sein Kloster zu den Mönchen zurück, die über seine Rückkehr erschraken und ihn nur widerwillig hereinließen. Dort überreichte er dem Abt den versprochenen Rosenkranz, und drückte ihn ebenso fest auf dessen geschorenen Kopf, daß das Blut floß. „So leicht war er nicht zu gewinnen“, sprach er, „und es wäre Sünde, wenn Ihr das Leid nicht mit mir teilen wolltet.“ Und der Abt antwortete: „Da du wiedergekommen bist, so nehmen wir auch deine Sünden auf uns.“ Doch einige Mönche zeigten sich widerspenstig, so daß Ilsan sie an ihren Bärten zusammenband und festhielt, bis sie nachgiebig wurden.

Hier können wir nun lesen, wie der geistige Weg eigentlich darin bestehen sollte, in der Ganzheitlichkeit alles persönliche und körperliche Leiden zu überwinden, denn auch die Sünde ist im Grunde nichts anderes als die Trennung von Gott bzw. der Ganzheit. Und hier bekommt auch der „Rosenkranz“ eine dreifache Bedeutung: In den Blüten ist er der Ring des Lebens, in den Dornen der Ring des Leidens, wie auch Christus die Dornenkrone trug, und als Gebetskette ist er der Ring der Gedanken, zügelt diese, erinnert an die Früchte der dornigen Rosen und öffnet das Bewußtsein zur Ganzheit Gottes.

Damit endet die Geschichte von Kriemhilds großem Rosengarten, und wir können uns gut vorstellen, daß nicht lange nach diesem Kampf ein mächtiger Flugdrache aus der Luft erschien und Kriemhild aus ihrem Rosengarten raubte, ohne daß die Wächter irgendetwas dagegen tun konnten. Siegfried fand sie dann gefangen auf dem Drachenstein wieder, konnte den feuerspeienden Drachen besiegen und die königliche Jungfrau befreien, die daraufhin seine Ehefrau wurde. So reinigt die vollkommene Vernunft die Seele der Natur, und die Seele reinigt den Menschen. Die ausführliche Geschichte dazu ist in der Nibelungensage zu finden, und wir können nun in der Dietrichsage weiterhin lesen, wie die Vernunft in dieser Welt vollkommen wird.


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Hugdietrichsage: Wolfdietrich und Liebgart
Hugdietrichsage: Wolfdietrichs Weg der Befreiung
Hugdietrichsage: Kaiser Dietwart als Hugdietrich
Dietrichsage: Samson als erster großer König der Amelungen
Dietrichsage: Dietrichs Kindheit und Jugend
Dietrichsage: Die Hochzeit mit Virginal
Dietrichsage: Die Kampfgesellen Heime und Wittich
Dietrichsage: Die Geschichte von Seeburg, Ecke und Fasolt
Dietrichsage: Die Gesellen Wildeber, Ilsan und Dietleib
Dietrichsage: Zwergenkönig Laurin und sein Rosengarten
Dietrichsage: Mönch Ilsan und Kriemhilds Rosengarten

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Der Rosengarten, Wilhelm Grimm, 1836
Deutsche Dichtungen des Mittelalters, Band 3, F.W. Genthe, 1846
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[Eckhart] Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes 1979
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: