Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Dietrichsage: Der Fall von Kaiser Ermenrich

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Ermenrich war ein mächtiger Herrscher und hatte seine Herrschaft durch Kriegsfahrten ansehnlich erweitert. Seine Ratgeber waren sehr kluge und listige Männer, deren Anschläge dem Oberhaupt von großem Nutzen waren. Sibich, sein Marschalk (Verwalter), kannte die Beschaffenheit und Natur aller Länder und Völker, und dessen vornehmster Diener und Helfer Ribestein verstand nicht weniger der Menschen Meinung und Gesinnung zu erspähen und sie durch kluge Rede dahin zu leiten, wohin es ihm am nützlichsten dünkte. Sie hatten ihren Herrn bewogen, mit dem wehrhaften Berner und seinen Gesellen gute Freundschaft zu halten, weil ihm derselbe ein allezeit hilfreicher Genosse war. Desgleichen suchten sie, die einzelnen Helden von Bern für ihr Oberhaupt zu gewinnen, damit sie auch ohne den guten Willen ihres alten Herrn die Schwerter im Dienst des Kaisers ziehen könnten. Es kam aber die Zeit, da eine große Veränderung in diesem Verhältnis eintrat.

Sibich hatte eine junge und sehr schöne Ehefrau, die ihm über alles lieb und hold war. Als er einstmals im Dienst seines Herrn eine weite Fahrt tun mußte, ließ Ermenrich die Frau zu sich gebieten und tat ihr Gewalt an, weil er, wie schon viele Kaiser, meinte, einen Mann, der die höchste Macht in den Händen habe, binde weder Gesetz noch Sitte. Als der Marschalk von der weinenden Frau erfuhr, was sich begeben hatte, griff er nach seinem Dolchmesser, um sogleich Rache zu nehmen, aber besann sich eines Besseren. Er beschloß, durch kluge List den kaiserlichen Übeltäter langsam ins Verderben zu stürzen, daß er ein langes Leben hindurch die Qualen eines Verbrechers auf der Folterbank erdulde. Er wollte ihn zum Mörder seines eigenen Geschlechts machen, ihn aller seiner Bundesgenossen berauben und endlich den Dolchen der von ihm gekränkten Menschen überliefern. Es war ein Plan, wie ihn die Mächte der Hölle nicht besser ersinnen konnten, und solche Mächte schlummern in der Menschenbrust, bis irgendeine unbezähmbare Begierde sie wachruft und ans Tageslicht treten läßt.

Nachdem wir aus geistiger Sicht lange darüber nachgedacht haben, wie sich die Vernunft zur Vollkommenheit entwickeln kann, finden wir nun in der Rolle des Kaisers Ermenrich sozusagen eine Gegendarstellung, wie die Vernunft in dieser Welt verfallen und sich selbst und viele andere Wesen zerstören kann. Das große Problem ist offenbar das „Eigentum“, denn einer ganzheitlichen Vernunft gehört natürlich auch alles in ihrem Bewußtseinsfeld, wenn es darin keine Trennung mehr geben soll. Doch was ist der Unterschied zum persönlichen Eigentum? Nun, persönliches Eigentum bedeutet, daß man sich etwas aneignet, was anderen verlorengeht, wie zum Beispiel die Ehefrau bzw. Seele von Sibich, den er sich daraufhin im Spiel der Trennung von Gegensätzen zum Feind macht. Und wenn man diese ganze Geschichte wieder in einen Menschen projiziert, dann bedeutet das, daß dann dieser Mensch vom Ego-Verstand als trennendes Bewußtsein beherrscht wird, wie es nun offenbar auch Ermenrich ging.

So können wir in diesem Paar von Sibich und Ribestein symbolisch die egoische Gedankenmühle des begrifflichen Ego-Verstandes sehen. Der Name Ribestein erinnert uns an den Reib- bzw. Mühlstein des Verstandes, der alles zerreibt und zerkleinert. Und Sibich erinnert uns an das Ich-Sieb, das sich dann aus dem Zermahlenen bzw. Zertrennten das heraussiebt, was es haben will, und alles andere verwirft. Auf diese Weise will es das Gute haben und verwirft das Böse, will Eigentum haben und verwirft den Mangel, will Leben haben und verwirft den Tod, und so weiter. Das Ego weiß natürlich, daß es den Kaiser bzw. die Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein nicht so einfach töten kann, und dafür ersinnt die Gedankenmühle den „höllischen Plan“, um das Bewußtsein eng und dunkel zu machen und in eine Ego-Höhle bzw. Hölle einzuschließen. Und das ist keine Rache, die irgendwoher von außen kommt, sondern eine innerliche Wirkung der Ursachen, die Ermenrich durch sein eigenes Handeln angesammelt hat, und die irgendwann ans „Tageslicht“ des Bewußtseins kommen müssen.

Sibich versuchte vorerst den verschlagenen Ribestein für sein Vorhaben zu gewinnen. Er wußte, daß sich derselbe mit dem unsichtbaren Gericht, das man Gewissen nennt, glücklich abgefunden hatte, daß er aber der Geldgier und der Wollust dienstbar war. Er gab ihm Gold in Fülle, verschaffte ihm Gelegenheit, seine Gelüste zu befriedigen, und lockte ihn durch glänzende Versprechungen. Ribestein wurde ihm dadurch ein untertäniger Gehilfe und meinte, das Vorhaben seines Gebieters sei leicht auszuführen, weil der Kaiser argwöhnisch, eifersüchtig auf seine Macht und habsüchtig nach anderem Gut geworden sei. Er fügte noch hinzu, er habe sich mit viel Sorge und Mühe die Wappen und Siegel aller Heerfürsten des Reiches angesammelt und könne daher in ihrem Namen Briefe schreiben, wodurch der Kaiser getäuscht werde. Das dünkte dem Marschalk von Nutzen, denn er beschloß, zuerst den ältesten Sohn seines Herrn, den klugen und kühnen Friedrich, durch die Hand seines Vaters zu verderben.

Hier kann nun jeder in sich selbst schauen, wie der Ego-Wille den Verstand für seine Ziele gewinnt, der dann die Sinneserfahrungen verfälschen und eine Welt mit illusorischen Feindbildern erschaffen kann, je nachdem, wie es das Ego begehrt. Und wenn sich die Vernunft davon beherrschen und überwältigen läßt, dann geht natürlich zuerst der Friedrich als unser Reichtum des Friedens und der Zufriedenheit verloren:

Die beiden Genossen verfaßten sofort Briefe vom Herzog von Tuskan, dem Grafen von Ankona, dem Fürsten von Milan und anderen, worin diese den Kaiser vor seinem Sohn warnten, weil derselbe daran denke, seinen Vater der Herrschaft zu berauben und gefangenzunehmen. Er habe bereits, so hieß es in den gefälschten Schriften, viele Burgherren, wie auch die jungen Herlungen zu Breisach, für sich gewonnen, und diese alle würden für den Verräter die Waffen ergreifen, wenn man ihn öffentlich gefangennehmen lasse. Diese Briefe gelangten nacheinander an, alle mit Wappen und Siegel der Fürsten versehen. Der argwöhnische Herrscher zweifelte nicht, war in schwerer Sorge und wußte keinen Rat. „Herr“, sagte der Marschalk, „da hilft kein Erbarmen. Sende den kühnen Verräter alsbald zum König Randolt ins Wilkinenland, daß er den Zins fordere. Gib ihm aber einen Brief mit, worin dem König befohlen wird, er solle den Boten sogleich töten.“ Der ratlose Kaiser handelte nach den Worten des falschen Dieners, und der junge Recke starb also nach dem Willen und auf Befehl des Vaters. Die Tat wurde durch die Verräter selbst als Gerücht verbreitet. Ein Schrei des Entsetzens und der Abscheu gegen den grausamen Herrscher ging durch das ganze Land und machte den Kaiser mehr und mehr verhaßt. Auf etwas andere Weise kam Ermenrichs zweiter Sohn Reginbald durch ein morsches Fahrzeug (Schiff) auf einer Fahrt nach England um.

Dem Verlust des Friedens folgt dann auf der Fahrt in das „enge Land des Bewußtseins“ der Verlust von Reginbald als die Macht der Herrschaft bzw. Selbstbeherrschung. Das „morsche Fahrzeug“, für das der Ego-Verstand sorgte, wäre dann das Festhalten an den vergänglichen Formen der Körperlichkeit. So erfahren wir nun, wie der Kaiser von großen Mächten überwältigt wird, die wir bei Osantrix als die vier gewaltigen Riesen von Begierde, Haß, Unwissenheit und Wut kennengelernt haben, und die nun auch hier dem Ego-Verstand von Sibich und Ribestein in der Gedankenmühle dienen. Entsprechend folgt der Verlust von Randwer als Wehrfähigkeit bzw. Wahrhaftigkeit:

Noch war Randwer, der dritte und letzte Sohn, übrig, ein blühender Jüngling, an dem kein Falsch war. Die mörderischen Ratgeber erregten in dem Kaiser den Verdacht, er habe verbotenen Umgang mit seiner schönen und makellosen Stiefmutter Swanhild, welche der alternde Herrscher noch zu sich auf den Thron erhoben hatte. Als einstmals Ermenrich mit Gefolge von der Jagd heimkehrte, sah er am Saum des Waldes, wie Randwer der edlen Frau einen Blumenstrauß reichte. Nun wurde sein Verdacht zur Gewißheit. Er geriet in eine solche Wut, daß er nicht mehr wußte, was er sprach und tat. Er befahl, Swanhild vor die Pferde zu werfen und den Sohn an den Galgen zu hängen. Die Rosse scheuten vor den sonnenglänzenden Augen der Frau, als aber ihr Angesicht verhüllt wurde, mußte sie unter den Hufen der heftig angetriebenen Pferde sterben. Harmvoll saß nun Ermenrich in seinem reichverzierten Gemach und gedachte, wie er bei aller Fülle doch so arm an Freude sei. Da flatterte ein Vogel an sein Fenster, als ob er Einlaß begehre. Er öffnete und erkannte an dem roten Halsband Randwers Habicht. Derselbe setzte sich auf ein Gesims und fing an, sich die Federn auszuraufen, die zu den Füßen des Kaisers fielen. Darin erkannte dieser sein eigenes Schicksal, denn er hatte sich ja wie seiner Kinder auch seiner Kraft beraubt. Er sprang auf, sandte Gegenbefehl und gebot, daß man den Sohn eilends vor ihn führen solle. Dann wartete er voller Angst. Endlich brachte man ihn, aber nur seine Leiche. Er war nun in seinem Reichtum ein kinderloser und darum armer Mann. Die ganze Nacht hindurch fand er keine Ruhe auf seinem weichen Lager. Er irrte durch die Prunkgemächer, aber überall sah er das bläuliche Totengesicht seines erwürgten Sohnes und den zertretenen Leib der einst geliebten Swanhild.

So verliert nun der Kaiser im Gaukelspiel der Illusion durch den Ego-Verstand auch die reine Seele, mit der er sich als gereifte Vernunft vereint hatte, deren Name Swanhild an eine Meerfrau erinnert, ähnlich wie in der Geschichte von Wittich. Diese reine Seele der Natur läßt er von der äußerlichen Körperlichkeit zertreten und töten, was erst möglich wurde, als ihr reines Licht verdeckt worden war. Gleichzeitig tötet er damit auch seinen letzten Sohn, und jegliche Wahrhaftigkeit geht verloren, die doch unsere wichtigste Rüstung in dieser Welt ist. Obwohl er sein Schicksal als „Hab-Ich“ erkennt, kann er scheinbar nichts mehr dagegen tun. Was könnte er auch tun, ohne eine reine Seele, ohne Zufriedenheit und Selbstbeherrschung, ohne die Rüstung der Wahrhaftigkeit? So bekommt der Name Ermenrich eine neue Bedeutung als „ärmlich im Reichtum“, also nicht der Reichtum wahrer Armut, sondern die Armut als Mangel im Reichtum. Der Unterschied klingt gering, ist aber gewaltig und schmerzlich.

„Weißt du, Ribestein“, sagte der Marschalk zu seinem Ratsgenossen, „daß wir ein gutes Stück vorwärtsgekommen sind! Der Kaiser hat keine Freude und keine Erben mehr, als die Herlungen Imbreke und Fritele, die mit ihrem Pfleger Eckehart zu Breisach am Rhein sitzen, und dann den Berner Dietrich. Die beiden sind wie Dietrich die Kinder seiner Brüder. Du bist ein Fremdling in Romaburg, daher will ich dir die Geschichte erzählen: Der Vater Ermenrichs hinterließ außer ihm noch zwei Söhne, nämlich Dietmar, den Vater des Berners, der das Lombardenland erhielt, und Diether, genannt Herlung, dem der Vater noch zu Lebzeiten zwar nur Breisgau am Rhein zuerkannte, aber dazu noch seinen unermeßlichen Schatz roten Goldes. Wenn wir nun die Herlungen und den Berner zu Fall bringen, dann - mach die Augen und Ohren weit auf! - sind wir die Erben.“ Ribestein schnalzte wie ein Fisch, der sich vor Wohlbehagen aus dem Wasser emporschnellt, denn zu solcher Höhe war er mit den Fledermausflügeln seiner Gedanken noch nicht aufgestiegen. Er begriff aber schnell und wußte den richtigen Weg zu finden.

Stammbaum Wolfdietrich, Hugdietrich, Amelung, Samson, Ermenrich, Dietmar, Diether, Dietrich, Amelolt, Alphart, Herbrand, Hildebrand, Hadubrand

Der Name Diether läßt sich von „heri“ für Heer und „Diet“ für Volk oder Menschen ableiten und erinnert uns damit an die Kampfkraft des Menschen, die sich in den kämpfenden Herlungen verkörpert. Entsprechend können wir in dem „unermeßlichen Schatz roten Goldes“ auch die Lebenskraft sehen, die sich nun der Ego-Verstand am Rhein als Fluß des Lebens aneignen will. Diether selbst scheint im Kampf für die Ziele des Kaisers bereits gefallen zu sein, aber hat zwei junge Söhne als Brüder hinterlassen, die uns symbolisch daran erinnern, daß die Lebenskraft natürlich eng mit dem Bruderspiel der scheinbaren Gegensätze verbunden ist, wie zum Beispiel Krieg und Frieden, Nehmen und Geben oder Entstehen und Vergehen. Doch normalerweise gehört hier noch eine dritte Kraft dazu, um dem Spiel der Gegensätze eine Richtung zu geben, wie jeder Fluß zwei Ufer und eine Neigung braucht, oder jeder Weg zwei Ränder und eine Richtung. Diese könnten wir in Bolfriana sehen, die vielleicht ihre Schwester war und nach dem frühen Tod des Vaters und wohl auch der Mutter ein Mündel des Kaisers wurde, während sich Eckehart als „harte Schneide“ um die beiden Söhne kümmerte, die nun als Lebenskraft des Kaisers bzw. Diener der ganzheitlichen Vernunft ebenfalls getötet werden sollen:

Zunächst wurden die Herlungen verdächtig gemacht. Man überbrachte dem Kaiser Briefe und Urkunden von Imbreke und Fritele, sowie von ihrem Pfleger Eckehart, worin zum Abfall von dem mordsüchtigen Lehnsherrn aufgefordert wurde. In einem solchen Schreiben hieß es: „Zumal unser übler Lehnsherr auch seine eigenen Kinder umgebracht hat, muß er selbst an den höchsten Galgen gehängt werden.“ Dies versetzte den Kaiser in solche Wut, daß er sogleich beschloß, mit Heeresmacht gegen die ungetreuen Neffen vorzurücken. Recken und Dienstmannen wurden aufgeboten, ohne daß man wußte, gegen wen die Heerfahrt gerichtet war. Der Zug ging nach dem Rhein gegen die Treueburg. Sie gehörte den Herlungen, und beide Brüder hatten daselbst ihren Sitz. Zwei Reiter hielten am Fluß Wache, und als sie das Kriegsvolk erblickten, argwöhnten sie einen Überfall, saßen ab und schwammen, die Rosse nachziehend, über das Wasser. Sie riefen die Fürsten, die Wehrmänner zu den Waffen, die Mauern wurden besetzt und die Geschosse aufgestellt. Kaum war die Rüstung hergerichtet, so rückte das feindliche Heer vor die Burg. Imbreke und Fritele waren zwar des Kampfes kundig, aber noch sehr jung an Jahren, und Eckehart, ihr treuer Pfleger, saß unkundig der drohenden Gefahr zu Breisach, wo er mit der Landesverwaltung beschäftigt war. Noch hofften die Herlungen ein gütliches Abkommen, da sie die Banner ihres Onkels erkannten, aber dieser ließ zur Übergabe auffordern, und als die Tore nicht geöffnet wurden, sogleich den Sturm beginnen. Wittich und Heime waren als Lehnsmänner bei diesem Heer, aber sobald sie des Kaisers Absicht erkannten, ritten sie fort nach Breisach zu dem getreuen Eckehart, um ihm die Geschichte zu berichten, und wurden auf dem Weg wieder gute Gesellen.

Der Sturm dauerte indessen den ganzen Tag, und Sibich ließ Brandgeschosse in die Gehöfte schleudern, und wie zu Gerimsheim erzwangen die lodernden Flammen die Übergabe. Ohne die Neffen vor sich zu lassen, befahl Ermenrich, einen Galgen zu errichten und beide Brüder daran aufzuhängen. Das Wort eines ungezügelten Machthabers ist ein scharfes Messer, das den Tod bringt, und so war es auch hier. Darauf nahm der Kaiser ganz Herlungenland in Besitz und ließ eifrig nach dem reichen Schatz forschen, den die ermordeten Fürsten von ihrem Vater ererbt hatten. Man fand ihn nach langem Suchen in einem hohlen Berg. Mit dem Gold belohnte das Oberhaupt seine Dienstleute reichlich und behielt doch noch einen großen Teil für sich. Heime war inzwischen wieder zu dem Heer gekommen. Er wollte dem gekrönten Übeltäter seine Untat vorhalten, ihm die Treue kündigen, als er aber einen reichlichen Anteil an der Beute erhielt, vergaß er sein Vorhaben. Er wurde auch mit Überführung des Schatzes nach Romaburg betraut. Als er dann die Menge roten Goldes und viele Kleinodien vor sich sah, sorgte er dafür, daß nicht alles nach Romaburg, sondern ein reichlicher Teil in des Studas Gehöfte gebracht wurde.

Klar, vor allem die egoische Körperlichkeit glaubt, sich dieses rote Gold der Lebenskraft aneignen zu müssen, um leben zu können, obwohl sie doch von der Natur gegeben wird und sogar in der Tiefe der Berge bzw. Materie zu finden ist. Dazu verführt natürlich der Ego-Verstand und versucht damit, die Körperlichkeit an sich binden, was dann wiederum zum Fluch der Vernunft wird:

Wiederum fluchte man in allen Landen dem ruchlosen Kaiser, der sein eigenes Geschlecht nicht schonte. Am meisten aber geschah dies in Bern, wohin Eckehart die Botschaft brachte. Dietrich wollte sogleich Buße für die an den Herlungen begangene Übeltat fordern, aber Hildebrand riet ab, indem er an die große Macht des Kaisers erinnerte. Eckehart schwur, er wolle an dem ungetreuen Kaiser Rache nehmen, noch mehr aber an seinen bösen Ratgebern Sibich und Ribestein, die an allen Greueltaten Schuld trügen. Diese wolle er an den Galgen bringen oder eigenhändig hängen. Dazu drängten auch seine beiden Gesellen, der junge feurige Held Alphart und sein Bruder Sigestab, die den Herlungen wohlbefreundet gewesen waren. Sie forderten augenblicklichen Aufbruch gegen die Mordgesellen und waren entschlossen, auch ohne Kriegsmannschaft nach Romaburg zu fahren und mit Eckehart die Rache zu vollstrecken. Amelolt, ihr Vater, schalt sie Tollköpfe, und da Hildebrand verständig und liebreich zuredete, ließen sie sich den Aufschub endlich gefallen. „Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“, sprach Alphart zu seinem Bruder, indem er an sein Schwert schlug.

Eckehart als Pflegevater der Herlungen bzw. der menschlichen Lebenskräfte erkennt natürlich seine eigentlichen Feinde im Ego-Verstand von Sibich und Ribestein. Der Name Eckehart erinnert an „Härte der Schneide“ bzw. „Kraft der Gegensätze“, Alphart bzw. Albhart deutet auf die Kraft der Naturgeister hin, und Sigestab auf die Führung zum Sieg über das Ego im großen „Sieg-Frieden“. In manchen Sagen wird Wolfhart als ihr Bruder beschrieben, den wir als angeborene tierhafte Körperlichkeit kennengelernt haben. Diesbezüglich könnte man in den drei Brüdern auch die Dreiheit von Vernunft, Verstand und Körper sehen. Ihr Vater Amelolt ist nach Karl Simrock vermutlich ein Nachkomme von Amelbrand, einem Bruder von Herbrand und Sohn von Berchtung im Stamm der „Wölflinge“ als Verstandeswelt. Obwohl uns das „Amel“ auch an die Amelungen erinnert, dem Stamm von Samson, der „Schöpflinge“ im Reich der körperlichen Schöpfung, das Reich der kleinen Steinchen und mächtigen Felsen:

„Wieder ein Steinchen aus dem Weg geräumt!“, sagte Sibich zu seinem Gesellen Ribestein: „Nun liegt noch ein Felsen auf unserer Straße, der beiseite zu schaffen ist. Ich meine den Berner mit seinen Kämpfern. Könnten wir seine Gesellen einen nach dem andern für unsere Genossenschaft gewinnen, dann würden wir auch den grimmigen Löwen samt dem Wolf Hildebrand bewältigen. Mit Wittich und Heime ist der Anfang gemacht. Die sind durch den Köder des Goldes und das Versprechen fürstlicher Ehren und Länder ganz zu unserem Dienst. Wir haben noch mehr rotes Gold, Güter und Ehren in der Tasche. So berücken wir die Recken, bis sie, wie die Fische an der Angelrute, in unseren Netzen zappeln.“ - „Mich will bedünken“, antwortete Ribestein, „als sei dies keine leichte Sache. Es gibt Leute, die nicht anbeißen wollen, Dümmlinge mit harten Köpfen. Von dieser Art scheinen mir die Berner Gesellen der Wölflinge und Amelungen zu sein.“ - „Wohl“, schloß der Marschalk, „dann brauchen wir Gewalt. Kein Fels ist so hart, daß ihn nicht der Zwerg mit seinen Geräten aushöhlt. So ist auch kein Schädel so fest, daß ihn nicht das Schwert zerspalte. Dann gibt es auch noch Zankäpfel, die man unter die Narren wirft, und endlich Gift, Dolch und andere Mittel, die ein kluger Mann zu handhaben weiß. Unser Oberhaupt liegt auf der Folterbank und sieht Tag und Nacht seine Neffen am Galgen zappeln. Wir müssen ihn auf andere Gedanken bringen, daß er mit Neid auf die Macht des Berners blickt und fürchtet, der Held könne ihm selbst noch Gefahr bringen. Dann kommen wir Schritt für Schritt weiter.“

Das Werk, welches Sibich so klug in seiner Schmiede geglüht und hergerichtet hatte, gedieh doch nicht nach seinem Wunsch. Denn er wollte langsam voranschreiten, zuerst die kühnen Gesellen des Berners in Ermenrichs Dienst ziehen, dann durch allerlei Trugspiel Dietrich selbst gefangennehmen oder auch meuchlings ermorden. Als er aber am Morgen zu Ermenrich eintrat, war dieser unwirschen Mutes. Er hatte wieder die ganze Nacht mit den Gespenstern der von ihm Ermordeten gekämpft, und wenn er solche Pein erlitt, war er immer sehr zornmütig. Nun redete der Marschalk von dem guten Recht des Kaisers auf das ganze Reich seines Vaters, wie er von allen Ländern Zins erhalte, nur nicht von dem kühnen Berner, der sich sogar mit seinen Gesellen berate, wie er den Mord der Herlungen rächen wolle. Da rief Ermenrich, der Marschalk solle sogleich alle Dienstmannen aufbieten, Söldner anwerben und zur Heerfahrt nach Bern rüsten. Sibich wagte, zum Aufschub zu raten, aber der zornige Herrscher schlug ihn mit der Faust zu Boden und hieß ihn seinen Befehl vollziehen. Der geduldige Hofmann erhob sich wieder demütig vor seinem Herrn, obgleich ihm Blut aus Mund und Nase floß. Er versprach Treue und Gehorsam ohne Einrede, und dies brachte den zornigen Herrscher zur ruhigen Besinnung. Er meinte nun selbst, es sei wohlgetan, wenn man vorerst Schatzung von den Landherren im Amelungenland fordere, und wenn diese verweigert werde, Fehde ansage, und mittlerweile zum Krieg mit aller Macht rüste. Für diesen Zweck wurde Reinhold von Milan (Mailand) in das Amelungenland entsandt, um den Zins zu erheben.

Nach einigen Wochen kehrte der Sendbote mit leeren Händen zurück und berichtete, die Landherren hätten sich der Steuer geweigert, weil sie solche schon an den König von Bern entrichteten. Dann sei Dietrich selbst gekommen und habe ihm gesagt, er solle zu dem Mörder der Herlungen fahren und ihm Botschaft bringen, daß er sich den Zins selber holen möge, wenn er noch nicht genug an dem Herlungengold habe. Der Zins werde ihm dann mit Speerspitzen und scharfen Schwertern bis auf die letzte Mark reichlich bezahlt.

Der Kaiser wurde abermals so zornig, daß er schier den Boten erwürgt hätte. Da trat nun gerade Heime ein, der dem Oberhaupt von dem Abfall des Herzogs von Spoleto berichten wollte. Ermenrich ließ ihn nicht reden, sondern befahl ihm, ohne Aufschub nach Bern zu ziehen und dem Berner anzusagen, er solle entweder Zins zahlen, oder das Land eilig räumen, wenn er nicht am Galgen hängen wolle. Der sonst unverzagte Recke wagte gegen den ergrimmten Oberherrn keinen Widerspruch, obgleich er ungern die Botschaft übernahm.

Heime wurde in Bern wohl aufgenommen, und Dietrich glaubte, er wolle ihm seine Treue beweisen. Als er darauf des Kaisers Forderung ansagte, rief ihm der Berner seinen Eid und die gelobte Treue ins Gedächtnis zurück. Er entschuldigte sich, indem er sagte, er habe ihm für das, was er empfangen hatte, gute Dienste geleistet. Aber nun sei er Lehnsmann des Kaisers, der ihm Geld und Gut zur Miete gegeben habe. Er sei demselben jetzt ehrlichen Dienst schuldig. Damit nahm er seinen Abschied.

Heime war noch nicht lange fortgeritten, da erschien Wittich und jagte durch die Tore von Bern, so schnell Skemming laufen konnte. „Seid wacker und säumt nicht, tapfere Gesellen!“, rief er, ohne vom Roß zu steigen: „Ermenrich ist schon mit unzählbarem Heer auf dem Weg hierher. Ich bin vorausgeritten, euch die Botschaft zu bringen. Der ungetreue Sibich vermeint, euch ungewarnt zu überfallen, und wer dem in die Hände gerät, der hat nicht weit zum Grab.“ Auch ihn erinnerte Dietrich an seine gelobte Treue, aber er entschuldigte sich wie Heime und trabte wieder seines Weges zurück.

So haben wir nun aus geistiger Sicht erfahren, wie die herrschende Vernunft als Kaiser durch die Gedankenmühle des Ego-Verstandes von Sibich und Ribestein gefallen ist, und wie nun auch die Dietrich-Vernunft überwältigt und sogar zerstört werden soll bzw. muß. Doch wie kann so etwas geschehen? Wenn die Vernunft ein ganzheitliches Bewußtsein ist, kann doch nichts von außerhalb kommen und die Vernunft überwältigen. Ja, all die Gesellen, die hier im Reich der Vernunft ihre Rollen spielen, können nur innerhalb der Vernunft existieren. Und die Geschichte macht auch deutlich, daß dies nur durch eine innerliche Trennung und Spaltung geschehen kann, und daß die Hauptkräfte für diese Spaltung der Ego-Verstand und die egoische Körperlichkeit sind. Dadurch entsteht die wohlbekannte Ego-Blase im Bewußtsein, und im Reich dieser Ego-Blase darf natürlich keine Vernunft als ein ganzheitliches Bewußtsein existieren. Ja, die Vernunft wird noch eine Weile kämpfen, solange sie noch hilfreiches Karma und Lebenskraft findet, doch dann verschwindet sie, solange die Ego-Blase besteht und herrscht. Sie kann natürlich nicht ganz verschwinden. Wohin auch? Doch sie wird verdeckt und verdunkelt, wie es auch in der Bibel heißt: Das Licht scheint in der Finsternis, doch die Finsternis kann es nicht erkennen. Und das ist nun auch das Schicksal von Dietrich:

Die Nornen (Schicksalsgöttinnen), von denen man damals noch viel zu erzählen wußte, schienen ihre dunklen Gespinste über das Haupt des Berner Helden geworfen zu haben, denn es traf ihn ein Schlag nach dem anderen. Von Wittich eilte er fort zu der kranken Königin Virginal. Er hielt sie die lange Nacht hindurch in den Armen, doch am Morgen verschied sie, und der Schmerz um die teure Lebensgefährtin raubte ihm die Besonnenheit, in der herandringenden Not mit rascher Entschlossenheit zu handeln. Es kam eine schlimme Botschaft nach der andern. Der Kaiser war, wie Wittich gesagt, in schnellem Anzug. Er hatte den Herzog von Spoleto samt seiner unzulänglichen Mannschaft erschlagen, das Land ausgeraubt, desgleichen die Mark Ankona, und stand mit unzählbarem Heer bei Milan (Mailand). Indessen war Meister Hildebrand nicht untätig gewesen. Nach seiner Weisung waren die Landherren und Dienstmannen in Rüstung aus ganz Amelungenland versammelt. Boten waren zu den verbündeten Fürsten in der Nähe und Ferne geritten, und in der Nacht vor dem Tod der Königin rückten Berchtung von Pole (Pula in Istrien) und der treue Heergeselle Dietleib von Steiermark mit zahlreichem Kriegsvolk ein. Am Morgen forderte der alte Meister den König auf, für Hab und Gut, für Land und Leute in den ehrlichen Kampf zu ziehen. Der Held von Bern ermannte sich. Noch einen Kuß drückte er auf den bleichen Mund der geschiedenen Gattin, dann bestieg er Falke und befahl den Aufbruch. Er hatte seine geliebte Frau sterben sehen, nun waren ihm Kampf und Tod willkommen.

Zuerst verabschiedet sich die reine Seele der Natur, so daß nun auch jeglicher Kampf und Gewinn an Wahrhaftigkeit verliert und mehr vom Verstand als von der Vernunft geführt wird, weshalb sich im Folgenden auch der Ego-Verstand weder gefangennehmen noch besiegen läßt:

Die Fahrt ging eilends nach Milan. Späher verkündigten, das feindliche Heer lagere unbesorgt einige Meilen entfernt auf offenem Feld. Weil der Abend nahe war, wurde der Angriff auf den nächsten Morgen verschoben. Mit Anbruch der Nacht ritt Hildebrand, begleitet von einigen Recken, auf die Spähe. Er fand die kaiserliche Macht ohne Wächter in vermeintlicher Sicherheit gelagert und blieb im Versteck, bis sich das feindliche Kriegsvolk dem Schlaf überlassen hatte. Dann trabte er um das ganze Lager und spähte, wie und wo der Angriff gelingen könne. Nach Mitternacht kehrte er zurück, berief die vornehmsten Recken zur Beratung und sagte ihnen, sie müßten alle zum Sterben bereit sein, denn das feindliche Heer sei dreifach überlegen, und man könne nur hoffen, durch nächtlichen Überfall einen Sieg zu gewinnen. „Wohlan, tapfere Männer!“, rief der Berner: „Wer nicht todesmutig ist, der weiche aus unserem Kreis und spare sein Leben für eine bessere Zeit.“ Nicht einer der Helden entzog sich der Gefahr. Sie gelobten alle, treu zusammenzustehen in Not und Tod. Auch Eckehart sagte, er wolle Leib und Leben gern lassen, wenn er nur Sibich und Ribestein zuvor fangen und aufhängen könne.

Die Hörner weckten die schlummernden Krieger, und bald war das Heer geordnet und unter der Führung des alten Meisters auf dem Marsch. Im ersten Morgengrauen kam man an die feindliche Lagerung, wo das Kriegsvolk noch in tiefem Schlaf ruhte und mancher Held von Siegesbeute träumte. Aber mancher wurde durch Speer und Schwert in den ewigen Schlaf versenkt. Der schallende Kriegsruf „Hie Bern! Hie der rote Löwe!“ schreckte das ganze Lager auf. Die nächsten Haufen suchten sich durch Flucht zu retten, aber die entfernteren wappneten sich und stürmten in den Kampf. Es waren schlachtkundige Männer, um welche sich die Flüchtlinge wieder sammelten, sodaß die Berner durch die große Übermacht hart ins Gedränge kamen. Doch Dietrich und seine Gesellen waren nicht so leicht zu bewältigen. Er selbst, der kühne Berner, kämpfte allen voran, und seine Stimme schallte wie der rollende Donner durch die Heerhaufen, die Seinen ermutigend, die Feinde schreckend, und vor dem blitzenden Eckesachs bestand kein Kämpfer. Wolfhart rief: „Da wir doch sterben müssen, so werft die Schilde auf den Rücken und faßt die Schwerter mit beiden Händen!“ Wie er gesprochen, so tat er, und ihm folgten Sigestab und Eckehart. Wittich und Heime stritten zwar ihres alten Ruhmes würdig, aber vermieden ihren vorigen Herrn und wurden endlich in die allgemeine Flucht mit fortgerissen. Meister Hildebrand hatte nämlich mit einem Heerhaufen die Feinde umgangen, und als er ihnen nun in den Rücken fiel, wandte sich die ganze kaiserliche Macht zur Flucht. Fahnen und Banner, Rosse und Rüstungen und achtzehnhundert Gefangene waren die Beute der Sieger. Sibich und Ribestein waren bei guter Zeit auf ihre Sicherheit bedacht gewesen und dadurch dem Schicksal entgangen, das ihnen Eckehart angedroht hatte. Auch Ermenrich entkam der Verfolgung und gelangte in der übelsten Laune zu Romaburg an, wo er mit jenen wieder zusammentraf. Er hatte große Lust, an Eckeharts Stelle die beiden Ratgeber hängen zu lassen, aber Sibich wußte ihn zu beruhigen. Er versicherte, er wolle in wenigen Wochen ein noch zahlreicheres Heer auf die Beine bringen, da die kaiserlichen Schätze und das Herlungengold unerschöpflich seien. Es war dies auch kein eitles Vorgeben, denn zu jener Zeit trieben sich in allen Ländern Tausende von streitbaren Abenteurern umher, die für Geld ihre Haut zu Markte trugen.

Dietrich nahm infolge des Sieges Milan in Besitz. Das war aber auch das einzige Ergebnis der blutigen Schlacht, denn es fehlte an dem, was der Feind im Überfluß hatte, an Geld. Das ausländische Kriegsvolk wurde schwierig und meuterisch, da ihm der Sold nicht gereicht wurde. Des Königs Schatzkammer war aber übel beschaffen, denn sie herbergte wegen Dietrichs Freigebigkeit niemals große Reichtümer und war jetzt durch die nötigen Rüstungen völlig geleert. Der Berner klagte den Gesellen seine Not. Da rief Berchtung von Pole: „Sei guten Mutes, kühner Held! Mit solchem Ballast kann ich ganze Schiffe befrachten! Gib mir Bedeckungsmannschaft mit, dann schaffe ich dir fünfhundert mit Erz, Silber und Gold beladene Lasttiere in kürzester Frist zur Stelle. Du hast oft deinen Schildbrecher gegen die Riesen flammen lassen, die mein Reich bedrängten. Nun ist es mir Wonne, der Not zu Bern abzuhelfen.“ Sofort bestiegen elf tüchtige Gesellen nebst hundert Kriegsknechten ihre Hengste und ritten mit Berchtung nach Pole.

Nachdem Ilsan wieder in sein Kloster gegangen war und Wittich und Heime zum Kaiser übergetreten waren, hatte Dietrich noch sieben Gesellen, nämlich Hildebrand, Hornboge, Helfrich, Ruotwin, Wolfhart, Wildeber und Dietleib. Dazu kommen Eckehart mit Alphart und Sigestab sowie Berchtung als elfter. Berchtung hieß auch der Großvater von Hildebrand, und der Name erinnert an den „hell Glänzenden“. In ähnlicher Rolle erscheint nun Berchtung von Pole zusammen mit Dietleib zum Kampf, wie auch die Kraft der Freigebigkeit und Vergebung eng mit dem Licht verbunden ist, und wir bereits den Wunderspruch zitiert haben: „Ich bin das Licht der Welt, denn ich habe der Welt vergeben.“ So zeigt sich nun auch hier das Licht bzw. reine Bewußtsein als eine ewige Quelle unerschöpflicher Lebenskraft, die natürlich von den Gesellen der Vernunft zum Kampf herangeholt werden soll, was hier wunderbar symbolisch beschrieben wird.

Das Gewerbe wurde gut zu Ende geführt, und fünfhundert Lastrosse trugen den Schatz, behütet von blanken Schwertern gegen Raub. Die Beschützer gönnten sich auf der Fahrt nur kurze Rast, als sie aber an den Gardensee (Gardasee) kamen, wo der Wasserfall rauschte und sich die Sterne in den Fluten spiegelten, meinte Hildebrand, hier in seinem Reich der Wölflinge (Wölfinge) sei kein Raubüberfall mehr zu befürchten, da könnten sie friedlich rasten. Den wegmüden Männern war das eine gute Botschaft. Sie schmausten reichlich von den mitgebrachten Vorräten und sanken bald auf dem weichen Rasen in Schlaf. Hildebrand wollte zwar mit den zehn Recken wachsam bleiben, aber die rauschenden Wellen sangen auch ihnen ein Schlummerlied, dem sie nicht widerstanden. Ehe der Tag graute, wurden sie unsanft geweckt. Wilde Gesichter starrten sie an, starke Hände knebelten sie, als sie schlaftrunken aufzuspringen versuchten. Hohngelächter betäubte sie, vier der Recken, die ihre Schwerter zur Hand hatten und Widerstand versuchten, wurden niedergeschlagen und mit den übrigen samt den beladenen Lasttieren fortgeführt. Der das alles veranstaltete, ritt dem Zug voran, und die Gefangenen erkannten in ihm den ungetreuen Sibich, ihren Todfeind. Der Marschalk, der überall seine Späher hatte, war von der Geldnot in Bern und der Fahrt nach Pole unterrichtet worden. Er hatte sich mit Kriegsvolk am See in Hinterhalt gelegt und den Überfall ausgeführt. So waren die tapfersten Helden der List des tückischen Mannes erlegen.

Hier lesen wir nun, wie das Ego geschäftig seine Bewußtseinsblase bewacht und sich auf jede Lebenskraft stürzt, die hereinkommt, um sich diese anzueignen, und nach Möglichkeit auch die tragenden Kräfte gefangennimmt, die der Vernunft dienen wollen. Denn die ganzheitliche Vernunft ist natürlich der größte Feind eines Bewußtseins, das sich in einer Ego-Blase vom Ganzen abtrennen will. Im Gardensee bzw. „Garten-See“ können wir ein Symbol des angesammelten Gedächtnisses sehen, in dem sich unsere ganze Welt spiegelt. Da ist auch das körperliche Reich der „Wölflinge“, und dieses Reich des begrifflichen Verstandes ist natürlich niemals vor dem Ego sicher. Wenn sich der Verstand vom Wasserfall der Gedanken berauschen läßt und in eine Traumwelt entschlummert, dann hat das Ego als trennendes Bewußtsein ein leichtes Spiel, um den Verstand mit all seinen Gesellen zu überwältigen. Nur die Kraft der Vergebung konnte entkommen, weil sie nicht so nah am Schatz ruhte, denn sie hatte natürlich den geringsten Beschützerdrang aller Gesellen. Vielleicht gönnte sie dem Ego-Verstand sogar die Lebenskraft nicht weniger als der Vernunft, wie auch im Menschenkörper von „Dietleib“ beide ernährt werden, und kehrt dann mit ihrer Botschaft zur Vernunft zurück:

Nur ein Recke war dem Unglück entronnen, und das war Dietleib, der kühne Held von Steiermark. Er ruhte seitwärts unter dichtem Gebüsch, als der Hinterhalt hervorbrach. Er hieb aufspringend einige Angreifer nieder, bestieg sein Pferd und entrann nach Bern, um die traurige Botschaft zu überbringen. Er fand daselbst große Unruhe, denn Ermenrich war mit Heeresmacht wieder ins Land eingefallen, hatte Milan, Raben (Ravenna) und Mantua eingenommen, während die unbesoldeten Kriegsknechte ihren Dienst verweigerten. Als nun der Steierer seine Botschaft ausrichtete, verließ ein weiterer Teil des Kriegsvolkes die Banner Dietrichs, und viele Kämpfer traten sogar zum Feind über. Die Recken und Kämpfer, welche Treue bewahrten, waren freilich entschlossen, mit ihrem Herrn in den Tod zu gehen, aber die Schar war gering gegen die kaiserliche Macht. Es wurde sofort Botschaft an Ermenrich gesandt, daß der Berner die in der Schlacht gefangenen Kriegsleute gegen Lösung seiner Recken freigeben wolle. Die Antwort war, der Berner möge mit dem Volk verfahren, wie er wolle, die Recken in kaiserlicher Haft würden gehängt. Das war die schlimmste Botschaft, die Dietrich jemals erhalten hatte. Da erhob sich Frau Ute, die hochherzige Ehefrau Hildebrands, begab sich mit anderen Edelfrauen in das feindliche Lager und trat vor Ermenrich. Sie bot für die Lösung der Gefangenen ihr Geschmeide und das aller Frauen und Jungfrauen zu Bern. Doch Ermenrich ging sie hart an: Was sie böte, sagte er, sei ihm schon verfallen. Wolle der König seine Gesellen lösen, dann müsse er mit denselben ohne Rüstung, Waffen und Rosse zu Fuß mit dem Bettelstab in der Hand das Land verlassen. Das ertrug Hildebrands Frau nicht. Sie hatte sich vor dem Thron auf die Knie niedergelassen, doch jetzt erhob sie sich mit den Worten, die Helden würden wie ihre Frauen zu sterben wissen, nicht aber wehrlos am Bettelstab durch das Land wandern! Auf Sibichs Rat gab darauf der Herrscher den Bescheid, der Berner dürfe mit seinen Gesellen und wer ihm noch anhänge, mit Waffen und Rüstung, aber zu Fuß und die Rosse am Zügel geführt, das Land verlassen, sonst würden die Gefangenen ohne Gnade am Galgen erhängt. Das wäre sein letztes Wort, und die Frauen entfernten sich in tiefer Trauer.

Aus geistiger Sicht erscheint nun Ute als „Erbin“ und Seele der Natur, die als Prinzip der Verursachung dafür sorgt, daß in der Natur nichts verlorengeht. Und vermutlich erkennt auch Sibich, daß es nicht gut ist, die Gesellen von Dietrich zu töten, denn damit könnte er Wittich und Heime wieder verlieren. So reicht es ihm, wenn die Vernunft und ihre Gesellen kampflos das Reich der Ego-Blase verlassen, so daß sie deren Herrschaft nicht mehr stören. Ja, daran scheint auch unsere heutige Regierung zu arbeiten…

Über die Symbolik mit den Rossen kann man viel nachdenken. Wie der begriffliche Ego-Verstand gewöhnlich stolz auf dem Roß der Körperlichkeit reitet und darüber zu herrschen meint, so soll wohl nun die Vernunft der Körperlichkeit untertänig sein, wie auch heute noch viele Naturwissenschaftler den unbegreifbaren Geist gern der Materie unterordnen wollen. Und hier geht es natürlich darum, die Macht der ganzheitlichen Vernunft zu brechen, damit der begriffliche Ego-Verstand seine Macht behalten kann.

Als Dietrich die schlimme Nachricht erhielt, kämpfte er lange mit sich selbst. Er hatte schon oft mit geringer Macht Sieg erlangt, und es war auch jetzt noch möglich, aber sollte er den lieben Meister Hildebrand, den edlen Berchtung, die kühnen Recken Hornboge, Helfrich, Ruotwin, Wolfhart, Wildeber, Eckehart, Alphart und Sigestab dem schmählichen Tod am Galgen preisgeben? Er rang mit sich in schwerem Seelenkampf, und endlich beugte sich sein stolzes Haupt unter der Notwendigkeit: Er gab seine Zustimmung zu dem Vertrag. Die gefangenen Gesellen erhielten Waffen und Hengste zurück und begleiteten ihren Herrn nebst anderen Getreuen, in allem dreiundvierzig Mann, auf dem traurigen Zug. In Bern war viel Weinens um den geliebten König, der selbst sein edles Roß führte und die Verwüstungen sah, welche der Feind bereits angerichtet hatte. In allen Landen aber sprach man mit Betrübnis von der Flucht Dietrichs und seiner Gesellen.

So zieht sich nun Dietrich kampflos und scheinbar besiegt aus dem Reich von Kaiser Ermenrich zurück, und so geschieht es auch in einem Menschen, daß sich die Vernunft scheinbar kampflos zurückzieht, wenn der Ego-Verstand die Herrschaft ergreift, sich über die Vernunft stellen will und ihr jegliche Lebenskraft entzieht. Und wie sich die Gesellen der Vernunft um die Lebenskraft sorgten, so sorgt sich nun die Vernunft zusammen mit der Seele der Natur um die Gesellen und rettet sie vor dem Tod, indem sie sich selbst demütig zurückzieht. Ja, auch dazu muß die Vernunft fähig sein, zur Demut im Dienen, die wir in der Nibelungensage auch von Siegfried kennengelernt haben. Doch wohin kann sich ein ganzheitliches Bewußtsein zurückziehen?

Auch außerhalb des kaiserlichen Gebiets wollten die Helden ihre Hengste nicht besteigen, denn der König, der auf dem Weg über das wilde Gebirge kein Wort sprach, verweigerte es. So zogen die Männer auch durch das schöne Donauland und näherten sich der Burg Bechelaren, wo Markgraf Rüdiger, der Milde und Gütige, seinen Sitz hatte. Frau Gotlinde, die Ehegattin des Markgrafen, stand mit ihrem lieblichen Töchterchen auf dem Söller und sah mit Verwunderung die Recken von ferne, deren Rüstungen in der Sonne glänzten. Sie erkannte auf Dietrichs Schild den rotgoldenen Löwen und auf dem Hildebrands die drei Wölfe, das Wappen der Wölflinge von Garden. Eilends ging sie zu ihrem Eheherrn und sagte ihm, daß der Berner mit seinen Gesellen bei ihnen Einkehr nehmen wolle. Das war eine frohe Botschaft. Beide Ehegatten bestiegen die Rosse und ritten mit Gefolge den werten Gästen entgegen. Als Rüdiger die Helden zu Fuß daher wandern sah, stieg er ab und wollte den Führer als König begrüßen, aber der wehrte ab und sprach: „Du siehst, lieber Rüdiger, einen armen, hilflosen Flüchtling vor dir, der keine Lagerstätte mehr für sein müdes Haupt hat.“ Er sprach nicht weiter, und daher ergriff Hildebrand das Wort und berichtete die ganze Begebenheit. „Wohlan, edler Held von Bern, und ihr, tüchtige Gesellen!“, sagte Rüdiger: „Was mein ist, das ist euer: Gewänder, Rüstzeug, Rosse und Kriegsknechte. Kehrt in mein gastliches Haus ein und nehmt es zur Herberge nach den bestandenen Mühsalen.“

Das Wappen der körperlichen „Wölflinge“, das hier Hildebrand als Verstand trägt, erinnert uns mit den drei Wölfen an die drei üblichen Kräfte, die überall in der Natur im Dreiecksspiel der Gegensätze in eine bestimmte Richtung wirken. Dagegen trägt die Vernunft einen rotgoldenen Löwen als König der Tiere, wobei uns das Gold an die Wahrheit und das Rot an das Feuer des Heiligen Geistes mit der reinen Liebe erinnert, die jede Trennung heilen kann. Daß sie nicht auf ihren Pferden in das Reich von Etzel reiten, deutet wieder daraufhin, daß es hier mehr um ein geistiges Reich geht, in das man nicht auf körperliche Weise gelangen kann. So steigen dann auch Rüdiger und seine Ehefrau von ihren Rossen. Daraufhin zeigt sich die geistige Verwandtschaft von Dietrich und Rüdiger als ein ganzheitliches Bewußtsein, dem nichts, aber auch alles gehört, doch nicht im egoistischen Sinne. Diesbezüglich erinnert uns der Spruch von Dietrich auch an Christus, der sprach: »Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. (Luk. 9.58 Auch darin zeigt sich das ganzheitliche Bewußtsein der Vernunft, das der Mensch verwirklichen kann und das an keine Körperlichkeit gebunden und überall zu Hause ist.

Dietrich folgte mit seinen Gesellen dem Markgrafen und fühlte sich bald heimisch in den Sälen und Gemächern des Burgsitzes zu Bechelaren. Da war keine kaiserliche Pracht wie zu Romaburg, aber alles erschien schmuck, heiter und wohlgeordnet, die Eichentische blank gescheuert und mit Decken belegt, die Wände mit allerlei Bildwerk geschmückt, die Sitze mit Polstern bedeckt. Die Hausfrau lud zum Mahl ein. Das Töchterchen, noch ein Kind an Jahren, füllte die Becher und reichte sie, wenn sie mit dem rosigen Mund genippt hatte, den wegmüden Recken. Rüdiger führte folgenden Tages die Gäste in dem weitläufigen Gehöft herum und gab ihnen, was er verheißen hatte und was sie begehrten, auch achthundert Mark roten Goldes und Miete für die Knechte, die sie sich aus seinen Mannen auswählen mochten. Nachmittags ritt er mit ihnen durch Feld und Flur. Da waren die Äcker wohl bestellt, und das Landvolk grüßte freundlich den wohltätigen Rüdiger und seine Gäste. Man sah keine Spur von Kriegsnot, von feindlichen Riesen und Raubvolk. Wie anders wohnte hier der Frieden mit seinen Segnungen, als in dem verwüsteten Amelungenland! „Das ist eine Stätte des Friedens, der Liebe und Eintracht.“, sagte der Berner: „Könnte ich doch für immer hier Wohnung nehmen und Ermenrich samt seinen ungetreuen Gesellen Sibich und Ribestein vergessen!“ - „Auch unser zertretenes Bern? Und die gelobte Rache?“, rief Wolfhart: „Dann kehre ich allein zurück und führe den Kampf fort, bis ich den letzten Blutstropfen vergossen habe.“ - „Nicht so stürmisch, junger Held!“, versetzte der Markgraf: „König Etzel ist euch für geleistete Dienste Dank schuldig. Ich geleite euch an seinen Hof und bin Bürge, daß er euch mit Heeresmacht Hilfe bringt, damit euch Amelungenland wieder zugewandt wird.“

So findet sich die ganzheitliche Vernunft in diesem Reich des „Sieg-Friedens und der Liebe“ von König Etzel als „Schirmherrn“ der Hünen als wahrhafte Helden wieder. Und hier findet sie mit ihren Gesellen auch das nötige „Weideland“, wie man den Namen „Etzel“ deuten kann, um sich mit neuer Lebenskraft zu stärken. Und in diesem Reich des „Friedens, der Liebe und Eintracht“ möchte die Vernunft alles Leiden des Ego-Verstandes vergessen und ewig verweilen, und das könnte sie auch als reines Bewußtsein. Doch schon der Begriff „Vergessen“ erinnert uns daran, daß dazu noch eine Suppe ausgelöffelt, gegessen und verdaut werden muß, die sich die Geistnatur eingebrockt hat. Dazu meldet sich dann auch Wolfhart als angeborene Körperlichkeit und Sohn von Amelolt, der den weiteren Kampf um sein „Vaterland“ der Amelungen und Wölflinge fordert, weil das große Ziel noch nicht erreicht ist. Denn was der begriffliche Ego-Verstand im Kampf mit eigensinnigem Willen und hinterlistiger Gewalt gewinnt, kann schon prinzipiell nichts Dauerhaftes sein. Und wenn die Vernunft das Problem nicht klärt, dann will es die angeborene Körperlichkeit mit der Macht des Todes allein machen, sozusagen als Notbremse der Natur, aber auch als kurzfristigste und schwächste Lösung. So wird wohl auch die Dietrich-Vernunft noch nicht in diesem Reich des „Friedens, der Liebe und Eintracht“ ewig bleiben können, was die Geschichte später noch erzählen wird. Aber nun fragen wir uns erst einmal, wie dieses blühende Reich von König Etzel im Gegensatz zu dem verkommenen Reich von Kaiser Ermenrich entstehen konnte.


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Hugdietrichsage: Kaiser Dietwart als Hugdietrich
Dietrichsage: Samson als erster großer König der Amelungen
Dietrichsage: Dietrichs Kindheit und Jugend
Dietrichsage: Die Hochzeit mit Virginal
Dietrichsage: Die Kampfgesellen Heime und Wittich
Dietrichsage: Die Geschichte von Seeburg, Ecke und Fasolt
Dietrichsage: Die Gesellen Wildeber, Ilsan und Dietleib
Dietrichsage: Zwergenkönig Laurin und sein Rosengarten
Dietrichsage: Mönch Ilsan und Kriemhilds Rosengarten
Dietrichsage: Die Heerfahrten für Etzel und Ermenrich
Dietrichsage: Der Fall von Kaiser Ermenrich

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
[Bibel] Luther Bibel, 1912 / Revision 2017
[Eckhart] Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, Diogenes 1979
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
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