Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Hagelingsage: Die Geschichte von Hagen

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Es klingen und singen von Lust und Leid
Die Sänger der alten vergangenen Zeit;
Sie singen von Liebe und heiliger Treu',
Ein Lied, das alt ist und ewig neu.

Nachdem wir in der Nibelungensage das Wesen von Siegfried als „Sieg-Frieden“ und Sieg der Liebe kennenlernen durften, aber auch seinen tödlichen Widersacher Hagen als Ego-Wesen, und wie dieses auf Treiben von Kriemhild schließlich von Dietrich besiegt wurde, haben wir in der langen Dietrichsage versucht, das Vernunft-Wesen von Dietrich als „Reichtum des Menschen“ etwas tiefer zu ergründen. So möchten wir nun mit dieser Sage auch versuchen, das Ego-Wesen von Hagen tiefer zu ergründen, auch wenn die erzählte Handlung nicht direkt mit dem Nibelungenlied verbunden ist. Wir stützen uns hier wieder auf die Nacherzählung des langen Kudrun-Liedes von Wilhelm Wägner, der zur Sinnfindung einiges gekürzt und manches ausgebaut hat. Auch wir haben den Text in dieser Richtung noch etwas aufgearbeitet und manche Episode nach der Vorlage von Karl Bartsch und Karl Simrock nacherzählt. Nun möchten wir das Ganze aus geistiger Sicht etwas näher betrachten:

Der Name Hagen läßt sich von altdeutsch „hag“ als Umzäunung ableiten, das wir auch in „Hagazussa“ wiederfinden, die Hexe, die „den Zaun bewacht“. So deutet der Name bereits auf ein trennendes Bewußtsein hin, das dann innerhalb der Körperburg die Rolle des Egos als getrennte Person übernimmt. Und wie das in einem Menschen geschehen kann, könnte man sich symbolisch wie folgt vorstellen:

Zu Balian, der stolzen Burg des Königs Siegeband in Irland, wurde das Sonnenwendefest gefeiert. Auf Wunsch seiner Frau hatte der Herrscher die Edlen seines Reiches und noch manchen Helden geladen, um Gemeinschaft und Gastfreundschaft im Reich zu pflegen. Man beging das Fest in Wonne bei Schmaus und Becherklang. Da waren der Turnierspiele und Wettkämpfe kein Ende, während treffliche Spielleute mit Saitenspiel und Gesang die Gäste ergötzten. Auch die Kinder waren frohen Mutes, die Knaben warfen Speere und schossen mit Bogen und Pfeilen, und Königin Ute freute sich, daß ihr kleiner Sohn Hagen seine Gespielen an Kraft und Geschick übertraf. Jetzt stürmten die Knaben fort, die Geschosse wiederzuholen. Der junge Königssohn war den anderen weit voraus und bemühte sich, den Speer aus der durchbohrten Scheibe zu ziehen. Da rief ein greiser Mann den Kindern zu, sie sollten eilends zurückkehren und sich verstecken, denn es drohe ihnen Gefahr. Er deutete nach oben, indem er hinzufügte: „Ein Greif!“ Frau Ute blickte in die Höhe und sah hoch am Himmel einen dunklen Punkt, der ihr ungefährlich schien. Aber er näherte sich mit der Schnelligkeit eines Blitzes und wurde immer größer. Schon hörte man ein Brausen, wie Sturmwind, und gewaltigen Flügelschlag. Die anderen Knaben hatten sich geflüchtet, nur Hagen stand kühn mit dem Speer in der kindlichen Hand und schleuderte ihn dem entsetzlichen Vogel entgegen. Die Waffe prallte wirkungslos von dem Gefieder zurück, und im nächsten Augenblicke hatte das Untier den Knaben mit den Fängen ergriffen, flog mit ihm hoch in die Luft und entschwand bald in weiter Ferne.

Die Geschichte beginnt mit geballter Symbolik: Siegeband, der Name des Vaters von Hagen, erinnert uns an den „Sieg als Bindung“ im Gegensatz zum „Sieg als Befreiung“, und das deutet bereits den Ego-Menschen an, für den jeder Sieg neue Bindung bedeutet, weil er mit einem trennenden Bewußtsein kämpft, somit die Trennung vermehrt, und jeder Gewinn neue Angst vor Verlust bringt. Ute, der Muttername, erinnert uns an die „Erbin“ als Seele der Verursachung, die ihren Ehemann zu Gemeinschaft und Einheit drängt, um das Ego-Problem der Trennung zu überwinden, das man auch gern „Erb-Sünde“ nennt, die von Generation zu Generation weitervererbt wird, um irgendwann die Sünde im weitesten Sinn als Trennung von der Ganzheit bzw. Gottheit zu lösen. So ist diese Vererbung der Eltern-Probleme auf die Kinder auch ein Grundthema dieser ganzen Sage, wie wir noch lesen werden.

„Bally“ bedeutet in Irland „Ortschaft oder Ansiedlung“, und entsprechend erinnert uns die Burg Balian an die Körperburg, die sich der begriffliche Ego-Verstand in „Irrland“ gebaut hat, um in Raum und Zeit zu „stehen“ und sich an den Formen der Natur festhalten zu können. Dieses Ergreifen und Festhalten können wir dann auch symbolisch im Greif wiederfinden, der den jungen Hagen ergreift und aus seiner unschuldigen Kinderzeit im Schutz der Familie herausreißt und in die äußerliche Natur entführt, wo sein Kampf um das Leben und damit auch seine Jugendzeit beginnt. Hier zeigt sich bereits das große Problem der Trennung als Ursache des Leidens, das Mutter Ute mit dem Wunsch nach Gemeinschaft zu überwinden sucht und das Hagen offenbar nach dem Kampfgeist seines Vaters verkörpert hatte, so daß er nicht auf die Weisheit des Alters hören wollte, sondern das Problem angreifen und töten:

So war die festliche Freude in Klage und Jammer verkehrt. Denn wenn auch mancher Held gern den Kampf mit dem Greif gewagt hätte, so konnte er ihn doch mit dem besten Roß nicht erjagen, und wohin er geflogen war, wußte niemand. Also schieden die Gäste von den leidgetroffenen Gastgebern, jeder in seine Heimat. Der König und die Königin blieben allein zurück, und nur der herzzernagende Harm war ihr Gefährte, der auch jahrelang nicht von ihnen wich und ihnen das traurige Bild zeigte, wie der grimmige Räuber ihr süßes Kind mit Schnabel und Fängen zerriß.

Doch verhielt es sich anders mit dem Knaben. Der Vogel trug ihn über Länder und Meere bis in sein Nest, das er sich auf einem aus der Meeresflut aufragenden Felsen erbaut hatte. Daselbst legte er seine Beute den jungen, nach Äsung gierigen Greifen vor und flog dann wieder nach neuem Raub aus. Die Jungen fielen sogleich über den vorgeworfenen Fraß her, aber Hagen hatte sich schon von der luftigen Reise erholt. Auf seine Verteidigung bedacht, wehrte er kräftig die hackenden Schnäbel ab, indem er die Vögel an den Hälsen ergriff und sie würgte, daß sie laut aufschrieen. Endlich aber faßte ihn einer der Vögel, der schon flügge war und trug ihn auf einen Baumast, um die leckere Beute allein zu verspeisen. Der Ast war jedoch zu schwach, er bog sich, brach und das Untier fiel mit dem Knaben in die darunter wuchernden Dornhecken. Der Greif flatterte wieder empor, Hagen dagegen kroch in das Dickicht, wie sehr ihn auch die Dornen zerrissen, und gelangte in eine dunkle Höhle, wo er vor Entkräftung liegenblieb. Als er aus seiner Betäubung erwachte, sah er ein Mägdlein etwa seines Alters in einiger Entfernung stehen, das ihn mit Verwunderung betrachtete, aber sogleich tiefer in die Felsenhöhle entfloh, sobald er sich aufrichtete. Er hatte in der Tat ein schreckliches Aussehen. Von den Schnäbeln der Vögel und von den Dornen war er am ganzen Leib wund und blutig, dazu waren seine Kleider zerrissen, so daß sie in Lumpen um ihn hingen. Indessen hinkte und kroch er, so gut er konnte, dem Mägdlein nach und gelangte in einen größeren Raum, wo er die flüchtige Maid nebst zwei Gefährtinnen erblickte. Sie schrieen laut vor Schrecken, denn sie hielten ihn für einen bösen Zwerg oder ein Meerwunder, das sie nur verfolge, um sie mit Haut und Haaren aufzufressen. Als er ihnen aber sagte, er sei ein Königskind, von dem Greif geraubt und nur mit Not dem Ungetüm entronnen, wurden sie getrost, erzählten ihm auch ihre ganz ähnlichen Schicksale und teilten mit ihm ihre spärliche Kost, die aus allerlei Wurzeln und wildwachsenden Beeren bestand. Die eine Maid, die er zuerst erblickte hatte, nannte sich Hilde, eine Königstochter aus Indien, die zweite war Hildburg aus Portugal, und die dritte stammte aus Isenland. Die Mägdlein pflegten den jungen Gefährten, so daß seine Wunden bald heilten. Er ging nun selbst auf Beschaffung der nötigen Kost aus und wagte sich tiefer ins Land, was jene aus Furcht vor den Greifen nicht taten. Er verfertigte sich einen Bogen und mit Fischgräten zugespitzte Pfeile, womit er kleineres Wild erlegte. Aus Mangel an Feuer mußten die Kinder das Fleisch roh verzehren. Aber sie wuchsen bei solcher Kost kräftig heran, und Hagen erreichte schon im zwölften Jahr fast männliche Größe.

Die Felseninsel, die aus der Meeresflur ragte, erinnert uns an die materielle Körperlichkeit, wie sie sich aus dem Meer der Ursachen erhebt, das Greifnest trägt und gegen den Ansturm der Wellen bzw. Wirkungen trotzt. Auf dieser Insel wächst der Baum des Lebens, an dessen Wurzel in einer dunklen Höhle versteckt drei weibliche Wesen leben, die uns symbolisch an drei Schicksalsnornen oder auch Meerjungfrauen erinnern, die als Seele der Natur und Prinzip der Verursachung das Schicksal der Menschen bestimmen. Diese Seele erscheint in drei Formen, wie man in der Natur überall das Dreiecks-Prinzip der wirkenden Kräfte finden kann, um etwas zu bewegen. Und als schicksalhafte Ursachen sind sie natürlich ewige Jungfrauen, bis sie sich mit ihrem Mann bzw. Geist verbinden und auswirken können, womit sie dann sterblich und vergänglich werden, wie es auch gern von den Meerjungfrauen oder Schwanenmädchen erzählt wird. Die drei Nornen werden oft bezüglich Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit gedeutet, was auch in dieser Geschichte Sinn macht, denn sie stammen aus Osten, Norden und Westen, aus Morgenland, Isenland und Abendland. Das Isenland kennen wir aus der Nibelungensage als äußerliche Natur, sozusagen als Gegenwart der Schöpfung. Hagen verbindet sich später vor allem mit Hilde als „Kampf“ um das Werden, denn das mittelhochdeutsche „hilt“ bedeutet Kampf. Hildburg wäre dann der „Kampf um die Körperburg“, also um das Gewordene, und kümmert sich dann um die leibliche Nachkommenschaft von Hagen und Hilde. Die Gegenwart spielt bekanntermaßen für den Ego-Menschen keine große bzw. bewußte Rolle im Leben, weil er hier nichts festhalten kann, so daß er nur selten im Hier und Jetzt lebt, sondern fast immer in der Zukunft oder Vergangenheit im Spiel der Gedanken. So bekam auch diese Jungfrau aus Isenland nicht einmal einen Namen. In anderen Geschichten wurde sie gern Undine genannt, was uns an „UniDiene“ erinnert, die universal Dienende, die der Ganzheit und Einheit dient. Diese drei Formen der Seele sind irgendwie immer mit dem Schicksal eines Menschen verbunden. Die Frage ist nur, worauf er das Bewußtsein richtet.

Unterdessen waren auch die jungen Greife groß wie die Alten geworden. Sie flogen jetzt alle auf Raub aus, und der Knabe durfte aus Furcht vor ihnen keine weiten Wanderungen mehr unternehmen, weshalb seine Jagdbeute spärlicher wurde. Dennoch wagte er sich eines Abends an den Strand des Meeres. Von einer überhängenden Klippe vor seinen Feinden geschützt, sah er über das weite Meer. Im Westen sank die Sonne, dunkle Wolken stiegen auf, dumpf grollte der Donner in der Ferne. Doch darauf achtete er nicht, denn dort auf den glänzenden Wogen schwamm ein Schiff. Es kam näher und näher, brachte es Rettung, Heimkehr? Wilder schäumte die Brandung, Blitze zuckten, der Sturm erhob sich, hoch schlugen die Wellen am Ufer, und es war wie der Dichter sagt:

Es atmet tief und mächtig
Der Ozean; sein Abgrund grollt;
Die Wogen lässig schäumen,
Die Wolken dunkel säumen
Das glühende Abendsonnengold.

Er will nicht länger dulden
Der Endlichkeit umwallend Kleid;
Schon heben sich die Wellen,
Die Schranke zu zerschellen,
Die Form und Schönheit ihm verleiht.

Hinüber und herüber
Strebt er, im Zorn aufwallend schön,
Der Himmel, sein Gefährte,
Die dunkle Mutter Erde,
Schaut ihn mit Lust von sicheren Höhn.

Nur sie, der Erde Kinder,
Erbeben in dem rauhen Spiel,
Treibend auf seinem Rücken;
Wie mag vor seinen Tücken
Sie bergen noch der lecke Kiel!

Der Knabe sah auf die wildbewegten Fluten, die bald dunkel wie die Nacht dahinrollten, bald von Blitzen durchglüht ihre Wellenhäupter emporhoben. Er hörte furchtlos den schmetternden Donner, das Heulen des Sturmes und des Meeres, dessen Gischt ihn durchnäßte. Er blickte auf das Schiff, das im ungleichen Kampf mit den wilden Elementen rang, und seine Seele war bewegt von Furcht und Hoffnung. Jetzt sah er es dem Felsenriff zutreiben, ein gellender Aufschrei, und der Ozean hatte Schiff und Mannschaft verschlungen. Sturm und Wellen tobten fort, bis der Morgen erschien, der, wie der Knabe glaubte, mit seinem freundlichen Licht die Elemente beruhigen werde. Am Strand lagen Schiffstrümmer und Leichname. Schon wollte Hagen aus seinem Versteck hervortreten, um nach Mundvorräten und Gewändern zu spähen, doch da hörte er den Flügelschlag der Greife und gewahrte, wie sie von ihrem Felsenhorst herunterflogen, Menschenleichen aufgriffen und damit in ihr Nest zurückkehrten. Während sie mit ihrem Fraß beschäftigt waren, verließ der Knabe seinen Schlupfwinkel, um gleichfalls etwas Eßbares zu suchen. Er fand jedoch nur Holzwerk und einen ertrunkenen Mann in voller Rüstung mit Schwert, Bogen und einem Köcher voll scharfgespitzten Pfeilen. Da hätte er laut aufjauchzen mögen, denn nun besaß er Waffen, wie er sie einst am Hof seines Vaters gesehen hatte. Eilig legte er die Rüstung des Toten an, bedeckte sein Haupt mit dem Helm, gürtete das Schwert um und nahm den Stahlbogen und die Geschosse mit scharfen dreikantigen Stahlspitzen zur Hand.

Es war auch Zeit, daß er sich mit dem Rüstzeug versehen hatte, denn einer der Greife stürmte rauschenden Flugs auf ihn nieder. Da zog er die Bogensehne kräftig an, und sein Pfeil traf den argen Feind mitten in die Brust, daß er zappelnd dem Schützen vor die Füße fiel und verendete. Ein zweites Ungetüm hatte das gleiche Schicksal. Nun stürmten die drei übrigen Vögel auf ihn ein, allein er erlegte sie alle mit gewaltigen Schwertstreichen. Die abgehauenen Köpfe der toten Untiere brachte er seinen Freundinnen in die Höhle. Sie hatten unter ängstlichen Sorgen um ihn die stürmische Nacht durchwacht. Ihre Freude war daher um so größer, da sie nunmehr durch seinen starken Arm von ihren Verfolgern befreit waren. Die Mädchen begleiteten darauf ihren Helden nach der Stätte seines Sieges. Sie halfen ihm, das spukhafte Geflügel ins Meer zu wälzen und über den toten Recken, dessen Rüstung Hagen trug, nach frommer Sitte einen Grabhügel aufzuschichten. Vergebens suchten sie jedoch unter den Schiffstrümmern nach Speisevorräten, dagegen fanden sie eine wohlverwahrte Kiste mit Stahl, Stein und Schwefelfaden, was sie in den Stand setzte, Feuer anzuzünden. Freudig eilten die Mädchen in ihre Behausung zurück, wo bald die Flamme lustig emporloderte, während Hagen mit Pfeil und Bogen dem Weidwerk nachging. Es währte nicht lange, so brachte er schon einen feisten Rehbock heim, den er mit seinem Geschoß erlegt hatte. Er wurde zerstückelt, ein Teil davon gebraten, und die vier Unglücksgefährten hielten eine Mahlzeit, die ihnen besser mundete als manchem Schlemmer seine ausgesuchten Leckerbissen.

So betrachtet nun Hagen das stürmische Spiel der wilden Natur auf dem Meer der Ursachen und begegnet hier auch dem Tod, der ihm symbolisch als ein versinkendes Schiff erscheint. Lebensspendende Nahrung findet er in den Resten nicht, aber eine Rüstung und Waffen, mit denen er nun auch selbst tötet, und zwar zuerst die fünf Greife, die uns hier an die fünf Sinne erinnern, mit denen der Mensch seine Umwelt der äußerlichen Natur „begreift“. Nach diesem ersten großen Sieg glaubt er nun, selbst nicht mehr ergriffen werden zu können, die Sinne besiegt und damit eine neue Freiheit erlangt zu haben, so daß er jetzt auch selber ungestört das Feuer entfachen kann. Doch zu seinem Glück übernehmen die Jungfrauen das Feuer und hüten es in ihrer Höhle, wie die weibliche Wassernatur ausgleichend auf den männlichen Feuergeist wirkt, damit es ein Liebefeuer des reinen Bewußtseins werden kann und kein Haß- und Begierdefeuer im Spiel der Trennung bleibt. Denn die Trennung ist der Gewinn des Tötens und damit auch der Sieg der Bindung, wie er es wohl von seinem Vater Siegeband gelernt hatte. Dann schaut der Mensch mit toten Sinnen in eine tote Natur, und muß um so mehr Angst haben, sein Leben zu verlieren, und um so mehr darum kämpfen.

So eine tote Natur, die dem begrifflichen Verstand beherrschbar erscheint, wünscht sich wohl auch unsere moderne Naturwissenschaft, wie zum Beispiel der fernsehberühmte Physiker Harald Lesch sagt: „Das Leben ist ein echtes Grenzphänomen der Materie. Also der größte Teil des Universums - sie können ja mal aufschreiben 99, dann Komma und dann können sie beliebig viele 9‘nen dahinter schreiben, wie sie wollen, und ein Prozent hinten, das stimmt immer, egal wie viele 9‘nen sie schreiben - ist alles tot. 99,999999… Prozent ist alles tot. Dieses Universum besteht nur in winzigen Teilen aus Lebewesen. (Quelle: YouTube, Harald Lesch, Das ganzheitliche Weltbild)“ Auch hier erinnert uns das „Grenzphänomen“ wieder an die Hexe Hagazussa, die „den Zaun bewacht“ und das winzige Lebewesen von einer toten Natur um sich herum abtrennt. Was wäre denn, wenn das ganze Universum lebendig ist und niemand sein Leben verlieren könnte? Was wäre, wenn es keine Trennung gibt und sich das Bewußtsein überall selbst erkennt? Doch das trennende Ego-Bewußtsein sieht um sich herum den bedrohlichen Tod, so daß nun auch Hagen um sein Leben kämpfen und immer mehr töten muß, um sein eigenes Leben zu erhalten:

Der junge Geselle ging nun täglich auf die Jagd, aber er erlegte nicht bloß scheues Wild, sondern auch Bären, Wölfe, Panther und andere Raubtiere. Einstmals sah er aus einem Versteck ein seltsames Untier vorüberrennen. Es war mit glänzenden Schuppen bedeckt, seine Augen glühten wie Kohlen, und aus dem blutroten Rachen starrten gräßliche Zähne hervor. Er sandte ihm einen scharfen Pfeil in die Seite, aber das Geschoß biß nicht ein, und das Ungeheuer wandte sich sogleich gegen den Schützen. Hagen griff zum Schwert und ein langer und wilder Kampf begann. Schließlich nahm er das Schwert in beide Hände und schlug mit allerletzter Kraft den Kopf des Untiers ab. Ganz erschöpft setzte er sich auf den noch zuckenden Körper. Er sehnte sich nach einem Tropfen Labung, und weil kein Wasser in der Nähe war, schlürfte er begierig das strömende Blut des Tieres. Da fühlte er, wie seine Leibesschwäche wich, und wie eine ungewöhnliche Kraft ihn durchdrang. Er sprang auf und wünschte sich einen Gegner, um auf Tod und Leben zu kämpfen. Er hätte es jetzt mit allen Greifen und Riesen der Welt aufgenommen. Er zog sein Schwert und spaltete einem anrennenden Bären mit einem Hieb den steinharten Schädel, den Hals und die Brust. In gleicher Weise erlegte er zwei Panther und ein grimmiges Einhorn. Er war blutig vom Haupt bis auf die Sohlen und ganz verwildert, als er, den Bären auf den Schultern, in die Klause zu den Mädchen trat. Erst bei dem Anblick der sanften Hilde gewann er wieder die gewohnte Ruhe.

Hier triff nun Hagen auf den Ego-Drachen oder Lindwurm im Wald der Vorstellungen, kämpft auf seine Art dagegen an und kann ihn schließlich mit seinem Schwert der Trennung töten. Doch auf diese Weise badet er nicht im Blut als Essenz des reinen und unsterblichen Bewußtseins, um den Weg eines Siegfrieds zu gehen, sondern setzt sich als Sieger auf den toten Körper und trinkt durstig das Blut und Wesen des Ego-Drachens, so daß er dessen Kraft in seine Ego-Blase zieht und selber zu einem schwer besiegbaren Ego-Drachen wird, der uns nun immer deutlicher an das Wesen von Hagen in der Nibelungensage erinnert. Und auch das ist wieder ein typischer „Sieg der Bindung“ und kein Sieg der Befreiung, der Liebe und des Friedens.

Hier kann man sich nun fragen, wo diese große Kraft herkommt, wenn der heranwachsende Jüngling erwacht, sich seiner Körperkraft bewußt wird und an der Schwelle zum Erwachsenen gegen die ganze Welt kämpfen könnte? Nun, es ist die gleiche Macht des Bewußtseins, die Siegfried im Nibelungenlied gefunden hatte, doch nicht auf die Ganzheit bzw. Gottheit gerichtet, sondern auf das Ego-Bewußtsein der Trennung. Entsprechend zeigt sich dann auch, wie sich diese Drachen-Kraft auf dem blutigen Weg des Tötens auswirkt, und wie die weibliche Seele der Natur ausgleichend zur Beruhigung arbeitet.

Noch manches Jahr verging den Siedlern auf der Felseninsel in der Einsamkeit. Sie hatten reichliche Nahrung, machten sich Kleider von Tierfellen und schmückten sich mit frischen, duftigen Blumen, dem einzigen Putz, den ihnen die gütige Mutter Natur darbot. Sie wünschten sich indessen in menschliche Gesellschaft zurück und schickten früh und spät sehnsuchtsvolle Blicke über das wogende Meer, ob sich nicht etwa ein Rettungsboot dem Ufer nähere.

Eines Morgens, während der junge Held, vom nächtlichen Jagen müde, auf der Bärenhaut ruhte, standen die Gefährtinnen am Ufer und blickten über die bewegte Fläche. Da tauchte abermals ein weißes Segel am Horizont auf, und allmählich stiegen Mast, Takelwerk und Verdeck aus den Wellen hervor. Sogleich eilten die Siedlerinnen nach der Höhle, nahmen vom Herdfeuer Brände, um am Ufer ein mächtig loderndes Feuer anzuzünden, und weckten den Genossen, der sein Schwert umgürtete, die Geschosse ergriff, die Bärenhaut umwarf und sich so seinen Gespielen zugesellte. Die Signale waren vom Schiff aus bemerkt worden, denn ein Boot wurde entsendet, das sich dem Ufer näherte. „He, wer seid ihr, Pelzunholde?“, rief der Bootsführer: „Seid ihr Menschen oder Meerwunder?“ - „Wir sind arme, verschlagene Menschen“, antwortete Hagen, „nehmt uns auf um Gotteswillen!“ Das Boot legte an, und die Unglücksgefährten stiegen ein. Die Matrosen ruderten zum Schiff, und schon bald waren sie an Bord. Auch der Schiffsherr betrachtete die Geborgenen mit Verwunderung. Auf sein Befragen berichtete Hagen, wie er, gleich den Mädchen, von den Greifen aus dem elterlichen Haus geraubt worden sei, wie er darauf Waffen gefunden und nun die Vögel getötet habe. Auf weiteres Befragen sprach er von seinem Vater Siegeband, dem mächtigen König von Irland. „Hei, Jüngling“, sprach der Schiffsherr, „du schlägst Greife wie Mücken tot! Aber du bist mir ein glücklicher Fang, denn ich bin der Graf von Garadie, dem dein Vater schon großen Schaden getan hat. Du sollst mir nun Geisel sein, bis ich für den Schaden reichliche Buße gewinne. Heda, Bootsleute, legt die Bärenhaut in Ketten und steuert nach Garadie!“

Wie kommt nun der jugendliche Hagen aus der Trennung von seiner Körperinsel wieder zurück in sein Vaterland, wo er seine eigentliche Aufgabe als Königssohn in der Menschenwelt zu erfüllen hat? Klar, dafür braucht man ein Schiff auf dem Meer der Ursachen, und das erscheint dann auch, wenn es sehnsüchtig gewünscht wird. Der Herr des Schiffes heißt „Graf von Garadie“, der nun als Gegenspieler und Gegensatz zum Vater von Hagen auftaucht. Über die Bedeutung der Ländernamen Irland und Garadie kann man nun die Phantasie spielen lassen. Dem bisherigen Thema folgend erinnern sie uns an „Irrland“ und „Geradien“, sozusagen die Irrwege der Illusion in die Trennung und die geraden bzw. wahrhaften Wege zurück in die Einheit. So ist es auch kein Wunder, daß der Schiffsherr den jugendlichen Ego-Hagen nicht zurück nach Irrland bringen, sondern als Geisel behalten will, um die Angriffe aus Irrland auf sein Reich abzuwehren. Ähnlich wurde in der Dietrichsage auch Hagen als Geisel von König Etzel genommen, um Frieden zu schaffen. Doch mittlerweile ist das wilde Ego schon so mächtig geworden, daß es sich seinen eigenen Willen mit tödlicher Gewalt erkämpft:

Kaum hatte der Graf diese Worte gesprochen, so geriet Hagen in Berserkerwut. Die Schiffsleute, welche ihn festnehmen wollten, schleuderte er mit riesiger Kraft über Bord ins Meer. Das Schwert in der Rechten stürzte er auf den Schiffsherrn los, der bei dem Anblick der übermenschlichen Kraft des jungen Helden wie erstarrt stand. Schon schwebte die blitzende Klinge über seinem unbehelmten Haupt, da legte sich eine weiche Hand auf Hagens Arm und hemmte den tödlichen Streich. Ergrimmt kehrte er sich um und blickte in das liebliche Angesicht seiner Gefährtin Hilde, und wie von einem Zauber gebannt, wich der schreckliche Zorn von ihm. Hilde sprach sanfte Worte zur Schlichtung und Einigung, die ein williges Ohr fanden. Daraufhin verhieß Hagen dem Grafen, zwischen ihm und dem König Versöhnung zu stiften, wenn er nach Irland zur Burg Balian steuere, und verpfändete dafür sein Haupt. Jener gelobte, die Unglücksgefährten wohlbehalten nach der Heimat des jungen Helden zu führen. Günstige Winde schwellten die Segel, und das Schiff zog stolz durch das wogende Meer. Am zehnten Morgen stiegen ragende Türme und Zinnen aus den Wellen empor, dann die ganze Burg, der Strand und der von Booten und Schiffen wimmelnde Hafen. Das fremde Schiff legte an, und die Mannschaft stieg ans Land. Mißtrauisch betrachtete das Volk die Zeichen und Gewänder der Leute von Garadie, mit denen stets Feindschaft gewesen war. Doch schienen sie nicht als Raubfahrer zu nahen, denn sie hatten die weiße Friedensfahne aufgerichtet. Sie sprachen auch friedlich und wünschten sicheres Geleit für eine Botschaft an König Siegeband. Als ihnen das gewährt wurde, gingen die Boten zur Burg, voran der kühne Hagen in seinem Bärenfell mit den drei Jungfrauen, die gleichfalls noch ihre rauhen Gewänder trugen, desgleichen etliche Männer von Garadie. Der König und die Königin sahen vom Fenster herab die Fremdlinge. Als sie aber die Leute von Garadie erkannten, rief Siegeband nach seiner Rüstung. Er sei, sagte er, noch nicht so alt, daß er nicht mit dem Schwert Rache an den Landesfeinden nehmen könne. Bevor er noch sein festes Sturmgewand angelegt hatte, traten die Gäste herein. Er wähnte, Raubfahrer hätten seine Burgleute überwältigt, und zog sein Schwert, um nicht Schmach zu erdulden. Darauf rief der junge Held: „Kennst du mich nicht, lieber Vater? Ich bin es, dein lange verlorener Sohn Hagen.“ - „Ungetreuer, falscher Verräter!“, rief der König: „Schleichst im Bärenfell herein und solltest einen Fuchspelz umhängen, da du mich mit arger List fangen willst. Aber nun mußt du sterben!“ Er hob sein Schwert, aber Frau Ute warf sich zwischen Vater und Sohn. „Er ist es!“, rief sie: „Unser langbeweintes Kind! Ich erkenne ihn an dem kleinen Mal auf der Stirn und seinen dunklen Augen. Auch das Mutterherz ruft mir zu: Es ist Hagen, unser Sohn!“ Da hatte sie ihn schon in die Arme geschlossen, und bald ruhte der Held auch an der Brust des glücklichen Vaters.

Hier zeigt sich nun wieder das weibliche Wesen, wie Seele und Natur beständig daran arbeiten, das Problem der Trennung zu überwinden. Zuerst die Macht der Liebe von Hilde als Seele der Natur, um den tödlichen Ego-Zorn zu beruhigen und die feindlichen Reiche zu versöhnen, so daß die Irrwege der Illusion wieder mit den geraden Wegen der Wahrheit zusammenkommen. Und dann Königin Ute als mütterliche Natur selbst, um Vater und Sohn zu versöhnen. Zu diesem Thema schreibt auch Meister Eckhart in seine Predigten:
Die Seele ist dazu dem Leibe gegeben, daß sie geläutert werde. Die Seele, wenn sie vom Leibe geschieden ist, hat weder Vernunft noch Willen: sie ist eins, sie vermöchte nicht die Kraft aufzubringen, mit der sie sich zu Gott kehren könnte; sie hat sie (=Vernunft und Willen) wohl in ihrem Grunde als in deren Wurzel, nicht aber in ihrem Wirken. Die Seele wird im Körper geläutert, auf daß sie sammele, was zerstreut und herausgetragen ist. Wenn das, was die fünf Sinne hinaustragen, wieder in die Seele hereinkommt, so hat sie eine Kraft, in der es alles eins wird. Zum andern wird die Seele geläutert in der Übung der Tugenden, d.h. wenn die Seele hinaufklimmt in ein Leben, das geeint ist. Daran liegt der Seele Lauterkeit, daß sie geläutert ist von einem Leben, das geteilt ist, und eintritt in ein Leben, das geeint ist. Alles, was in niederen Dingen geteilt ist, das wird vereint, wenn die Seele hinaufklimmt in ein Leben, in dem es keinen Gegensatz gibt. Wenn die Seele in das Licht der Vernunft kommt, so weiß sie nichts von Gegensatz. Was diesem Lichte entfällt, das fällt in Sterblichkeit und stirbt… Wir bitten Gott, unsern lieben Herrn, daß er uns helfe von einem Leben, das geteilt ist, in ein Leben, das eins ist. Dazu helfe uns Gott. Amen. (Predigt 9)

Ja, nur so können Natur und Geist wieder gesund und heil sein:

Große Freude und Wonne waren im Königshaus. „Ich bin so viele Jahre krank gewesen“, sagte Frau Ute, „und nun bin ich gesund geworden. Dessen sollen sich Land und Leute erfreuen.“ Ein fester Friede wurde mit dem Grafen von Garadie geschlossen, und derselbe blieb als Gast bei der Feier, die man veranstaltete. Natürlich wurde auch der Jungfrauen gedacht, der treuen Pflegerinnen des Königssohnes in seiner Verlassenheit. In fürstlichem Schmuck und umgeben von anderen edlen Jungfrauen folgten sie der Königin zum Festmahl und später zu den Schranken, wo die Helden im Wettkampf und Turnierspiel ihre Kraft und Kühnheit zeigten. Unter den Kämpfern sah man auch Hagen den Stein stoßen und den Speer schwingen, und er hatte vor allen die höchste Ehre, denn keiner vermochte sich mit ihm zu vergleichen. Da berief ihn der alte König zu sich auf den Hochsitz, und das Volk rief, der junge Held sei würdig, die Krone zu tragen, denn er werde mit starker Hand das Land vor Schädigung bewahren. Nach den festlichen Tagen blieb Hagen nur kurze Zeit ruhig im Vaterhaus. Mit manchem kühnen Mann fuhr er hinaus in ferne Länder, bestand schwere Kämpfe und kehrte mit reicher Beute in die Heimat zurück. Da nun der hochbejahrte König von den Taten und dem Ruhm seines Sohnes hörte, übertrug er ihm nach dem Wunsch der Landesherren die Verwaltung des Reiches. Frau Ute bat ihren Liebling, sich eine würdige Ehefrau zu wählen, damit er nicht einsam sei, wenn Gott sie und ihren Ehemann zu sich entbiete. Hagen folgte willig dem Rat der Mutter, aber wählte nicht die Tochter eines benachbarten Herrschers, sondern die schöne Hilde, die liebste Freundin, die ihm zuerst am Felsenstrand unter dem Greifenhorst erschienen war. So wurde die edle Jungfrau schon bald seine Ehefrau, und eine prächtige Hochzeit wurde gefeiert, auf der sich auch ihre Gespielin, die Jungfrau aus Isenland, mit einem jungen Fürsten verheiratete, der ihre Liebe gewann und sie dann in sein Reich nach Norwegen führte, wo sie eine glückliche Königin wurde.

So herrschte nun Hagen als gewaltiger König über Irland mit starker Hand. Die alte Königin Ute hatte noch die Freude, daß sie ein Enkelkind auf ihren Armen wiegte, ein Töchterlein, das nach seiner Mutter Hilde genannt wurde. Auch König Siegeband saß oft an der Wiege der kleinen Enkelin, summte alte Lieder und hatte große Wonne an dem Kind, das schon als Kind ein Wunder an Schönheit war. Indessen sah er es nicht mehr zur Jungfrau erblühen, denn er und seine treue Lebensgefährtin wurden zuvor zu ihren Ahnen berufen.

Hier zeigen sich nun wieder die Wege der Trennung, so daß sich auch die namenlose mittlere Meerjungfrau als Norne der Gegenwart von Hagen trennte und nach Norwegen (den „Nordweg“) ging, einen Weg, den wohl auch Siegfried ins Land der Nibelungen ging und deren großen Schatz gewann, nachdem er Brunhilde in Isenland besucht hatte. Doch das war nicht der Weg von Hagen, um sich der ewigen Gegenwart der Schöpfung im Hier und Jetzt bewußt zu werden und damit auch den großen „Nibelungenschatz“ der Nebel- bzw. Naturgeister zu finden. Deshalb lebte er mit Hilde und Hildburg im „Kampf“ um seine Zukunft und Vergangenheit in „Irrland“ als sein Vaterland im Reich der Trennung, wo er sich auch bald von seinen Eltern trennen mußte. Um so mehr kämpfte er dann um seine geliebte Tochter, die auch nicht umsonst „Hilde“ genannt wurde:

Hagen hatte gleichfalls seine Lust an der Tochter und ließ sie von Hildburg aus Portugal und anderen edlen Jungfrauen wohlbehüten, so daß sie die Sonne nur selten sah und auch der Wind nicht berühren durfte. Er selbst war oft auswärts auf Heerfahrten und ließ sein Schwert nicht rasten, denn im Kampfgetümmel war ihm wohl. Da schallte weithin sein Schlachtruf, da fällte er die Recken, die sich ihm entgegenstellten, und da gewann er Sieg und Ruhm durch seine große Kraft. Er hieß „der Schrecken der Könige“, weil ihm kein Fürst Widerstand leisten konnte. Als die schöne Hilde erwachsen war, sah er in ihr das Ebenbild ihrer Mutter und wollte sie aus herzlicher Liebe nicht von sich lassen. Wohl warben um ihre Liebe viele Fürsten, aber er forderte jeden Freier zum Kampfspiel mit Speer und Schwert, weil er die Tochter nur dem geben wolle, der ein besserer Kämpfer sei als er selbst. Wer aber das Spiel mit ihm wagte, der verlor den Sieg und auch das Leben. In seinem Übermut ließ er sogar die Boten töten, die man als Brautwerber sandte. So wurde der wilde Hagen, der Schrecken der Könige, auch ein Schrecken für alle Freier, so daß sich bald niemand mehr in seine Nähe getraute und sein Haus immer öder wurde.

In der Tochter könnte man wieder die Seele von Hagen sehen, die das Wesen der Mutter fortführt, nachdem sie als Norne bzw. Meerjungfrau durch die Verbindung mit dem wirkenden Geist sterblich geworden war. So blieb wohl auch Hagens Hochzeit wieder nur ein „Sieg der Bindung“ und wurde kein Sieg der Einheit und Freiheit, wie es sich die Seele wünschte, so daß das große Ego-Problem an die nächste Generation weitervererbt wurde. Damit erbte die Tochter nicht nur Schönheit und Namen der Mutter, sondern auch das Grundproblem der Trennung als „Erb-Sünde“.

Hier könnten wir zum Schluß bezüglich Hagen und Siegeband noch darüber nachdenken, warum Trennung und Bindung genauso eng zusammengehören wie Einheit und Freiheit? Nun, prinzipiell ist Bindung nur durch Trennung überhaupt möglich, denn in der Einheit und Ganzheit, ist dieses Problem gar nicht denkbar. Doch das Bewußtsein hat die Freiheit, sich eine solche Welt der Trennung zu schaffen, wo es sich selbst durch trennende Mauern und Zäune wie in ein Gefängnis einschließt und darin bindet: Im Erschaffen frei, im Ertragen gebunden. Ähnlich sorgt auch ein Straftäter dafür, daß man ihn bindet und in ein Gefängnis verschließt, um die Gemeinschaft vor ihm zu schützen, in der Hoffnung, daß er wieder zu sich kommt und gemeinschaftsfähig bzw. ganzheitlich wird. So geht nun auch diese Geschichte weiter, und Hagen wird in seinem „Irrland“ nicht in Ruhe gelassen, denn auch seine Tochter ist eine Seele der Natur und arbeitet weiter als Prinzip der Verursachung.


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Hagelingsage: Die Geschichte von Hagen

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Das Heldenbuch (Gudrunlied), Band 1, Karl Joseph Simrock, 1883
Kudrun (mittelhochdeutsch), Bartsch, 1880
Die deutsche Litteraturgeschichte - Kudrun (Zusammenfassung), Pfalz, 1883
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
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