Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Hagelingsage: König Hettel und seine Helden

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

In Dänemark auf Burg Matelane saß König Hettel von Hegelingen, ein mächtiger Held, dem Ortland, Waleis und Dithmarschen untertänig waren. Fürstliche Helden umgaben und stützten seinen Thron in großer Zahl. Unter ihnen war besonders der alte Wate angesehen und von den Feinden des Königs gefürchtet. Er war der ehemalige Erzieher des Königs und sein Lehrmeister in ritterlicher Kampfkunst, ein Verwandter, der in Sturmland (Stormarn) durch seltene Kühnheit und große Taten gewaltig herrschte. Nicht minder mächtig waren der sangesreiche Horand und der weise Frute, die beide aus dem Dithmarschen stammten, sowie andere tüchtige Recken, die dem Reichsoberhaupt allezeit zum Dienst bereit waren.

Dänemark bedeutet die Mark bzw. das Grenzland der Dänen als Nordgermanen oder auch Normannen, also ein begrenztes Land im Norden, das im Gegensatz zum Süden für Kälte und Dunkelheit steht. Der Name Hettel wurde früher für einen jungen, heranwachsenden Ziegenbock verwendet. Im Kontext der ganzen Sage erinnert uns der Königsname an das „hätte-gern“ als Wunsch- und Möglichkeitsform von „ich habe“ im Kampf um die Zukunft. Damit sitzt er als Ego-König auf dem Thron in seiner Körperburg Matelane, deren Name sich von mittelhochdeutsch „maht“ für Macht und Körperkraft ableiten läßt. Dort herrscht er mit seinen Gesellen bzw. Dienstmannen über sein Reich, das er sich „untertänig“ gemacht hat. Das ist dann das Reich der Hegelinge, sozusagen ein „umgrenztes Gehege“ in denen sich das Bewußtsein erhalten und hegen will, was dann im Prinzip ein Reich der „Hagelinge“ bzw. „Egolinge“ wird, in dem sich nun die Geschichte als Beziehungskiste zwischen mächtigen Ego-Königen fortsetzt:

Der junge König Hettel fuhr öfters hinaus in blutigen Streit und feierte, wenn er mit Raub und Siegesruhm heimkehrte, Feste mit seinen Kämpfern. Vater und Mutter waren ihm früh gestorben. So war der junge König verwaist, und der weise Frute sprach einstmals beim festlichen Gelage: „Herr, wohl ist dein Haus reich an Schätzen, und deine Hand spendet deinen Gesellen köstliches Gut, aber ungern sehen wir dich so einsam. Wir wünschten eine holdselige Königin, die uns mit Met und feurigem Südwein die Becher fülle. Du solltest um Hilde, die königliche Jungfrau auf Irland, werben, denn sie ist wegen ihrer Schönheit und hohen Zucht in allen Landen berühmt.“ - „Wohl“, sprach der kühne Horand, „mit gutem Recht wird die Jungfrau gepriesen. Aber ihr Vater, der wilde Hagen, läßt keinen genesen, der es wagt, um sie zu werben. Schon manchem tüchtigen Helden hat er statt des ersehnten Brautringes den Tod gegeben.“

So finden wir nun drei prinzipielle Gesellen des Ego-Königs. Im überlieferten Text sind es noch zwei mehr, nämlich Irold aus Friesland und Morung von Niflanden, die wir zur Vereinfachung weggelassen haben, weil sie in der Geschichte keine wesentliche Rolle spielen. So bleiben noch drei: Zuerst der alte Wate aus Sturmland. Sein Name läßt sich von altdeutsch „wāt“ ableiten und bedeutet Kleid, Gewand oder Rüstung, was uns hier wieder an den begrifflichen Verstand erinnert, unser gewöhnliches Mittel für Verteidigung und Angriff, mit dem sich der Mensch sein persönliches Kleid wie eine Hülle aus gedanklichen Vorstellungen webt. Das Sturmland erinnert an den stürmischen Geist, der sich mit dem begrifflichen Verstand verkörpert. Entsprechend diente der alte Wate als Lehrmeister in der Kampfkunst dem heranwachsenden Ego-König, der um die Erhaltung der Körperburg und seinen Lebensbereich kämpft. In ähnlicher Weise diente auch der Waffenmeister Hildebrand dem wachsenden Dietrich in der Dietrichsage. So sollte wohl auch König Hettel eine ganzheitliche Vernunft entwickeln, und dafür hat er noch zwei weitere wichtige Dienstmänner: Horand bzw. Hörant ist der Sänger und Spielmann, der die Schicksalsharfe mit den goldenen Saiten erklingen läßt und von den Menschen gehört wird. Er singt sozusagen die Geschichten, die sich verwirklichen und lebendig werden wollen, und erinnert damit auch an die Funktion des Gedächtnisses, sozusagen als „Teich der Ursachen“. Frute ist die menschliche Weisheit, von altdeutsch „vrout“ für weise und verständig, die das nötige Wissen gibt und zur Einheit zusammenfügt, um die Trennung zu überwinden und das große Ziel der Ganzheit zu erreichen. Beide Dienstmänner stammen aus dem Dithmarschen, das uns an das „Grenzland des Menschenvolkes“ erinnert und wohl bedeutet, daß sie den Menschen über seine Grenzen hinausführen können, sozusagen aus dem „Gehege“ der Hegelinge.

Das Lob der schönen Hilde erregte in dem König den Wunsch, sie zu sich auf den Thron von Hegelingen zu erheben. Er forschte, wer für ihn die Werbung übernehmen wolle. Da rieten die Hofleute, er solle den alten Wate zum Boten wählen. Gar unlieb war dem Recken die üble Botschaft, doch verhieß er seine guten Dienste und meinte, wenn Horand und Frute ihn geleiteten, dann möchte doch die Werbung gelingen. Die Recken waren sogleich zur Fahrt bereit. Sofort wurden stattliche Schiffe gerüstet und mit reicher Habe beladen, auch stiegen viele gewappnete Männer an Bord, und als dies alles vollendet war, gingen die Schiffe in See. Von Osten her wehte günstiger Morgenwind und führte sie durch die grauen Meereswogen nach Balian, der aufragenden Festung, wo der wilde Hagen Hof hielt. Mit Verwunderung sahen die Leute am Land die fremden Fahrzeuge, denn solche Pracht und Herrlichkeit hatte man im grünen Irland noch nicht erblickt. Die Mastbäume waren von glänzendem Zypernholz, die Segel von purpurner Seide, die Anker von lichtem Silber. Bootsleute in reichen Gewändern trugen Waren aus fernen Ländern aus den Schiffen und breiteten sie vor der staunenden Menge aus. Die Schiffsherren boten reichen Schmuck und schöne Gewänder zum Verkauf, denn sie sagten, sie seien Kaufleute und des Handels wegen hierhergekommen.

Hier zeigt sich nun, wie Verstand, Weisheit und Schicksal zusammenarbeiten müssen, um Geist und Seele wieder miteinander zu vereinen. Doch wie kommen sie am Besten in das Innere einer Körperburg, die von einem mächtigen Ego-König bewacht wird? Natürlich nicht mit der Botschaft, ihm etwas wegzunehmen, das er gern festhalten will, um ihn vom Festhalten zu heilen, sondern indem sie sich als Kaufleute ausgeben, die dem Ego persönlichen Gewinn und Vermehrung des Besitzes versprechen. Denn ein abgetrenntes Bewußtsein ist immer auch ein gieriger Geist, der im ständigen Mangel lebt, weil er innerlich fühlt, daß ihm etwas fehlt.

Als König Hagen die überraschende Botschaft von den fremden Gästen vernahm, ging er selbst mit Frau Hilde, seiner Ehegenossin, an den Strand, um die Fremden näher kennenzulernen und ihren reichen Kram zu besehen. Da trat Frute als ein Bittender zu ihm und flehte um seinen Schutz. Er sprach, sie seien nicht des Handels wegen nach Irland gefahren, sondern um eine sichere Freistätte vor ihrem König Hettel von Hegelingen zu finden, der sie aus ihren Burgen vertrieben habe und unerbittlich überall verfolge. Darüber lachte der König, denn er wünschte schon lange, im Kampfspiel den König von Hegelingen zu bestehen. Er hieß daher die Recken guten Mutes und seines Schutzes versichert sein und lud sie zu sich auf die Burg ein. Die Herren säumten nicht, dem Befehl Folge zu leisten. Sie traten aber in Gewändern von Samt und Seide einher und trugen schwere Goldketten, an deren Enden Rubine und Diamanten blitzten. Sie brachten dem König herrliche Geschenke, und auch der Königin übergaben sie Straußenfedern, sowie Blumen, die künstlich aus Gold, Silber und Seide gefertigt waren, glänzende Gürtel und Spangen. Sie waren, wie es schien, mit unerschöpflichen Vorräten versehen, weshalb sie Hagen gern im Land behalten und mit Burgen begabt hätte. Aber sie erwiderten, daß in Hegelingen ihre Frauen und Kinder wären, die sie wiederzusehen hofften. Indessen nahmen sie die Herberge an, welche ihnen Hagen nahe bei der Burg einräumen ließ, und ein großes Zelt für ihr Gesinde. Ferner waren am Strand allerlei Buden aufgeschlagen, wo die Waren von den Schiffen feilgeboten wurden. Da kauften dann Männer und Frauen schöne Stoffe und Kleinodien um geringen Preis, und die Armen erhielten Gewänder unentgeltlich. Solch großer Reichtum war in Irland noch nie gesehen worden.

Hier kann man nun lesen, wie die Frute-Weisheit im Dienst eines Ego-Königs auch zur Lüge wird, um dessen Ziele zu erlangen. Und Hagen glaubt die Lüge gern, sofern sie ihm Gewinn verspricht, denn das ist die Verstandeswelt der „Hagelinge“.

Frau Hilde, die Königin, trug Verlangen, die tüchtigen Gäste im Frauensaal zu schauen, und als solches den Recken kundwurde, säumten sie nicht, dem Begehren zu willfahren. Sie traten in die prächtige Halle, deren Decke auf Marmorsäulen ruhte. Da saßen viele Frauen in reichen Gewändern und unter ihnen die Königin und die liebliche Jungfrau, die mit freundlichem Gruß die Fremden empfingen. Diese aber wußten mit zierlicher Rede zu antworten. Nur Wate sprach wenig und blickte oft nach dem Meer, wo sich die Schiffe auf den Wellen schaukelten. „Geh doch, Hilde“, sprach die Königin leise zur Tochter, „und begrüße den alten Herrn mit einem Kuß.“ Die Jungfrau erschrak, denn der Held von Sturmland überragte zwar die Gefährten schier um eines Kopfes Höhe, aber er sah nicht lieblich aus mit der gekrümmten Habichtsnase, der kahlen Stirn und dem zum Teil ergrauten Bart, der breit auf die Brust herabfloß. „Wohin schaut Ihr, Herr Wate?“, wandte sich die Herrin an den Recken: „Sind am Strand schönere Frauen als hier in der Halle?“ - „Ich blickte nach meinem Schiff“, antwortete der Held, „denn ein wildes Wetter steigt auf.“ Da faßte sich die königliche Jungfrau ein Herz. Lächelnd trat sie zu dem Helden und sagte, seine Hand ergreifend: „Gefällt es Euch nicht bei uns, edler Held? Seid Ihr nicht lieber im friedlichen Kreis der Frauen, als auf der wilden See oder im Kampfgetümmel?“ - „Junge Frau“, sprach Wate, „ich habe nimmer gelernt, der Liebe zu pflegen und mit zierlichen Fräuleins süße Reden zu tauschen, oder mit hüpfenden Jungfrauen den Reigen zu führen. Mir gefällt der Tanz auf der stürmischen Meeresflut und im Sturm der Schlacht, wenn die Hörner von Sieg oder ruhmvollem Tod singen.“ So sprach der grämliche Graubart, doch die Recken Frute und Horand redeten vom schönen Hegelingenland, von seinen Burgen und Höfen, von Sängern und edlen Rittern, die in Zucht und Ehren den Frauen dienten. Darauf nahmen sie Abschied und gingen in ihre Herberge.

Hier beginnen nun die Frauen als Seele der Natur ihre Arbeit, laden den Verstand mit seinen mächtigen Begleitern ein und sprechen von Frieden, Liebe und Leben, während der Wate-Verstand von Sturm, Krieg und Tod schwärmt. Damit erscheint er auch der Jungfrau nicht besonders lieblich, mit seinem struppigen halbergrauten Bart, den wir wieder als Symbol der Gedanken sehen können, die mehr oder weniger wild in die Welt ragen, aber sich langsam mit „Weisheit“ färben.

Schon folgenden Tages wurden die Gäste wieder zu Hofe geladen. Da gab es mancherlei Kurzweil, Brett- und Schachspiel, was Frute und Horand trefflich verstanden, auch kunstreiche Fechterspiele, an denen der alte Wate viel Wohlgefallen hatte. „Das sind herrliche Schirmschläge, die man hierzulande übt“, sagte er zum König, „ich möchte wohl Lehrbursche sein, um sie zu erlernen.“ Sofort rief Hagen einen Fechtmeister, daß er den Alten in die Lehre nehme. Aber der Held von Sturmland bewies bald dem Fechter seine Meisterschaft. „Nicht übel“, sprach der König, „nun will ich dich selbst drei Schirmschläge lehren. Die kannst du im Land der Hegelingen gegen deinen König gebrauchen.“ So nahm er die Waffen des Fechtmeisters und focht mit dem Alten. Doch der wußte sich wohl zu schirmen und gab die Schläge tüchtig zurück. Beide Kämpfer stritten immer hitziger, bis die Knöpfe von den Schwertern sprangen. „Hei, alter Lehrling“, rief Hagen, „du bist gar schnell Geselle und Meister geworden. Hab ich doch meiner Tage einen solchen Lehrling noch nicht gefunden. Nun aber wollen wir beim vollen Becher unsere Kraft versuchen.“ Die Helden zechten tüchtig, und je mehr sie tranken, desto lauter erhob sich der Jubel. Doch gab es auch scharfe Reden, wildlärmendes Geschrei, und da und dort griff eine Hand nach dem Schwert. Es war ein wüstes Gelage, das blutig zu enden drohte, wie es schon manchmal an des Königs Tafel geschehen war. Da griff der Sänger in die goldenen Saiten und sang gewaltig, daß der Palast erdröhnte, von Heldenmut in heißem Kampf und von Freundestreue in Gefahr und Not. Seine Stimme übertönte das wilde Toben, daß es immer stiller wurde und die trotzigen Recken lautlos dem Gesang lauschten. Da wurde das Getön immer lieblicher und leiser, und Horand sang vom Segen des Friedens, wenn nach dem Sieg die Schwerter ruhen und die Felder von Saaten im grünen Frühlingskleid erblühen. Als die letzten Töne verklangen, saßen die Recken und auch der wilde Hagen noch lange stumm und ließen den Feuerwein im Becher verschäumen. Endlich erhob sich der König auf seinem Thron. Er pries den Sänger, der solche Weise verstand, die noch kein Mensch vernommen habe. Er meinte, Horand könne durch sein Lied allen Streit und Zwist schlichten und feindliche Heere mit Klang und Gesang bezwingen.

Hier trifft nun auch der Hagen-Verstand auf den Wate-Verstand von König Hettel, und sie messen sich in Angriff und Verteidigung, um dann festzustellen, daß sie doch von gleicher Macht sind und im Grunde auch ein Wesen, das vom berauschenden „Feuerwein“ der Illusion und Leidenschaft lebt. Der Spielmann des Schicksals kann sie mit seinem Gesang beruhigen oder zumindest in die Richtung führen, wohin die Geschichte strebt. Ja, das ist die schöpferische Macht des klingenden Wortes, denn „am Anfang war das Wort“, wie auch unsere moderne Quantenphysik sagt: „Information ist der Urstoff des Universums. Wirklichkeit und Information sind dasselbe. (Anton Zeilinger)

Die Gäste und der Gastgeber begaben sich in ihre Herberge, um vom Tagewerk zu ruhen. Am frühen Morgen ertönte Glockengeläut, das zur Messe rief, und der Priester Chorgesang. Aber der Sänger ließ sich gleichfalls hören.

Der Lieder sang er dreie, die waren wundersam;
Keinem wurde es lange, der solchen Ton vernahm.
Die Zeit, die man wohl brauchte, tausend Wegestunden
Zu reiten, waren schnell, wie ein Augenblick entschwunden.

Lauschend verließ die Weide im Wald das scheue Wild;
Die Würmlein, die da krochen im grünen Grasgefild,
Die Fischlein, so im Wasser flossen auf und nieder,
Ließen ihre Wege; denn nicht umsonst sang er die Lieder.

Der Glocken Festgeläute, der fromme Chorgesang,
Verschwanden vor der Stimme, die zu den Saiten klang,
Die Kindlein in den Wiegen weinten nun nicht mehre,
Die Armen und die Kranken vergaßen ihres Kummers Schwere.

So sang Horand am frühen Morgen und am späten Abend jeden Tag und ergötzte am meisten die Königin und die liebliche Jungfrau, deren Tochter. Sie entboten ihn zu sich in ihr Gemach, dankten ihm für seine Lieder und wollten reichen Sold geben. Aber er sprach, er sei selbst reich genug, und er werde gern singen, wenn sie daran Wohlgefallen hätten.

Einstmals war die junge Hilde allein im Saal, weil ihre Mutter ein Fest anordnete. Da sang er ein Liebeslied von einem reichen König, der vor Sehnsucht nach der geliebten Jungfrau krank und siech war und nur genesen könne, wenn ihn die Jungfrau durch ihren Anblick und mit einem Kuß von seinem Leiden erlöse. Er schloß mit den Worten:

„Oh Minne, süße Minne, du hast mir's angetan;
Vielleicht zu meinem Grabe. Schön-Hilde tritt heran,
Weint eine späte Träne auf meine kalte Brust;
Besänftigt alle Schmerzen, schafft noch im Sterben Lust.“

Der Gesang war wie ein Zaubersegen, der den Geist umnebelt und gefangennimmt, daß man nicht weiß, was man redet und tut. So war es der wonnesamen Jungfrau zu Mute. Sie forschte endlich, wer der König sei, der ihrer begehre, und da hielt ihr der Sänger ein Bildnis von König Hettel vor und sprach von der grausamen Strenge ihres Vaters gegen alle edlen und tugendsamen Bewerber, wie aber dennoch sein Herr, wenn er genese, nach Balian kommen werde, auch wenn er von der Hand des wilden Hagen statt der Tochter den Tod empfange. Er sagte ihr auch das ganze Geheimnis der Botschaft und flehte, sie möge an Bord der Schiffe kommen, wo tausend gewappnete Recken verborgen und bereit seien, um sie nach Hegelingen zum königlichen Freund zu führen, der wenn sie lange säume, sterben werde. Dort, fuhr er fort, wolle er ihr täglich Lieder singen, und sein König kenne selbst noch schöneren Gesang. Die Rede bezwang den stolzen Mut der schönen Jungfrau. Sie verhieß ihm, sie wolle den Vater um Erlaubnis bitten, die seltenen Stoffe und Kleinodien auf den fremden Schiffen zu beschauen. Das Wort war gesprochen und wurde in Treue gehalten.

Eine ähnliche Macht der Schöpfung wie das klingende Wort, wenn nicht sogar die gleiche, ist natürlich die reine Liebe, die alle Ursachen und Wirkungen sowie Natur und Geist vereint und zur Ganzheit bzw. Gottheit strebt, was dann auch die große Aufgabe der Seele der Natur als Prinzip der Verursachung ist. Auch dafür sorgt der Spielmann mit seiner Schicksalsharfe indem er die Liebesgeschichte singt, die lebendig werden will, den berühmten „Minnesang“.

Bald darauf traten die Männer von Hegelingen vor König Hagen und sagten, sie hätten gute Nachricht aus der Heimat erhalten: Ihr König habe erfahren, daß ungetreue Männer sie fälschlich verklagt hatten. Er habe dieselben hart bestraft und ihnen selbst seine Huld wieder zugewendet. Darum wollten sie demnächst die Anker lichten und der lieben Heimat zusteuern. Der König war üblen Mutes, daß die werten Gäste von Balian scheiden wollten, doch sollten sie nicht ohne reiche Gaben das Land verlassen. „Herr“, sprach Frute, der Weise, „wir sind so reich, daß wir wohl Silber oder Gold nicht annehmen mögen. Willst du uns aber eine Huld erweisen, so komme selbst mit den schönen Frauen an Bord unserer Schiffe, daß du unsere Schätze beschauen kannst, die noch unter Deck verborgen sind.“ Der wilde Hagen schüttelte unmutig das Haupt, aber da umschloß ihn mit beiden Armen die Tochter und flehte: „Lieb Väterchen, sei gut und vergönne den Frauen, daß sie die Stoffe, Gürtel und Spangen aus Indien, Arabien, Ninive und Babylon beschauen. Das ist uns allen eine Wonne, wie den Männern der Anblick blanker Helme, Rüstungen und Schilde.“ Als auch die alte Königin ihre Bitte mit der ihrer Tochter vereinte, so versprach Hagen zu willfahren.

Zur festgesetzten Stunde, als die Schiffe schon gerüstet und segelfertig auf den Wellen schaukelten, erschien der König mit den Frauen und zahlreichem Gefolge am Strand. Boote waren bereit, die Menge aufzunehmen. Schön-Hilde sprang mit Hildburg aus Portugal und anderen Jungfrauen eilends in ein Boot, das Horand steuerte. Als aber Hagen mit seiner Frau und seinen Gewappneten andere Boote besteigen wollten, verwehrte es ihnen Wate und Frute, und stießen vom Land ab. Da schwang der wilde König den Speer und stürmte nach in die Flut, bis sie ihm schier über dem Haupt zusammenschlug. Speere flogen hinüber und herüber, doch brachte Horand seine herrliche Beute an Bord. Der Küste entlang tobte Hagen und forderte Schiffe und Mannschaft zur Verfolgung des verräterischen Raubvolks, aber die Fahrzeuge waren nicht gerüstet, und schon schwammen die Schiffe von Hegelingen auf hoher See und verschwanden bald in der Ferne.

So entführt nun Horand als Spielmann des Schicksals die begehrte Jungfrau, während Verstand und Weisheit den wütenden Ego-König zurückdrängen. Hier könnte man darüber nachdenken, warum das Ego-Bewußtsein ein Boot oder Schiff auf dem Meer der Ursachen benötigt, und nicht wie Christus über das Wasser laufen kann? Warum fürchtet sich eine Form, im Meer der Ursachen zu vergehen? Und wie schafft sie es, sich eine Weile in Zeit und Raum „über Wasser“ zu halten? Was bedeutet das Gleichnis, daß Christus frei von den Naturgesetzen über das Wasser gehen konnte? Und weshalb sprach er zu Petrus, der zu versinken drohte: »Oh du Kleingläubiger, warum zweifeltest du? (Matth. 14.31 Nun, ein kleiner Glauben ist wohl ein engbegrenzter Glauben, und „Zweifel“ bedeutet, daß da Zwei in der Trennung sind, Form und Meer, Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Geist und Natur, Ursache und Wirkung. Doch kann das Wasser selbst im Meer vergehen? So läuft auch diese Geschichte darauf hinaus, das Bewußtsein zu erweitern und die Trennung und Bindung zu überwinden, um die Ganzheit und Freiheit zu erreichen.

Die Fahrt ging manchen Tag und manche Nacht durch die grauen Meereswogen und Schön-Hilde weinte viel um Vater und Mutter. Doch dann sang Horand, bald wie der Sturm sein Lied singt gewaltig zum Brausen der Wellen, bald süß und lieblich, wie der Abendhauch, der sanft über die Fluten hinstreicht und sich in den Blättern des Uferwaldes säuselnd verliert, bald traurig, wie die Klage des Geliebten, der sich nach der fernen Jungfrau sehnt. Da wurde Hilde wieder getrost, denn jeder Tag brachte sie dem königlichen Freund näher, dessen Bildnis sie nimmer von sich ließ. Endlich erblickte man Land, die Zinnen einer Burg und viel Volk am Strand, und inmitten auf hohem Roß in glänzendem Gewand ihn selbst, den harrenden König von Hegelingen. Ein Schnellsegler war vorausgeeilt, hatte dem König die Botschaft gebracht, und hier, am Strand von Waleis, erwartete er die Braut. Da waren prächtige Zelte von Purpur und Seide aufgeschlagen, viel Volk und Edelleute versammelt, um die künftige Königin auch mit königlichen Ehren zu begrüßen. Doch sollte die Hochzeit erst zu Hegelingen gefeiert werden.

König Hettel war vom Roß gestiegen, Horand und Frute führten die Jungfrau an Land, und als Schön-Hilde den König erblickte und seinen freudigen Gruß vernahm, da schwanden ihre Sorgen, und sie freute sich des mächtigen Helden, der mit ihr Ehre und Reich zu teilen bereit war. Auch zierliche Jungfrauen und Kämmerlinge waren zu ihrem Dienst bereit. Dann wurde unter seidenem Baldachin ein Festmahl gefeiert, wobei Hettel neben ihr saß, von seiner Liebe zu ihr sprach und ihr Herz gewann, so daß sie nicht mehr von dem Helden scheiden wollte.

Am folgenden Tag rüstete man sich zur Fahrt nach Hegelingen. Die Lasttiere wurden beladen, die Knechte rollten Zelte und Teppiche auf, die Recken gürteten die Schwerter um, und die Bootsleute takelten die Schiffe ab, die der Ausbesserung bedurften. Während dieser Arbeiten sah man am westlichen Horizont weiße Wolken aufsteigen, doch als sie näherkamen, erkannte man, daß es Segel zahlreicher Schiffe waren, an deren Topp Kreuzesbanner flatterten. Man hielt sie für Kreuzfahrer gegen Ungläubige, aber bald entfaltete sich die Flagge mit dem grimmigen Tiger, Hagens Feldzeichen, und man wußte nun, daß Feinde nahten. König Hettel und der alte Wate ordneten die Streitkräfte am Strand zu Waleis. Der Alte lachte laut vor Wonne, daß er sich nun im ernsten Kampf mit dem streitbaren König versuchen sollte. Die anderen Fürsten traten mit Horand und Frute an die Spitze der einzelnen Rotten, um dem Feind die Landung zu verwehren. Alle Kämpfer waren frohen Mutes, aber die schöne Hilde, die von der Burg herab die Zurüstungen sah, rang die Hände vor Leid, daß um ihretwillen der blutige Streit entbrenne.

Nun, das geschah wohl schon öfters, daß auch Ego-Könige das Kreuzbanner des Christentums führten, um für Gerechtigkeit und gegen das Böse zu kämpfen, aber Ungerechtigkeit übten und das Gute zerstörten. Der alte Verstand freut sich mit seiner Gedankenarmee auf diesen Kampf. Schicksal und Weisheit möchten den Ego-Feind lieber im Meer versinken lassen. Und die Seele der Natur wird sich ihrer Rolle der Verursachung bewußt. Starke Symbolik! Und das alles angetrieben vom stürmischen Westwind aus der Vergangenheit:

Ein stürmischer Abendwind (Westwind) trieb die Flotte im Flug durch die schäumenden Wogen gerade in den bergenden Hafen. Die Schiffe warfen Anker, und Boote führten die gewappnete Mannschaft nach der Küste. Da flogen Wurfspeere und Schleuderäxte hin und her und krachten durch Schilde, Helme und Rüstungen. Hier wurde der Sand, dort die Flut vom Blut rot. Kein Boot vermochte zu landen. Endlich sprang der wilde Hagen, gefolgt von kühnen Männern, in das seichte Wasser. Vor seinen furchtbaren Streichen wich die Landwehr zurück. Er gewann Boden, und alles niederwerfend, was ihm den Weg verwehrte, drang er mit siegender Gewalt vorwärts. Sein ganzes Heer folgte seinem Beispiel, doch ballte sich die Wucht des Streites um ihn und seine auserwählte Schar. Tapfer focht die Landwehr für Heimat, Weib und Kind, aber sie war dem Andrang nicht gewachsen. Sofort warf sich unverzagten Mutes König Hettel dem Würger entgegen. Der Kampf war heiß zwischen den kühnen Männern, doch endlich sank der Held von Hegelingen, aus einer Stirnwunde blutend, zu Boden, und nur mit Mühe gelang es seinen Mannen, ihn aus dem Getümmel zu tragen. Dagegen erschien der alte Wate den weichenden Landwehrmännern zu Hilfe. Er lachte grimmig, daß sein breiter Bart wackelte. „Nun sollst du schauen“, rief er, „ob ich in deiner Schule gelernt habe.“ Die Schläge der zornigen Helden übertönte das Feldgeschrei und Kampfgetöse. Ihre Schilde brachen in Stücke, manche Spalte klaffte in Helmen und Rüstungen, doch ließ der Alte nicht ab. Denn schon hatte er seinem königlichen Gegner das Helmgespänge zerhauen, so daß ihm ein Blutstrom über den Halsberg rann. „Nieder muß er, mein Lehrmeister!“, rief er, indem er ihn mit äußerster Gewalt bestürmte. Doch Hagen wich keinen Fußbreit. Da drängte sich König Hettel, die Binde um das wunde Haupt geschlungen, durch die Menge, an seiner Hand die schlanke liebliche Hilde. Er umschlang den alten Wate, sie den Vater, nicht achtend der Geschosse und geschwungenen Schwerter. Es war, als sei ein Engel des Lichtes und des Friedens zwischen die Streiter getreten. Denn die Waffen ruhten, das Geschrei verstummte. „Lieber Oheim“, sprach Hettel, „schone den Vater meiner Gattin!“ Und die edle Jungfrau sprach: „Vater, laß ab vom Kampf, denn dein Kind soll Königin in Hegelingen sein und in allen Landen, die dem reichen König Hettel untertan sind. Er ist edel und gut und will mich in großen Ehren halten.“

So geschieht nun Wundervolles: Zuerst kämpfen die Ego-Könige gegeneinander und Hettels Kopf wird verwundet. Danach kämpft Verstand gegen Verstand und Hagens Kopf wird verwundet. Schließlich nehmen sich Geist und Seele an die Hand und treten gemeinsam zwischen die Feinde, Hilde hält den Ego-Zorn zurück und Hettel den Ego-Verstand. Und plötzlich war Frieden möglich, denn offenbar haben die Kopfwunden dazu geführt, daß die verhärteten Ego-Blasen aufgebrochen wurden und auf beiden Seiten die ganzheitliche Vernunft zu erwachen begann.

Der Anblick und die Rede der geliebten Tochter bezwangen endlich den wilden Hagen. Er schloß sie liebreich in die Arme, reichte dem Schwiegersohn, dann auch dem alten Helden von Sturmland gütig die Hand und sprach das Wort des Friedens und der Versöhnung. Danach wurde der Verwundeten gedacht, und da schaffte der Alte Rat und Hilfe. Er hatte ein schmerzstillendes Heilkraut, und damit verband er Hettels und Hagens Wunden. Dann ging er, der vorher grimmig mit dem Schwert gewütet hatte, über das Schlachtfeld, und wo ein Mann noch atmete, verband er die Wunde mit dem heilenden Kraut, und die noch am Leben waren, genasen unter seiner Pflege. Am Abend saßen die Helden versöhnt beim Gelage, da sprach der Alte von Sturmland: „König Hagen, Ihr habt mich drei Schläge gelehrt, so will ich Euch drei Züge lehren, die bis auf den Grund des großen Trinkhorns reichen.“ Wie er gesprochen hatte, so tat der mächtige Held, daß nicht ein Tröpflein mehr in dem Horn blieb. „Hei, tüchtiger Meister“, sprach der wilde Hagen, „die Lehre gefällt mir. Schau her, ob ich sie erlernt habe.“ Sofort leerte auch er das Horn bis auf den Grund. Da lachten alle Gäste und taten es ihnen nach, doch so manchem mißlang das Meisterstück, und lauter scholl das Gelächter über die Stümper in der edlen Kunst.

Und noch ein Wunder geschieht: Der kämpfende Verstand, der nun der erwachenden Vernunft dient, kann all die Wunden wieder heilen, die er selbst geschlagen hatte. Ja, das ist das Heilkraut der Natur für alle Wunden der Trennung, wenn die Liebe und der Frieden siegen. Dann kann der Verstand auch den Wein der Illusion bis auf den Grund des Trinkhorns leeren, was wiederum eine schöne Symbolik ist, denn das Trinkhorn endet in einer Spitze als Symbol der Einheit. Die drei Züge, die man auch braucht, um ein ganzes Dreieck zu zeichnen, erinnern uns wieder an das Dreiecks-Prinzip der Wirkkräfte in der Natur, mit denen man das große Ziel der Einheit und Ganzheit bzw. Gottheit erreichen kann, was dann auch den Sinn der Natur mit ihren Gesetzen verdeutlicht.

Am folgenden Morgen fuhren alle Recken nach Matelane, der stolzen Burg im Hegelingenland, wo die Hochzeit in seltener Pracht gefeiert werden sollte. Eine Botschaft berief auch die gute Frau Hilde zu dem Ehrentag ihrer Tochter, und sie kam freudig mit vielen Frauen und Jungfrauen, welche alle die liebliche Braut in das Münster begleiteten. Nachdem der Priester den Segen gesprochen hatte, kehrte man in die Königsburg zurück, wo man an reich besetzter Tafel die Hochzeit feierte. Da sang Horand ein Lied von der Liebe, die tief, unergründlich sei, wie der Himmelsschoß und leuchtend gleich den Sternen.

Alles, was ich denke, denk' ich hin zu Dir,
Alles, was ich fühle, fühlest Du mit mir.
Alles, was ich sage, ist, als ob's Dich rief.
Alles, was ich schreibe, ist an Dich ein Brief.

Und von Dir herüber strömt es voll und rein,
Nähe oder Ferne, nie sind wir allein.
Trennung weckt die Treue, wandelt Leid und Tod
In den Sieg der Liebe über alle Not.
(„Sieg der Liebe“, 1945)


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Dietrichsage: Über die Herrschaft von König Etzel
Dietrichsage: Die Raben- oder Ravenschlacht
Dietrichsage: Rückkehr zu Etzel und Nibelungenschlacht
Dietrichsage: Dietrichs Sieg und Kaiserkrönung
Hagelingsage: Die Geschichte von Hagen
Hagelingsage: König Hettel und seine Helden

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Das Heldenbuch (Gudrunlied), Band 1, Karl Joseph Simrock, 1883
Kudrun (mittelhochdeutsch), Bartsch, 1880
Die deutsche Litteraturgeschichte - Kudrun (Zusammenfassung), Pfalz, 1883
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
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