Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Beowulfsage (Wägner): Der Grendel-Kampf

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

„Obwohl die Scyldinge mit den Goten schon oft das Schwertspiel versuchten“, sprach Beowulf, „so will ich doch ihr Helfer sein und das Nachtgespenst Grendel bekämpfen. Denn wertvoller als der schimmernde Goldhort dünkt dem Helden das Preislied der Sänger, das durch alle Zeiten klingt.“ Da erhob sich Breka, ein tüchtiger Recke, der gemeinsam mit Beowulf aufgewachsen war, aber nun neidig über dessen Ruhm sprach: „Großes hat mein Heergeselle vollbracht. Doch wähne ich mit besserem Geschick die stürmische Meeresflut und die Ungeheuer der Tiefe zu bekämpfen. Wenn nun die Fürsten der Goten Richter sein wollen, dann versuchen wir uns beide in diesem Wagespiel. Ein Tag und eine Nacht soll der Wettkampf dauern. Wer überlebt und dann zuerst den Strand gewinnt, dem werde der Preis des Sieges zu teil.“ - „Ja, dem reiche ich selbst die Goldkette, die ich hier umgeschlungen habe“, fügte König Hygelak hinzu, auf seinen Halsschmuck deutend.

Dieser Wettkampf ist sicherlich auch symbolisch gemeint, und wir können an den großen Lebenskampf denken, in dem wir zwei prinzipielle Wege finden und die Frage steht, welches der bessere ist. Im Urtext dauerte der Wettkampf sieben Tage und Nächte, so daß er uns im weitesten Sinn sogar an die sieben biblischen Schöpfungstage erinnert. Dort geschieht die Trennung der Wege in der fünften Nacht, und auch hier kann man sich fragen, wer diesen Kampf im stürmischen Meer der Schöpfung überlebt und schließlich gewinnt. Denn ihm gebührt die ganze Ehre und der Preis des wahren Siegers durch alle Zeiten.

Der Morgen, als der Wettkampf beginnen sollte, ging blutrot auf. Die sturmbewegte eisige Flut ächzte, stöhnte und heulte, als begehre sie ein Menschenopfer. Da standen die kühnen Schwimmer gepanzert und die Schwerter in den Händen am Ufer und sprangen, als das Horn das Zeichen gab, in die wogende See. Bald bedeckt von der Schaumflut, bald auf dem Rücken der Wellen schwammen sie weiter und immer weiter und verschwanden in der Ferne. Sie hielten sich nahe zusammen, um im Kampf mit dem Seegetier einander Beistand zu leisten. Aber bald wurden sie durch den Wogenschwall getrennt und von der Strömung nach verschiedenen Seiten gerissen. Breka fand ruhigeres Gewässer und schwamm durch die Wellen weiter, bis es Zeit zur Umkehr war. Beowulf geriet in noch wilderes Wasser zwischen Klippen und Bänke, wo Polypen, Seedrachen und greuliche Nixen auf Beute lauerten, die Schrecken der Seefahrer. Riesige Arme streckten sich nach ihm aus, aber er erschlug sie mit seinem Schwert. Ungetüme wälzten sich über ihn, um ihn zu ersticken, aber er bohrte ihnen den Stahl durch die Schuppenhaut. Ein Nix umklammerte ihn und wollte ihn fort in seine Höhle ziehen, aber er stieß ihm die scharfe Klinge tief ins Herz und schleppte ihn an den grünen Borsten mit sich. So erreichte er wieder das offene Meer und strebte, da die Sonne unterging, rückwärts dem heimischen Strand zu. Der Sturm war vorüber, die Tagbestrahlerin beleuchtete die verwegenen Schwimmer, die gleichzeitig nach dem Ufer steuerten. Breka erreichte es zuerst. Er blickte frohlockend auf den Mitkämpfer, der nach kurzer Frist gleichfalls landete. Doch er, der König und das Volk sahen mit Staunen, wie der Held den greulichen Nix nachschleppte und ausgestreckt auf den Sand legte. Die Fürsten umstanden die Mißgestalt und maßen verwundert die riesigen Glieder. „Nimm hin die goldene Kette!“, sprach der König zu Breka: „Du hast sie durch schwere Arbeit gewonnen. Aber mein kühner Neffe hat Größeres vollbracht, indem er die Untiere der Tiefe bekämpfte und den erlegten Nix hierher vor unser Angesicht führte. Ihm reiche ich mein gutes Schwert Nägling mit dem Goldgriff und goldenen Runen geziert, das Erbstück meines Vaters, die Waffe von König Hredel, daß er es in allen Kämpfen mit Ehren führe.“

Hier wird nun weiterhin das Wesen von Beowulf angedeutet, wie er die Herausforderungen in der Tiefe im Meer der Ursachen annimmt und besiegen kann, während Breka an der Oberfläche bleibt und dort lediglich mit den Wellen der Wirkungen kämpft. Das Gleichnis macht deutlich, daß in beiden und im Grunde sogar in allen Wesen die gleiche Seelenkraft ist, die sich dann im Lauf des Lebens entweder den Herausforderungen der Tiefe im Kampf um die Ganzheit bzw. Gottheit zuneigt oder dem oberflächlichen Leben im Reich der Trennung, woraus dann auch der Neid gegenüber „anderen“ entsteht. So erinnert auch der altenglische Name Breka an das heutige, englische „break“ im Sinne des zerbrochenen Bewußtseins einer abgetrennten Person, die mit dem begrifflichen Verstand die Probleme des Lebens nur oberflächlich als „Insellösung“ für sich selber zu lösen versucht. Im Urtext wird dessen Vater Beanstan genannt, was an „Bohnenstein“ erinnert, vielleicht ein Stein, der wie eine Bohne aussieht, aber nicht lebendig und fruchtbar wird. So ist auch unser gewöhnlicher Verstand oft ein toter Verstand, der aus toten Begriffen besteht, und wir glauben, damit mächtiger zu sein und unsere Ziele schneller zu erreichen, als jene, die versuchen, die Probleme für alle Wesen ganzheitlich an der Wurzel zu lösen. Ja, das sind die „unmündigen Neffen“, die oft ungesehen in der innerlichen Tiefe kämpfen und in der äußerlichen Welt selten beachtet und geehrt werden, denn nicht jeder kann aus der Tiefe so ein besiegtes Ungeheuer den Augen der Welt zeigen.

Doch hier gelingt es, und der König ehrt beide: Breka bekommt als stolzer Sieger die goldene Königskette, der weltlichen Bindung, während Beowulf ein neues Schwert empfängt, was wohl das Wertvollste war, was König Hygelak als „Kampfspiel des Verstandes“ geben konnte. Es ist das Schwert seines Stammvaters Hredel, dem „Befreier“, und damit erkennt wohl auch Hygelak an, daß Beowulf die wahre Macht dazu hat und diese Waffe mit dem goldenen Griff der Wahrheit und den entsprechenden Runen „ehrlicher“ als er selbst gebrauchen kann.

Der Name Nägling erinnert an das Schwert Nagelring von König Dietrich in der Dietrichsage, das dort vom Zwerg und Meisterdieb Elbegast geschmiedet wurde. Symbolisch könnte man an die mächtige Waffe von Schmerz und Leid denken, an einen Ring der Nägel bzw. Dornen im weltlichen Reich der Gegensätze, ähnlich der Dornenkrone von Christus, wie man auch sagt: „Wen Gott liebt, den läßt er leiden.“ Dietrich trug dieses Schwert einige Zeit als heranwachsende Vernunft bis er es seinem Dienstmann Heime übergab, der allerdings eine ganz andere Rolle spielte als Beowulf und es oft mißbrauchte. Wird es Beowulf besser gebrauchen? Kann es ihm nützlich sein?

Hochgeehrt war Beowulf bei seinem Gotenvolk, doch begehrte er den Königssaal der Scyldinge von dem Unhold Grendel zu befreien. Darum ging er bald nach diesen Taten mit dem Spielmann zum Schiff, und sie steuerten ins Land der Dänen, zum Burghof des Königs Hrodgar. Vierzehn edle Goten, ruhmreich, wie er selbst, hatten mit ihm das Schiff bestiegen und standen, als das Fahrzeug das Land erreichte, um ihn her versammelt. Der Strandwächter jagte hoch zu Roß auf die Fremdlinge zu. Er bewunderte die glänzend gerüsteten Recken, ihre kraftvollen Gestalten, ihre kühne Haltung und forschte, wer sie seien und in welcher Absicht sie das Land der Scyldinge beträten. Als er die Geschichte vernahm, hieß er sie guten Mutes nach der Burg fahren, wo sie der König als werte Gäste empfangen werde. Hrodgar saß auf dem Hochsitz im Hirschsaal, wo keine Lagerstätten mehr zur Ruhe einluden. Er ging den Fremdlingen, die angemeldet waren, freundlich entgegen und wies ihnen Sitze an, daß sie teilnähmen am Gelage der Helden. Auch der Spielmann war eingetreten. Er besang Beowulfs Taten und verkündete wie ein Prophet die Besiegung des Moorunholdes durch die unbezwingliche Faust des mächtigen Helden. Dieses Lob verdroß Hunford, einen der Hofmänner, und er sprach mit neidvollem Hohn, der gerühmte Gotenheld habe doch die Goldkette nicht gewonnen. Beowulf sollte sich wohl bedenken, ehe er den Kampf mit Grendel versuche, denn er könne wohl ein eisiges Bett im Moorsumpf finden. Da rief der Held zornig, er habe statt der Goldkette ein gutes Schwert gewonnen, das scharf genug sei, eine Lästerzunge abzuschneiden. König Hrodgar gebot dem Hofmann zu schweigen, aber dem Goten verhieß er, wenn er siegreich den Kampf bestehe, königliche Belohnung und einen dauernden Friedensbund zwischen ihren beiden Völkern.

Was bedeuten die vierzehn Gesellen von Beowulf? Auch im Urtext finden wir dazu keine nähere Andeutung. Wir könnten wieder an natürliche und geistige Prinzipien denken, die jeden Menschen im Lebenskampf begleiten und in vielen Geschichten personifiziert wurden. Ähnlich wurden im Nibelungenlied zwölf Recken in Burgund beschrieben, oder in der Dietrichsage die zehn Gesellen Dietrichs. In den Märchen finden wir sieben Zwerge, sieben Geißlein, sieben Raben, sieben Schwaben, sieben auf einen Streich und so weiter. Etwas klarer finden wir solche Prinzipien in der altindischen Philosophie, wo man an dieser Stelle an fünf Elemente, fünf Sinne, Ichbewußtsein und gedanklichen Verstand sowie universale Intelligenz und Vernunft denken könnte, die symbolisch wie sieben Pferde und ihre Reiter erscheinen.

So kommt nun Beowulf als Seelenkraft mit seinen vierzehn Gesellen, vom Spielmann des Schicksals geführt, in den „geweihten“ Hirschsaal, wo der Göttersohn herrscht, wie der Walvater in Walhall, der „Kampfhalle“, die man wiederum als Symbol für die ganze Menschenwelt betrachten kann. Dort trifft er bereits auf das Problem, einen Geist der Trennung, nämlich den Neid von Hunford. Sein altenglischer Name ist Unferth, den man als „Unfrieden“ oder „Unzufriedenheit“ deuten kann. Und genau darum geht es wohl auch in Walhall, um den göttlichen Frieden der Ganzheit im Sieg über die neid- und leidvollen Gegensätze. Doch was nützen dem Walvater die Kämpfer, wenn sie nicht beständig sind, sondern vom Tod dahingerafft werden? Was nützen sie, wenn sie zerstückelt und blutleer in den Höllensumpf der Dunkelheit des Unterbewußtseins sinken, weil sie sich des Träumens und Schlafens nicht erwehren können? Was nützt dann der ganze Lebenskampf in dieser Welthalle, wenn nichts Unvergängliches erreichbar wäre, sondern über alles der dunkle Tod herrscht? So verheißt der Göttersohn Frieden und bittet die menschliche Seelenkraft, diesen Kampf zu bestehen, um das Unvergängliche wiederzufinden und den Friedensbund zwischen Gott und Mensch zu gewinnen, damit Walhall wieder funktionieren kann.

Ja, das war schon immer eine große Frage, welche besondere Rolle der Mensch in dieser Welt spielt. Was ist der Sinn des Lebens? Welche Verantwortung hat der Mensch in der Schöpfung? Wozu wird er geboren? Gibt es da einen Gott, der den Menschen braucht? Warum braucht er ihn? Darüber haben die Menschen wohl schon lange nachgedacht. Und für solche tiefgründige Fragen wurden dann solche tiefgründigen Geschichten erzählt und später aufgeschrieben. Wir sollten uns dabei nicht allzusehr wundern, wenn sich darin verschiedene Religionen vermengen, denn wer die Wahrheit erkennt, der kann sie natürlich in jeder Form erkennen. Hätte es damals schon die moderne Quantenphysik gegeben, dann wären wohl auch diese Vorstellungen mit eingeflossen.

Als die Nacht anbrach und der Herrscher sich mit seinen Mannen entfernt hatte, wurden von Dienstleuten Betten und Lager für die zurückbleibenden Gäste hergerichtet. Beowulf, voll Mut und Vertrauen auf seine Kraft, legte Helm und Rüstung ab und übergab auch den dienstbaren Gesellen das Schwert. „Nicht mit dem Schwert will ich ihm sein Leben rauben, obwohl ich es könnte. Mit meiner Faust gedenke ich des Unholds Meister zu werden, der ja gleichfalls ungewappnet ist.“ So sprach der Held, indem er sich auf die weichen Polster streckte. Um Mitternacht stieg nach seiner Gewohnheit der Moorgeist aus dem Sumpf empor. Er witterte leckeren Fraß und stampfte nebelumhüllt über die Heide und weiter in die Königshalle. Er grinste vor Freude über die fette Beute und fletschte die Zähne, die gleich Eberhauern aus dem weiten Maul hervorragten, während die borstigen Hände mit stahlharten Adlerkrallen bewaffnet waren. Die Recken lagen alle wie gebannt im Schlaf. Nur Beowulf, den Zauber bezwingend, blinzte mit den Augen verstohlen nach dem grauenvollen Nachtmahr, der hoch aufgerichtet zu sinnen schien, auf wen er sich zuerst stürzen wolle. Jetzt war seine Wahl getroffen, und einer der Schläfer röchelte unter seinen Krallen, womit ihm der Höllenspuk Haut, Fleisch und Eingeweide vom Hals bis zum Gürtel zerriß, während er zugleich gierig sein Blut schlürfte und schließlich den ganzen Leib verschlang. Darauf wandte sich der Unhold zu Beowulf, aber des Helden Hand umklammerte dessen ausgestreckten Arm, wie die Zange einen Eisennagel, daß Grendel ein dumpfes Schmerzgebrüll ausstieß. Noch nie hatte er von einem Menschen im Erdenrund eine solche Kraft gespürt, als würden dreißig Männer gleichzeitig zupacken. Angst stieg in ihm auf, und er wollte davor fliehen, zurück in das dunkle Moor, doch Beowulf packte nur um so fester zu. Nun begann der entsetzliche Ringkampf, davon die ganze Halle erbebte und der Einsturz drohte. Die Schläfer erwachten, zogen ihre Schwerter, aber die Klingen prallten von der Schuppenhaut zurück wie von einem Felsen, und die Recken versuchten, sich in den Winkeln zu bergen, um von den Kämpfern nicht zertreten zu werden. Das Ungetüm erkannte die Meisterschaft des Gegners und strebte nur noch, sich von seinen kraftvollen Armen loszureißen und schleunigst zu entkommen. Es gelang ihm mit einem verzweifelten Ruck, doch sein umklammerter Arm, aus dem Schultergelenk gerissen, blieb in der Hand des Siegers. Nicht mehr der Recken, sondern des Unholds Blut bezeichnete nun den Weg nach dem Moor, den er fliehend genommen hatte.

Das ist nun wieder eine Symbolik, über die man lange und tief nachsinnen kann. Beowulf legt die Wieland-Rüstung des begrifflichen Verstandes und das Dornen-Schwert des Leidens ab, denn er weiß, daß auch sein Gegner direkt und unmittelbar ohne äußerliche Mittel kämpft. So kämpft er allein mit seiner mächtigen Seelenkraft. Was ist das für eine unmittelbare und unsichtbare Urkraft, die über den begrifflichen Verstand hinausgeht? Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Die moderne Wissenschaft sagt: Information ist der Urstoff des Universums. Wirklichkeit und Information sind dasselbe. (Anton Zeilinger)“ Also „Information“ als das, was aus dem Inneren heraus die Formen formiert. Ähnlich spricht die Bibel: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort… Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.« Dazu sagt dann Christus: »Ich bin das Licht der Welt… Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« Und aus geistiger Sicht sprechen wir gern vom Licht des Bewußtseins, also das Wissen, das im Sein alles bewegt. So spielt auch in dieser Geschichte das Bewußtsein eine grundlegende Rolle, denn Beowulf bleibt in der äußerlichen Nacht vollkommen bewußt und fällt nicht ins Träumen und Schlafen. Dadurch kann er mit ganzheitlichem Bewußtsein dem Störenfried begegnen, woran auch seine Kraft der dreißig Männer als eine Zahl der Ganzheit erinnert. Wer bereits praktische Meditationserfahrungen gemacht hat, könnte sich hier in der Rolle von Beowulf wiederfinden. Er versucht, das Prinzip des Greifens bewußt zu erfassen und nicht wieder aus dem Bewußtsein im Spiel der Trennung entkommen zu lassen. Im Zen-Buddhismus gibt es dazu die berühmten zehn Ochsenbilder, und der 4. Schritt besagt:

4. Den Ochsen einfangen
Ich mühe mich wacker, den Ochsen einzufangen.
Ich kämpfe mit seinem störrischen Eigensinn
und seiner unerschöpflichen Kraft,
während er hoch hinauf in dunstverhangene Berge
oder tief hinab in unwegsame Schluchten entweichen will.
(Quelle: Märchen-Interpretation zur „Kristallkugel“)

Im Grunde geht es natürlich darum, nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu erkennen, daß nicht nur unser Sehen Information, Wort, Licht und Bewußtsein ist, sondern auch alles, was wir sehen. Daher wurde uns der Begriff „Bewußtsein“ nicht in der Mehrzahl, sondern nur in der Einzahl gegeben, was bereits den Weg zur Ganzheit und Gottheit andeutet. So wird in diesem Kampf mit Grendel wieder die entscheidende Rolle des Bewußtseins deutlich, das sich auf tieferen und höheren Ebenen bewegen kann, mehr oder weniger weit, zertrennt oder gebunden, von der tiefsten Dunkelheit der Bindung bis zum höchsten Licht der Befreiung. Es ist also im Grunde ein Sieg des Bewußtseins, unserer ureigensten Seelenkraft, den Beowulf hier errungen hat. Was hat er dazu getan? Eigentlich nichts, er war nur mit seiner ganzen Seelenkraft ganzheitlich bewußt geblieben, hat sogar zugeschaut, wie sein Geselle zerrissen wurde und der Zerstörer sich von dessen Blut ernährte, aber er hat sich selbst nicht zerreißen oder davontragen lassen. Für diese Bewußtheit braucht man natürlich keine Waffen und Rüstungen, den auch Grendel ist nur Bewußtsein. Das ist wohl der große Weg, wie man den Tod ohne zu töten und die Zerstörung ohne zu zerstören besiegen kann.

5. Den Ochsen zähmen
Mit Peitsche und Zügel,
die sein Abschweifen in die Wildnis verhindern,
wird der Ochse schließlich gut erzogen
und von natürlicher Fügsamkeit sein -
gehorsam ohne Zwang.

Die Peitsche wäre dann die Bewußtheit als Schutz vor dem Einschlafen und Träumen, und der Zügel die Führung zum Ziel der Ganzheit, die Richtung der Bewußtseinsentwicklung. Nur äußerlich erscheint es für den Verstand wie ein „Ring-Kampf“, der die ganze Welthalle erschüttert, weil alle gewöhnlichen Konzepte zerfallen und verschwinden, wie sich auch seine Gesellen verstecken. Natürlich war es für Beowulf noch kein End-Sieg, denn Grendel selbst konnte sich zerreißen und in die Wildnis fliehen. Aber schon ein großer Sieg des ganzheitlichen Bewußtseins auf einer hohen Ebene. Und wir werden sehen, daß sich dieses Thema der Bewußtheit noch durch die ganze Sage ziehen wird, wie auch durch unsere ganze Lebensgeschichte.

Der Gotenheld hielt in der Rechten das schreckliche Pfand des Sieges, den blutigen Riesenarm mit der unwiderstehlichen Greifhand und ihren eisernen Krallen, die kein Schwert zerschneiden konnte. Der glühende Morgenschein umstrahlte ihn wie mit einer Glorie, und seine umstehenden Gefährten begrüßten ihn schier wie einen Gott. Er aber heftete das Zeichen seiner wunderkühnen Tat über das Portal des Saales. Darauf dankte er dem waltenden Allvater, der ihm die Kraft verliehen hatte, den gräßlichen Spuk zu bezwingen, und betend knieten neben ihm die Genossen, preisend die Güte und Hilfe der göttlichen Mächte.

So wird nun allen in der Halle das schreckliche Werkzeug von Grendel als Wesen der Zerstörung der göttlichen bzw. ganzheitlichen Ordnung sichtbar und bewußt. Im Prinzip ist es die eiserne Kralle der Begierde zum Ergreifen und eigenwilligen Festhalten, der „Greif“, den wir in der letzten Sage von Hagen bereits als Grundprinzip des trennenden Ego-Bewußtseins und begrifflichen Verstandes kennengerlernt haben. Es ist damit auch das Werkzeug der Trennung im Spiel der Gegensätze, das Beowulf nicht umsonst am Giebel der Hirschhalle anheftet, an der Wurzel des Geweihs, wo sich die Äste spalten und verzweigen, was praktisch im Kopf des kämpfenden Hirsches geschieht, wo der begriffliche Verstand mit seinen gegensätzlichen Gedanken arbeitet. Damit zeigt sich wieder das ganzheitliche Wesen von Beowulf als Ur- und Seelenkraft des Bewußtseins, so daß seine Tat ganzheitlich bewußt wird und entsprechend auch der Allvater als Allmacht und Allquelle geehrt und bedacht wird. Das ist der Weg zum ganzheitlich-vernünftigen Bewußtsein. Im Gegensatz dazu würde sich ein Ego-Bewußtsein diese Heldentat mit dem begrifflichen Verstand persönlich aneignen wollen und auch Ruhm und Ehre persönlich ergreifen, worin dann Grendel mit neuer Kraft gesunden und weiterleben kann.

Als sich die Recken erhoben, sahen sie den König und seine Hofmänner versammelt, die bald auf sie, bald auf den ausgestreckten Arm Grendels blickten und begierig waren, zu vernehmen, was sich in der Nacht begeben hatte. Da wurde von dem grauenvollen Kampf berichtet. Lange staunte der greise Hrodgar (Rüdiger) über das, was er vernahm. Dann gebot er seinem Neffen Hrodulf (Rudolf), die Gaben zu bringen, die er dem siegreichen Kämpfer verhießen hatte. Es währte nicht lange, so kehrte der tüchtige Recke an der Spitze vieler Dienstmänner mit den königlichen Geschenken zurück, nämlich ein herrliches Banner aus goldgewirktem Stoff, das berühmte Schatz-Schwert des Königs, Schild und Rüstung aus goldenen und silbernen Ringen, einen strahlenden Helm mit einem wertvollen Karfunkel, einen reichen Goldschatz, der den toten Gesellen aufwog, und acht treffliche Rosse mit goldverziertem Zaumzeug, von denen das achte einen kostbaren und kunstvoll gefertigten Sattel trug, auf dem der Herrscher selbst in viele siegreiche Kämpfe zu reiten pflegte. „Nimm hin, kühner Held“, sprach der König, „und nutze gut, was ich dir nebst dem Dank meines Volkes freudig für deine Hilfe spende. Bleibe mein und meiner Söhne Freund, sowie ich dich in Treue meinen Kindern gleich erachte.“ Als Beowulf seinen Dank für die Geschenke ausgesprochen hatte, befahl der Herrscher, die hochgehörnte Halle zu reinigen und zum festlichen Mahl herzurichten.

Hier kann man nun wieder über das Wesen von König Hrodgar als „Speer der Ehre“ nachdenken, und warum er nicht erkannte, daß nur das Werkzeug der Zerstörung als ein Teil des Problems besiegt wurde. Zumindest macht er nun seinem Namen alle Ehre und ehrt und verehrt den siegreichen Helden. Was ist der Unterschied zwischen ehren und verehren? Etymologisch erinnert die Vorsilbe „ver“ an „herausführen“ und so könnte man an ein innerliches und ein äußerliches Ehren denken. Diese beiden Arten der Ehrung waren schon immer ein wichtiges Mittel im Leben der Menschen, die ihre Götter und Geister ehren, wie auch die Dinge des täglichen Lebens verehren. Interessanterweise dient nun für die Verehrung mit besonderen Gaben wiederum ein Neffe, der sich auch „Wolf“ nennt, aber ein Brudersohn ist, also eine Geisteskraft des göttlichen Königs, die nun Beowulf als Seelenkraft beschenkt.

Der Name Hrodulf läßt sich von altnordisch „hrod“ für Ruhm und Ehre und „ulf“ für Wolf ableiten und bedeutet „Ruhm- oder Ehr-Wolf“, was wir ähnlich wie bei Beowulf wieder umkehren müßten, so daß diese Ehrung der Wolfsjagt dient. Damit gibt es zwei Wolfsjäger, die ihrem König dienen: Dem menschlichen König als „Kampfspiel des Verstandes“ dient der fleißig handelnde Beowulf, und dem göttlichen König als „Speer der Ehre“ dient der mit geistigen Gaben ehrende und segnende Rudolf.

So wird nun Beowulf als menschliche Seelenkraft des Bewußtseins mit allem geehrt und beschenkt, was in der Welthalle für den siegreichen Kampf wichtig ist. Symbolisch können wir darin das goldene Banner der Wahrheit sehen, das göttliche Schwert der Weisheit, den unzerstörbaren Schild und die Rüstung der Gegenwärtigkeit, den Helm mit dem strahlenden Stein der Weisen, den Goldschatz der wahren Lebenskraft und acht lebendige Prinzipien der körperlichen Schöpfung mit dem goldenen Zaumzeug des Gewahrseins, von denen das achte einen besonderen Sattel trägt, auf dem die ganzheitliche Vernunft siegreich reitet. Ähnlich reitet auch Odin symbolisch auf einem Pferd mit acht Beinen, in denen man die acht Säulen der Schöpfung sehen kann.

Über die Zahl „Acht“ kann man wieder viel nachdenken. Auch wenn unsere Sprachforscher vehement behaupten, daß die Zahl Acht nichts mit Achtsamkeit, Achthaben oder Achtung zu tun hat, so liegt doch eine enge Verbindung zum ewigen Licht des Bewußtseins nahe, das auch im Kampf von Beowulf eine zentrale Rolle spielt. Zumal das Zeichen 8 in liegender Form auch als Symbol für die Unendlichkeit ∞ benutzt wird, welches dann wiederum an die beiden Augen von Odin in einer reflektierenden Endlosschleife erinnert. Diesbezüglich heißt es in der nordischen Edda, daß Odin ein Auge im Schicksalsbrunnen geopfert hat, aus dem dann Mimir schöpft, den wir bereits am Anfang der Nibelungensage als gedanklich-begrifflichen Verstand kennengelernt haben, wie er die Welt unserer Vorstellungen aus dem Auge bzw. Bewußtsein des Allvaters schöpft:
Wohl weiß ich, Odin, wo du dein Auge verborgen hast, in dem berühmten Mimirbrunnen. Met trinkt Mimir jeden Morgen aus Walvaters Pfand. Wißt ihr’s zu deuten? (Völuspá, Vers 28)

Das würde bedeuten: Wie das Sehen Bewußtsein ist, so ist auch das Gesehene Bewußtsein, vom Verstand geschöpft, und damit ist der Allvater gleichzeitig Zeuge und Erzeuger. Ähnlich sagt auch Meister Eckhart in seinen christlichen Predigten:
Soll mein Auge die Farbe sehen, dann muß es ledig sein aller Farbe. Sehe ich blaue oder weiße Farbe, dann ist das Sehen meines Auges, das die Farbe sieht, also das, was da sieht, dasselbe wie das, was da gesehen wird mit dem Auge. Das Auge, in dem ich Gott sehe, das ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht. Mein Auge und Gottes Auge, das ist ein Auge und ein Sehen und ein Erkennen und ein Lieben. (Predigt 13)

In diesem Sinne ist alles Bewußtsein, und dann wäre ohne dieses achte Prinzip der Achtsamkeit als Licht des Bewußtseins überall nur Dunkelheit, also „Nacht“ mit der Bedeutung „Nicht-Acht“. Auch hier wollen unsere Sprachforscher keine relevante Verbindung sehen, obwohl man diese auch in anderen Sprachen wiederfinden kann, wie Englische Night als N-eight, Italienisch Notte als N-otto, Französisch Nuit als N-huit oder Spanisch Noche als N-ocho. Natürlich kann das etymologischer Zufall sein, wie auch Macht, Might, Fracht, Freight, Wacht, Tracht, Pracht oder Weight.

Ähnlich können wir auch in den altindischen Puranas ein achtes Prinzip finden, in dem sich alle Gegensätze von Natur und Geist im Ungestalteten auflösen, wie zum Beispiel im Vayu-Purana 1.4 oder Bhagavata Purana 3.26. Denn das Bewußtsein selbst ist formlos. Diesbezüglich spricht man auch von Shiva als Mahadeva oder ganzheitlichem Gott der Auflösung.

Hier könnte man schließlich noch über eine Verbindung zwischen König Hrodgar als „Speer der Ehre“ und Gungnir, den unfehlbaren Speer von Odin, nachdenken, den die Zwerge als Naturgeister geschaffen hatten und der geworfen, immer wieder zurückkehrt. Gungnir läßt sich als der „Schwankende“ oder „Gehende“ deuten, was uns wieder an die endlose Welle von Werden und Vergehen erinnert, die man auch im Symbol der 8 finden kann, wenn sich das Prinzip der „Achtung“ bewegt und sozusagen zur „Beachtung“ wird. Nicht umsonst wurde dieser Speer zusammen mit dem goldenen Ring Draupnir geschaffen, dem „Tröpfler“, der im Vergehen und Werden in jeder neunten Nacht wieder acht neue Ringe hervorbringt. Und wie nun König Hrodgar durch seine Gaben die Seelenkraft des Menschen auf das große Ziel von Walhall richtet, so könnte auch der Speer von Odin die Seelenkraft der Verursachung symbolisieren, die auf das große Ziel der ganzen Schöpfung gerichtet ist. Dafür empfängt auch der Mensch göttliche Gaben.

Während dies geschah, trat noch Hunford hinzu. „Edler Held“, sprach er, „ich habe dich mit höhnender Rede gekränkt, weil ich deiner Heldenkraft unkundig war, mit der sich kein anderer vergleichen darf. Nun aber vergönne mir, daß ich den königlichen Gaben noch mein Schwert Hrunting hinzufüge, das Werk eines Waffenschmiedes aus uralten Zeiten, im Kampfblut gehärtet und mit eingeätzten Schlangen verziert. Es wird dir im Krieg niemals versagen, denn weder Schild noch Stahlhelm widersteht seiner Schneide.“

Schließlich bekommt er als Wolfsjäger noch von Hunford in der Rolle der Unzufriedenheit das uralte Schwert Hrunting, das uns an „hunting“ als „jagen“ erinnert. Es ist wohl so alt wie die Begierde des Wolfes und die dazugehörige Unzufriedenheit als unersättlicher Hunger. Es dient der Gedankenjagd nach Vorstellungen und Begriffen im Schlangenreich der Gegensätze und wird natürlich niemals wirkungslos bleiben, weil jeder Gedanke eine geistig-schöpferische Kraft hat und auf dem Meer der Ursachen eine Welle schlägt. Wird dem Wolfsjäger dieses Schwert nützlich sein? So bekommt Beowulf mehrfach ein neues Schwert, was man wohl symbolisch verstehen sollte, im Sinne einer erweiterten Funktionalität seines Schwertes bzw. eine Erweiterung seines Bewußtseins und seiner Macht.

Die versöhnten Männer gingen in den Königssaal, wo das Mahl bereitet war. Nachdem sich die frohen Gäste an den köstlichen Speisen gelabt hatten, begann das Gelage. Der Spielmann sang ein Heldenlied von Hnäf, dem mächtigen Scylding, Healfdenes Held, der ruhmreiche Dänenfürst, der im Lande von Finn sterben sollte. Seine Schwester Hildburg hatte er weitsichtig mit König Finn verheiratet, um Frieden zwischen beiden Völkern zu sichern. Sie gebar ihm einen Sohn, der zu einem jungen Helden heranwuchs. Doch in Finns-Herzen wuchs der Neid auf seinen ruhmreichen Schwager und damit auch der Haß. Da lud er den Dänenfürsten hinterlistig zu einer Feierlichkeit ein. Hnäf erschien mit seinem Gefolge von sechzig edlen Recken, und sie feierten in der gehörnten Halle von Finns Burg, wo sie auch übernachten wollten. Gegen Mitternacht griffen plötzlich Feinde in funkelnder Rüstung an, die Wölfe heulten, die Raben kreischten, und der Vollmond verbarg sich hinter dunklen Wolken, denn der grimmige Haß nahte sich. Kein fliegender Drachen, kein Feuerbrand vom Blitzschlag, sondern das Haß-Feuer zum Donnerklang der Speere, die auf Schilde trommelten. „Erwachet, edle Kämpfer!“, hallte der Ruf des Scyldings durch die Halle, und die sechzig Helden rüsteten sich unverzüglich zum Kampf. Sie sicherten die Tore der Halle und kämpften tapfer gegen die Angreifer, allen voran Hnäf selbst und sein treuester Geselle Hengest. Der Kampf dauerte fünf lange Tage. Finns Krieger waren bald alle besiegt, darunter auch der Sohn von Finn und Hildburg, der jugendliche Held. Doch noch größer wurde der Jammer, als auch Hildburgs Bruder im tödlichen Kampf fiel, Hnäf selbst, der ruhmreiche Dänenfürst, von Finn erschlagen, nachdem er vom langen Kampf ermüdet war, mit gespaltenem Helm, zerbrochenem Schild und zerstörter Rüstung. Finn hatte sein Ziel erreicht und erkannte wohl, daß er gegen Hengest und seine restlichen Helden nicht mehr gewinnen konnte, denn überall häuften sich die Leichen seiner eigenen Krieger, und auch seine Kraft schwand dahin. Um sich selbst und sein trauriges Häuflein zu retten, bot er einen Friedensvertrag an, der dann auch mit vielen Geschenken und feierlichen Eiden beschlossen wurde. So legte sich der schreckliche Streit, die Verwundeten wurden gepflegt und die Toten bestattet. Die Leiche von Hnäf, dem ruhmreichen Scylding, wurde auf einen mächtigen Holzstapel gebettet, geschmückt mit der blutigen Rüstung, dem Schild mit dem goldenen Eber-Wappen und seinen mächtigen Waffen. An seine rechte Seite legte Hildburg ihren toten Sohn, so daß Hnäf zusammen mit seinem jungen Neffen verbrannt wurde. Klagelieder wurden gesungen, und der Rauch des Feuers trug den unsäglichen Jammer Hildburgs über ihren getöteten Sohn und Bruder hinauf in den Himmel. Beide Völker verloren die besten Blüten ihrer Kraft.

Ein trauriger Herbst ging zur Neige, die eisige Winterzeit brach an. Hengest verweilte den grimmigen Winter über in Finns Burg, das Schiff war im Meer eingefroren, seine Gedanken strebten nach der Heimat, doch im Inneren hielt ihn die Rache zurück. Als die eisige Winterzeit zu Ende ging, wurde ihm sein mächtiges Schwert Hunlafing bewußt. Er zog es auf der Scheide, erinnerte sich an den tödlichen Hinterhalt, hörte die Anklage der Toten, und das Schicksal holte König Finn in seiner eigenen Burg ein. Die Macht des Schwertes traf ihn unwiderstehlich, und die gehörnte Halle färbte sich rot vom feindlichen Blut. Finn fiel, Hildburg wurde auf das Schiff gebracht, und dazu der Goldschatz mit den Edelsteinen, der in Finns Burg zu finden war. Und so kehrte er mit der edlen Frau in seine Heimat zurück.

Wir haben an dieser Stelle das Lied von Hnäf aus dem Urtext nacherzählt und eingebaut, weil es eine wunderbare Botschaft hat. Auch hier finden wir einen „unmündigen Neffen“ wieder. Vermutlich hat sogar Hnäf die Bedeutung von „Neffe“, und damit könnte er als Scylding ein Neffe von Beow oder Healfdene gewesen sein. Ja, so ist das mit den Neffen, sie sind mehr die innerlichen Helden und stehen selten im äußeren Rampenlicht, werden in den Stammbäumen gern vergessen oder bleiben namenlos. Der neidige König wird Finn genannt. Sein Name läßt sich von altnordisch „finnr“ für Jäger und Sammler ableiten und erinnert damit an den eigenwillig-begrifflichen und raffsüchtigen Ego-Verstand als Ursache für Neid und Haß. Dahinter steht das trennende Ego-Bewußtsein von Mein und Dein, Gewinn und Verlust. Damit geht natürlich die Wahrheit verloren, das heißt, der Mensch ist sich der Wahrheit nicht mehr bewußt und verschließt und versteckt diesen Gold- und Edelsteinschatz in seiner Körperburg, wie der Drache in seiner dunklen Höhle.

Die Geschichte deutet nun an, wie Hildburg, die „in der Körperburg kämpft“, als Seele der Verkörperung dem Menschen gegeben wird, um den großen Frieden mit der Ganzheit oder Gottheit wiederzufinden. Doch das Finn-Ego geht den entgegengesetzten Weg: Es schöpft aus dem trennenden Ego-Bewußtsein Neid und Haß und baut sich eine eigene gehörnte Kampfhalle, weil es nicht in Walhall als Einherier für die Gottheit kämpfen will, sondern für sich selber, um Eigentum und Eigenwillen. In dieser eigenen Kampfhalle tötet das Ego aus Neid und Haß die ganzheitliche bzw. göttliche Vernunft und damit auch seinen eigenen Sohn, der als unmündiger Neffe an das Wesen von Beowulf als Seelenkraft der Bewußtheit erinnert, also das Wertvollste, was der Menschen hat. Doch schließlich holt ihn das Schicksals-Schwert der „Erb-Macht“ im Spiel von Ursache und Wirkung ein, der äußerliche Friedensbund zum Ego-Nutzen kann nicht beständig sein, und Hengest tötet diesen Menschen im eisigen Winter des Lebens, wenn der Verstand alles eingefroren hat und sich nichts mehr bewegen kann. Hier könnte man über den Sinn der schicksalhaften Natur- und Karmagesetze nachdenken und wie man mit ihnen wahren Frieden schließen kann. Friedrich Schiller schrieb dazu:

Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, der es verschmäht,
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.

Der Name Hengest bedeutet „Hengst“ und erinnert uns an das achtbeinige Pferd von Odin als Symbol der Körperlichkeit und deren Naturgesetze, wie auch Hildburg an Odins Speer als Seelen-Speer oder -Pfeil der Verursachung, die schließlich beide mit dem Goldschatz der wahren und ewigen Lebenskraft in ihre Heimat zurückkehren. Doch das große Ziel der „heiligen bzw. heilsamen Ehe“ von Körper und Seele oder Geist und Natur wurde wohl damit noch nicht erreicht.

»So wahr als ich lebe, spricht Gott der Herr: Ich habe kein Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß der Gottlose umkehre von seinem Wege und lebe. (Hes. 33.11

So wird nun im Folgenden Beowulf besungen, der einen besseren Weg geht:

Danach besang der Spielmann im Heldenlied, wie Beowulf den Moorunhold ohne Waffen bezwungen, wie er schlimmere Feinde, den Haß und die Rache, gebändigt hatte, die bisher die Brudervölker zu blutigen Fehden entflammt hätten. „Du bist der Friedensbringer“, schloß der Sänger, „von dem einst die Wala den Vätern verkündigte.“ Die Königin Wealhtheow aber füllte die Hörner mit schäumendem Met. Sie kam auch zu Beowulf, reichte ihm einen vollen Becher von lauterem Gold und hieß ihn denselben zum Gedächtnis der Geberin behalten, desgleichen zwei goldene Armreifen, Ringe und einen glänzenden Halsschmuck, so unwiderstehlich schön wie der Brising-Schatz (von Freya, der Liebesgöttin), um den schon mancher Kampf geführt wurde. „Trage diese Kleinodien uns zu Lieb und Ehren, dir aber zum Heil und Sieg in allen Kämpfen eines langen Lebens.“ Damit schied die hohe Frau von dem tüchtigen Helden, nachdem er ihr seinen Dank für ihre Güte ausgesprochen hatte. Nun kreiste die fröhliche Rede, und die Hörner wurden fleißig geleert, bis der Abend zur Ruhe einlud. Eine Anzahl von Gästen begehrte Herberge in der Halle, da man den einarmigen Grendel nicht mehr fürchtete.

Nachdem Beowulf von der männlichen bzw. geistigen Seite geehrt wurde, bekommt er nun auch von der weiblichen bzw. natürlichen Seite entsprechende Gaben. Der altenglische Name Wealhtheow läßt sich mit „Dienerin der Fremden“ übersetzen und meint wohl aus göttlicher Sicht die verkörperten Wesen, die sich von Gott als Ganzheit getrennt haben und in die äußerliche Welt ausgewandert sind. Wie auch Meister Eckhart sagt:
Der Leib ist hienieden kühn und stark, denn er ist hier in seiner Heimat. Die Welt hilft ihm, diese Erde ist sein Vaterland, ihm helfen hier alle seine Verwandten: die Speise, der Trank, das Wohlleben - das alles ist wider den Geist. Der Geist ist hier in der Fremde; im Himmel aber sind alle seine Verwandten und sein ganzes Geschlecht: dort ist er gar wohl befreundet, wenn er sich dorthin richtet und sich dort heimisch macht. (Predigt 59)

So empfängt Beowulf von der Königin goldene Ringe als Symbol der Ganzheit und einen Halsschmuck, der an Brisingamen erinnert, den die Liebesgöttin Freya trägt, so daß ihre natürliche Schönheit allen in die Augen sticht, denn mittelhochdeutsch „brisen“ bedeutet „durchstechen“. Er wurde von vier Zwergen als Naturgeister gemacht, die uns an die vier Elemente der Natur und deren Schönheit erinnern. Mit ihnen mußte sich Freya vereinen, um ihre äußerlich verführerische Schönheit zu gewinnen, die dann zur Begierde und Leidenschaft im weltlichen Kampf wurde. So ist nun Beowulf herausgefordert, diesen Schmuck in Liebe und Ehre zum Göttlichen auch ohne Leidenschaft zu tragen, zum Heil und Sieg in allen Kämpfen, zum ewigen Ruhm und Leben, was wohl nur mit einem ganzheitlichen Bewußtsein möglich ist, woran die goldenen Ringe und Armreifen erinnern.

Während nun der Herrscher mit seinen Verwandten und Fürsten und dem kühnen Beowulf nach der Burg schritt, wurden Betten und Polster im Saal ausgebreitet, damit die zurückbleibenden Recken gut Gemach haben möchten. — Es kam indessen anders, als man hoffte.


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[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: (3. Advent)