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Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]
Ehe der Tag graute, stand schon die erste Jungfrau am Fenster und schaute aus nach der Flotte und dem Heer. Der Morgenstern glänzte am Himmel, und der Horizont war noch von nächtlicher Dunkelheit verhüllt. Dreizehn lange Jahre waren nun seit der großen Schlacht auf Wülpensand vergangen, eine neue Generation fähiger Kämpfer war herangewachsen, Frau Hilde hatte ein mächtiges Heer versammelt, zahlreiche Schiffe wurden gebaut und wohlbeladen, alle ihre Verbündeten hatten sich versammelt und waren nun zum großen Kampf bereit. Viele Hindernisse hatten sie auf der langen Fahrt gemeistert, manchen Sturm durchgestanden, und jetzt trieb sie ein günstiger Wind zur Küste der Normandie. Die Jungfrauen schauten sehnsüchtig auf das wellenreiche Meer hinaus. Da stiegen weiße Wolken am Horizont auf, und wie das Morgenrot seine Strahlen darüber goß, erkannten sie, daß es Segel waren. Und wie die Sonne aufging, fielen ihre Strahlen auf blanke Helme und Schilde. Nun war kein Zweifel mehr: Die Jungfrauen weckten ihre Herrin, und diese hätte laut aufjauchzen mögen. Aber aus Furcht vor Gerlinde hielt sie den Jubelruf zurück und sah mit pochendem Herzen, wie das mächtige Heer landete und der ganze Strand von Waffen erglänzte.
So könnten wir nun aus geistiger Sicht einen neuen Hettel-Menschen sehen, der unter der Führung von Hilde als Schicksalsnorne der Zukunft im Reich der Hegelingen bzw. der Trennung über dreizehn Jahre gewachsen ist. Über das Wesen der Zeit haben wir schon in vielen Märchen-Interpretationen nachgedacht, und wie es eng mit dem Ergreifen und Festhalten von vergänglichen Formen verbunden ist. Entsprechend wurde auch hier der „neue Mensch“ im Laufe der Zeit vom alten Wate-Verstand in seiner begrifflichen Kampfkunst ausgebildet, doch verbindet er sich nun als junger Held mit der Weisheit von Frute, der Vernunft von Siegfried und auch mit Ortwin als Freund der Einheit. Horand spielt weiterhin die Schicksalsharfe, und die Reise führt auf dem Meer der Ursachen im Schiff der Körperlichkeit zum Kampf gegen das Ego-Wesen, das in der Rolle von Hartmut die geliebte Gudrun als Gott-Rune der Ganzheit geraubt und entführt hatte. Dieser „neue Mensch“ wuchs wohl vor allem in Herwig heran, aber auch Gudrun entwickelte sich im Ego-Reich des Leidens, um diesen großen Kampf vorzubereiten.
Damit geht es auch weiterhin um das über viele Generationen vererbte Problem der Trennung, das in dieser Geschichte mit Hagen und dessen Trennung von seinen Eltern durch den „Greif“ begann. Die drei Schicksalsnornen bzw. Meerjungfrauen aus dem Meer der Ursachen, mit denen sich Hagen unter dem Greifennest verbunden hatte, sind immer noch lebendig: Frau Hilde als Tochter von jener Hilde aus Indien, die Hagen geheiratet hatte. Die namenlose Schicksalsnorne der Gegenwart aus Isenland, die nach Norwegen verheiratet wurde und aus geistiger Sicht an die Rolle von Siegfried erinnert, der vielleicht sogar als ihr Sohn geboren wurde. Und Hildburg aus Portugal, die als Schicksalsnorne der Vergangenheit immer noch Jungfrau ist, aber sich nun mit Ortwin, dem Sohn von König Hettel verlobt hatte, um das angesammelte Karma bzw. Schicksal im großen Kampf des Lebens endlich auszuwirken und das vererbte Ego-Problem der Trennung zu lösen, die sogenannte „Erbsünde“. Wird das gelingen?
Der Wächter auf dem Turm war eingenickt. Jetzt wachte er auf, stieß mächtig ins Horn und rief mit tönender Stimme: „Wacht auf, wacht auf, Normannen! Feinde vor der Burg!“ Die Könige vernahmen den Ruf, aber sie konnten des Schlafes nicht Meister werden. Da stürzte Frau Gerlinde in ihr Gemach. „Das Heer von Hegelingen!“, rief sie: „Das war Gudruns Lachen! Die üble Maid wußte wohl, warum sie lachte.“ Sofort sprangen Vater und Sohn vom Lager, warfen ihre Mäntel um und eilten auf den Turm. König Ludwig meinte, es könnten auch Pilger sein, die mit ihren Waffen das heilige Grab befreien wollten. Aber Hartmut sprach: „Ich wähne, es sind die Banner, welche am Wülpensand flatterten. Schau, Vater, voran weht die Fahne von Sturmland, ein grimmiger Bär im grünen Feld, des alten Wate Zeichen. Daneben das Drachenbanner aus Hegelingen, das Frau Hilde sendet und von Frute getragen wird, sowie die Sonne mit goldenen Strahlen des jungen Ortwins. Dort Horands Harfe, der Sänger, der uns ein leidvolles Lied spielen wird. Nun stürmt von den Schiffen her auch der unverzagte Herwig. Hoch flattert seine Fahne mit dem Delphin im blauen Feld, und hinter ihm das Löwenhaupt von Moorland, das Banner des Recken Siegfried.“
Nun überschlagen sich die Symbole: Zuerst der Schlaf der Unbewußtheit im Traum der Illusion, den das Ego träumt und aus dem uns die äußerliche Dornen-Natur aufwecken will. Doch das ist noch ein Aufwecken im Traum, so daß sich das reine Bewußtsein die Mäntel anzieht, um die verschiedenen Rollen im Spiel der Trennung zu spielen. Der räuberische Eigenwille erkennt in diesem Kampf-Spiel eine Schar bewaffneter Pilger, die irgendwo weit draußen in der Welt das Christusbewußtsein aus dem irdischen Grab befreien wollen. Aber nein, das Grab liegt in seinem eigenen Reich, wo das trennende Ego herrscht und die ganzheitliche Vernunft getötet wurde. Und das erkennt der Sohn und sieht auch die Zeichen des bevorstehenden Kampfes: Die grimmige Bärenkraft des gedanklichen Wate-Verstandes mit seiner gewaltigen Gedankenarmee. Das große Drachenkampf-Banner von Frau Hilde, welches von der Frute-Weisheit in den Kampf geführt wird, um gegen den Ego-Drachen den Sieg der wahren Liebe zu gewinnen. Die Sonne des reinen Bewußtseins mit den goldenen Strahlen der Wahrheit von Ortwin als Freund der Einheit. Die Schicksalsharfe von Horand, der das schicksalhafte Lied singt, das sich lebendig verwirklichen will. Das lebendige Wasserwesen aus dem Meer der Ursachen von Herwig als erwachende Vernunft. Und das Haupt vom König der Tiere, Nibelungen und Nebelgeister als Banner von Siegfried, der ganzheitlichen Vernunft im Kampf um den Sieg-Frieden der Liebe. Ja, das sind dem eigenwilligen Ego schlimme Gäste, die es von außerhalb zu sich kommen sieht und die es auf dem Feld der äußerlichen Natur bekämpfen will, um sein Raubeigentum zu verteidigen:
„Das sind uns schlimme Gäste, ein gewaltiges Heer“, sprach König Ludwig, „aber wir müssen sie, als gute Wirte, draußen auf dem Feld empfangen. „Du sagst, was ich denke“, antwortete Hartmut, „nicht hinter Mauern verbirgt sich der Normanne, wenn solche Gäste mit Speer und Schwert Bewirtung fordern.“ Umsonst mahnte Gerlinde zur Verteidigung der starken Burg. Ludwig wies sie mit rauhen Worten zurück, ließ die Burgmannen sich wappnen und rückte durch das geöffnete Tor ins freie Feld, während Hartmut aus einer anderen Pforte mit seiner bewaffneten Schar hervorbrach. Hoch ragte der junge König über alle Recken um eines Hauptes Länge empor, und furchtbar stürmte er in die feindlichen Reihen, daß alles vor ihm zurückwich. Das sah König Ortwin mit Gram. Er erkannte den Sohn dessen, der ihm den Vater erschlagen hatte. „Blut für Blut!“ Mit diesem Ausruf griff er den Normannen an. Die Helden kämpften grimmig, und ihre Recken drängten von beiden Seiten. Doch Hartmut war ein tüchtiger Held und hieb den Gegner durch Halsberg und Brünne, daß die Ringe vom strömenden Blut rot wurden. Schon blitzte sein Schwert zum Todesstreich, da warf sich der kühne Horand dazwischen und fing mit erhobenem Schild die Klinge auf. Indessen konnte auch er vor dem furchtbaren Helden nicht bestehen. Mit Mühe und Not wurde er verwundet von seinen Getreuen aus dem Getümmel geführt, und viele seiner Recken fielen unter den mörderischen Schlägen des kühnen Normannen. Von der anderen Seite drang König Ludwig unaufhaltsam vor. Ihm warf sich Herwig, der Held von Seeland entgegen. Aber nur sein stahlfester Helm bewahrte sein Leben, denn von einem gewaltigen Streich des Königs getroffen, strauchelte und fiel er zu Boden. Seine Getreuen fielen Mann für Mann um ihn her. Als jedoch die Betäubung von seinem Haupt wich, sprang er wieder auf. Da sah er die edle Jungfrau oben am Fenster, wie sie händeringend auf ihn niederschaute. „Gudrun!“, rief er, „Gudrun!“, zum zweiten und dritten Mal. König Ludwig warf verwundert einen Blick rückwärts über den gesenkten Schild. Da traf ihn das Schwert, das sein Gegner mit beiden Händen gefaßt hatte, durch Halsberg und Ringe, daß sein Haupt zu Boden fiel. „Der König tot!“, riefen seine Mannen und wichen und flohen vor dem andringenden Sieger, dem mächtigen Horand und dem Moorländer Siegfried. Noch gewaltiger drängte Wate, der alte Held von Sturmland voran. Er schlug Mann und Roß zu Boden. Sein Schwert und sein Gewand trieften von Blut. Die flüchtigen Normannen drängten nach den offenen Toren und schlossen sie erschrocken, als der alte Wate würgend und mordend daher stürmte. Ein Hagel von Steinen und Geschossen empfing den kühnen Helden, aber sein Schild war von dickem Eisen und schützte ihn. Er rief nach Leitern und Sturmgerät und gedachte, die Mauern zu erklimmen.
Wer es jemals versucht hat, gegen das Ego anzukämpfen, wird sich vielleicht in diesem Kampf wiederfinden und weiß, wie schwer es zu besiegen ist. Der begriffliche Verstand kann es niemals besiegen, auch nicht mit der größten Gedankenarmee, aber die Vernunft, die aus dem Verstand gewachsen ist und hier in der Rolle von Herwig erscheint, kann mit der Hilfe von Gudrun als Rune der Ganzheit zumindest die geistige Ego-Wurzel köpfen, nämlich dessen Vater als räuberischer Eigenwille. Denn wer auf die Ganzheit schaut, der besiegt den Eigenwillen zur Aneignung von Eigentum und Eigenständigkeit als Wurzel der Trennung. Danach gilt es, die Räuberburg zu erobern, worin die Gott-Rune gefangen wurde:
Noch hielt sich außerhalb, unkundig, daß sein Vater gefallen war, der königliche Hartmut mitten auf dem Feld, wo er bisher siegreich gestritten hatte. Als er die Flucht der Normannen gewahrte, zog er sich mit seinen Kriegern langsam nach der Burg zurück. Da sah er, wie oben auf der Zinne Frau Gerlinde einem Knecht mit blankem Schwert einen Auftrag gab. Er kannte wohl den argen Sinn der Mutter und wußte, sie erteilte dem Mann Befehl, die wehrlosen Frauen zu ermorden. Sofort rief er mit Donnerstimme zum Knecht: „Feiger Hund, regst du eine Hand zum Mord, dann sollst du noch heute am Galgen hängen.“ Der Mann ließ das Schwert fallen und entwich aus Furcht vor dem Zorn des Gebieters.
Auch diese Symbolik ist aus geistiger Sicht interessant: Als die leidvolle Dornen-Natur den Tod ihres Ehemannes als räuberischen Eigenwillen sieht, will sie natürlich ihr gegensätzliches Wesen retten und versucht, die Gott-Rune mit ihren Jungfrauen als bedrohliche Ganzheit mit Hilfe eines Mannes bzw. Geistes und dem Schwert der Trennung zu töten. Doch gerade der Ego-Sohn hält diesen Geist zurück, weil er wohl ahnt, daß dies auch sein eigener Tod wäre. Denn das Ego-Bewußtsein ist natürlich ein Teil des Ganzen und hat davon eine tiefe Ahnung, die sich auch in seiner Liebe zu Gudrun ausdrückt.
Indessen sah Hartmut mit Erstaunen den alten Wate an der Pforte der Burg. Er hielt auf einer Höhe, und im Sattel sich erhebend, blickte er weitum, ob nicht sein Vater Ludwig Hilfe bringe. Aber überall wallten die Banner der Helden von Hegelingen und ihrer Bundesgenossen, überall feindliche Schwerter und Rüstungen. Horand, Frute und der Recke Siegfried stürmten mit ihren Mannen auf Hartmut und das Häuflein, das ihn umgab. Der unverzagte Recke suchte sich Bahn zu schaffen. Er dachte nicht an feige Flucht. Nun aber kehrte sich der blutige Alte gegen ihn. Unter seinen furchtbaren Streichen fielen die Normannen wie Halme unter der Sense des Schnitters. Jetzt schwang er das Schwert gegen den bedrängten König, dessen Tod gewiß schien. Es war ein verhängnisvoller Augenblick, aber der alte Held wurde plötzlich gehemmt. Herwig warf sich ihm in den Weg und flehte ihn an, des Feindes zu schonen. Wate führte in seiner Kampfeswut den Streich auf das Haupt des Freundes, daß er betäubt unter die Leichen erschlagener Normannen fiel. Das brachte den wilden Krieger zur Besinnung. Von Hartmut ablassend, hob er den werten Genossen auf und war froh, daß er noch lebte. „Hat es dir der Teufel ins Ohr geraunt, daß du um des Frauenräubers willen das Richtschwert hemmtest?“ - „Nicht der Teufel“, antwortete Herwig, „die edle Gudrun selbst, von der freundlichen Ortrun angerufen, bat mich, deren Bruder zu retten.“ - „Ach, die Weiber!“, rief der Alte von Sturmland: „Ja, die Weiber, eine wie die andere, haben Herzen so weich und schmiegsam, wie die weißen Wolken, die der Wind hin und her weht. Aber nun fort zur Burg Cassian, daß wir die Schlange in ihrer Höhle ergreifen!“
Hier zeigt sich nun wieder, daß der Verstand das Ego nicht töten kann, sondern bei diesem Versuch nur die aus dem Verstand wachsende Vernunft trifft. Denn für den Verstand bedeutet das Töten ein Abtrennen von dem, was für ihn nicht leben und wirken soll. Und damit stärkt er natürlich immer auch das Ego als ein Bewußtsein der Trennung und schwächt die ganzheitliche Vernunft. So ist es auch nicht der Teufel bzw. das Ego, das ihn hier vom Töten abhält, sondern Ortrun und Gudrun als Seele der Einheit und Ganzheit. Was der begriffliche Verstand natürlich nicht verstehen kann, denn er sieht mit seinen Gedanken nur Gegensätze, das „Hin und Her der Wolken im Wind“ oder der „Wellen im Geist“. Und das ist im Prinzip auch die schlängelnde Schlange, gegen die er nun kämpft:
Der Streit mit Hartmut hatte sich in die Ferne gezogen, und der Held von Sturmland drang wieder gegen das Burgtor. Viele seiner Mannen starben unter dem Hagel von Geschossen. Doch wurde die Pforte gesprengt, er stürzte in den Burghof, Krieger und Knechte niederhauend, und die Treppe hinauf, wo auf jeder Stufe Blut floß, und hinein in den Frauensaal, wo sich um Gudrun die erschrockenen Jungfrauen drängten, während Ortrun und Gerlinde zitternd zu ihren Füßen knieten und um Schutz flehten. „Wo ist die Schlange?“, rief der mächtige Held: „Redet, Gudrun und ihr anderen!“ Er war blutig bis an die Achseln, auch sein Schwert triefte von Blut. Er war entsetzlich anzusehen, doch die königliche Jungfrau zitterte nicht, noch kam über ihre Lippen ein Wort, das die bösartige Gerlinde verraten hätte. Still und unerschüttert saß sie voller Hoheit, wie eine duldende Heilige, vor dem grimmigen Helden, der gleich einem schäumenden Eber umherblickte, als suche er den, auf welchen er sich stürzen wollte.

Da winkte eins der Mädchen nach der Königin, und wie er der Verhaßten in die Schlangenaugen blickte, wußte er, daß er nicht irrte. Er ergriff sie bei den Haaren, schleppte sie hinaus auf den Söller, schlug ihr das Haupt ab und schleuderte Haupt und Rumpf über die Mauern. „Nun die andere!“, rief er, auf die erschrockene Ortrun zustürzend: „Auch sie wurde im Schlangennest ausgebrütet und soll der Unholdin nachfolgen.“ Er wollte das Mädchen ergreifen, aber Gudrun nahm die Freundin in die Arme, indem sie ihre Liebe rühmte. Das beruhigte den Alten, so daß er der Rache ein Ende setzte.
Hier zeigt sich nun das stille Wesen der wahren Liebe als All-Liebe, die es nur in der Ganzheit geben kann, nicht in der Parteilichkeit von Trennung und Haß. Doch auch in der Ganzheit wirkt das Schicksal, und so war die Jungfrau, die den Wink gab, vermutlich Hildburg, die nun mit Hilfe des wirkenden Geistes das Schicksal der Vergangenheit aufarbeiten läßt. Damit erkannte der Wate-Verstand die Schlange und schlug ihr das Haupt ab. Warum der Verstand? Nun, er lebt und wirkt in der äußerlichen Natur im Spiel der Gegensätze und hat damit auch die Macht, leidvolle Wirkungen zu töten. Wie die erwachende Herwig-Vernunft die männliche bzw. geistige Wurzel des Egos geköpft hatte, so köpfte nun der Wate-Verstand die weibliche bzw. natürliche Wurzel vor den Augen aller Krieger, das heißt, in der äußerlichen Welt durch sein Schwert der Trennung. Dafür ist der Verstand auch da und nützlich, soweit er sich der ganzheitlichen Vernunft unterordnet. Doch das fällt ihm oft schwer, sich selbst zu zügeln, und hier ist es die Macht der Liebe, die seinem Wüten im Rachewahn Einhalt gebietet, sonst hätte er wohl noch die ganzheitliche Seele der Natur getötet, die „Rune der Einheit“. Denn nur die Macht der wahren Liebe kann wahrlich siegen und das große Ziel erreichen. Mit diesem Sieg wurden dem Ego seine geistigen und auch natürlichen Wurzeln abgeschlagen, und so ist es nun bereit, sich der Vernunft und Ganzheit zu ergeben:
Inzwischen war der Streit außerhalb der Burg Cassian gleichfalls zu Ende. Todmüde von der langen Blutarbeit, hatte der Normannenheld das Schwert gesenkt und sich mit achtzig Kriegern, dem Überrest seiner tapferen Schar, seinen Feinden ergeben, die ihn umzingelt hatten. Am Abend saßen die Sieger mit den befreiten Jungfrauen von Hegelingen beim festlichen Mahl. Gudrun im königlichen Schmuck neben Herwig, dem Getreuen, die edle Hildburg an der Seite Ortwins, der noch die Binde um die Wunde geschlungen trug. Da wurde manch ernstes und manch scherzhaftes Wort gesprochen. „Nun ist die Arbeit und der Harm zu Ende.“, sprach Herwig zu der Jungfrau: „Wie das lautere Gold aus dem tiefen Schacht und dem schlechten Gestein durch Mühsal und Flammenpein gewonnen wird, so bist du uns endlich gewonnen durch dein langes Dulden und unsere Blutarbeit.“ - „Gold zu Gold“, sprach die Jungfrau, „Liebe zu Liebe, Treue zu Treue, so schlingt sich eine Kette, die nimmer zerbricht.“
Mit dem Begriff Blutarbeit sollte man natürlich genauso vorsichtig umgehen, wie mit dem Blutbad von Siegfried im Nibelungenlied. Hier geht es wohl nicht um das Schlachten und Wüten des begrifflichen Verstandes, sondern um das Blut als Wasser und Essenz des Lebens und damit um die Arbeit als „Lebenswerk“. Das Ego wird davon im Kampf mit dem Schwert der Trennung ermüdet, doch die Vernunft kann sich damit zum Gold der Wahrheit erheben und mit Geduld die unvergängliche Ganzheit erreichen, um in die wahre Heimat zurückzukehren.
Am dritten Tag ging das ganze Heer an Bord der Schiffe, nur einige Recken blieben zum Schutz von Cassian zurück. Hartmut, der gefangene König, und auch die gute Ortrun samt dreißig Mägden mußten den Siegern folgen. Am Wülpensand, wo die kleine Kirche zur Einkehr stand, beteten die frommen Helden. Die Glocken läuteten, der Chorgesang schallte im Gotteshaus, das Heer wallte um den mächtigen Hügel, der die Gebeine der hier in der Schlacht gefallenen Recken barg. „Ach, wäre ich bei euch gebettet!“, seufzte Ortrun, des erschlagenen Vaters und ihrer Verlassenheit gedenkend. Da nahte ihr Gudrun, nahm sie an der Hand und führte sie zu dem kühnen Helden Siegfried von Moorland, der die Liebe der edlen Jungfrau wünschte. Auf der weiten Fahrt ließ die Königin die teure Freundin nicht von ihrer Seite und wußte es einzurichten, daß sie den mächtigen Helden kennen- und schätzenlernte.
Einkehr ist ein interessantes Wort. Es erinnert uns an die Umkehr vom Weg der Trennung zur Einheit, vom Weg der Äußerlichkeit zur Innerlichkeit, vom Weg des engen Körperhauses ins weite Gotteshaus, vom Weg der Dunkelheit ins Licht, vom Weg der Vergänglichkeit zur Ewigkeit. Im Grunde ist es nur ein Wechsel der Sichtweise. So kann man ganz leicht der Dunkelheit entkommen und über seinen eigenen Schatten springen, den man vor sich sieht, indem man sich der Sonne zukehrt. Dazu erinnert uns das Kehren aber auch an einen Reinigungsprozeß, der damit verbunden ist, was wohl das Schwere und oft Schmerzliche an dieser Umkehr zur Einkehr ist, denn die Sichtweise der Trennung haben wir uns über lange Zeit angewöhnt und glauben nun, in der Ganzheit etwas zu verlieren. Ja, zu dieser Einkehr rufen uns die Glocken im Gotteshaus, und es kann auf dieser körperlichen Sandinsel im Meer der Ursachen wirklich geschehen. So stimmt es auch, daß die Materie unserer „körperlichen Insel“ zum Großteil aus „toten Lebewesen“ besteht, die der Mensch als Nahrung verzehrt hat und die sich, wie die oben erwähnten Recken, vielleicht nur dafür geopfert haben, damit wir in diesem Körper zur Einkehr erwachen und die Ganzheit verwirklichen. Dann können auch wir erkennen, daß noch niemals etwas aus der Ganzheit bzw. Gottheit herausgefallen ist oder jemals herausfallen kann. Und darin liegt die „Selbstsicherheit“ der Selbsterkenntnis.
So vereinen sich nun auch Ortrun und Siegfried wieder zur Ganzheit, die Rune der Einheit als reine Seele der Natur mit der ganzheitlichen Vernunft als reiner Geist des Sieg-Friedens. Ein wunderbares Paar, das sich in Wahrheit nie getrennt hat. Nur der begriffliche Verstand kann sich hier eine Trennung vorstellen und wird wohl nie verstehen, daß es für einen Siegfried keinen Unterschied zwischen Ortrun und Gudrun gibt.
Frau Hilde saß mit Hergard, der Schwester Herwigs, in der Burg Matelane am Fenster und gedachte der Tochter und der Helden, die auf der Heerfahrt begriffen waren. „Wird unsere Gudrun die Treue bewahrt haben? Werden unsere Kämpfer heimkehren oder wie ihre Väter auf dem Wülpensand statt des Sieges ein Grab finden?“ So sprach die harmvolle Königin. „Sieh dort, Mutter Hilde!“, rief Hergard: „Ein Schiff und ein zweites, und immer noch mehr! Sie kommen, sie bringen dir Gudrun. Schau, wie sie mit vollen Segeln dem Strand nahen! Geschwind, ihnen entgegen!“ Ehe die Frauen das Ufer erreichten, war allen voran der alte Wate schon gelandet. „Heil Euch, hohe Königin!“, rief der Alte: „Wir bringen, was Ihr gewünscht habt, und sandten keine Boten, denn ich selbst wollte der Bote sein.“ Der frische Wind blähte die Segel, daß auch alle anderen Schiffe schnell ans Land kamen. Da war des Küssens und des Fragens kein Ende, und Frau Hilde fiel selbst dem alten Sturmländer um den Hals und küßte ihn trotz seines stachligen Bartes. Er erwiderte den Kuß so kräftig, daß es durch den Saal schallte, und die Frau hatte Mühe, sich von ihm loszumachen.
So erfüllt nun auch Hilde als Schicksalsnorne der Zukunft ihre Aufgabe in der Menschenwelt, läßt sich vom Verstand die Botschaft ihres Sieges überbringen, daß sich die Wünsche der Zukunft im Jetzt erfüllt haben. Dann zeigt sich auch die Liebe zwischen der Seele der Natur als Schicksalsnorne und dem stürmischen Verstand als Macht des Geistes, trotz der stachligen bzw. gegensätzlichen Gedanken, die von ihm ausgehen, denn auch er hat seinen Platz und seine Aufgabe in dieser Welt.
Große Freude und Wonne hatte Frau Hilde mit den werten Gästen, die samt dem Heer reichlich bewirtet wurden. In der ganzen Burg war nur ein mächtiger Held voll bitteren Harmes, der hieß Hartmut, der kühne Normannenheld. Nicht schmachtete er in Banden, sondern in ritterlicher Haft, nur gefesselt durch sein Königswort, ging er frei umher. Doch nagte der Unmut an seinem Herzen, der Unmut, weil er Vater, Mutter und Braut, Reich und Freiheit an einem Tag verloren hatte. Darum mied er die Begegnung mit denen, die alles Unglück über sein Haupt gebracht hatten. Er saß am liebsten in einer dunklen Felsengrotte, wo ein sprudelnder Quell aus der Tiefe hervorrieselte. Da sah er einst zwei Frauen in eifrigem Gespräch durch die Laubgänge des Gartens wandeln. Die eine war Frau Hilde, die andere eine schöne Jungfrau, noch jung an Jahren, doch reif an klugem Rat. Sie sprachen von dem gefangenen König, der im bitteren Gram sein Leben hinbringe. „Ja“, sprach Frau Hilde, „gern gewährte ich ihm Reich und Freiheit, aber ich sorge, der kühne Held richtet von neuem die Fahne des Krieges auf und bringt uns des Harmes mehr als zuvor. Du weißt nicht, gute Hergard, was ein Mann und auch ein Weib zu tun vermag, wenn der Geist der Rache ihrer Meister wird.“ - „Wie?“, sprach die Jungfrau, „Erkennst du nicht, daß er ein edelmütiger Held ist, fest und treu in Worten und Taten? Könnte er nicht entweichen, wenn ihn nicht sein königliches Wort bände? Gib ihm die Freiheit, in seine Heimat, in sein väterliches Erbe zurückzukehren!“ So bat und flehte die Jungfrau, und der gefangene König sah und hörte sie, und sie schien ihm noch schöner als Gudrun selbst, deren Liebe ihm sonst als das höchste Gut der Erde erschienen war. Frau Hilde dagegen schüttelte das Haupt und meinte, mit Freiheit und Macht wachse auch das Begehren nach Rache. Sie verließ die Jungfrau, die sinnend zurückblieb. Hergard blickte einer aufsteigenden Lerche nach, die, wie sie wähnte, ein Lied von der süßen Freiheit sang, und bemerkte darum nicht, wie Hartmut hervortrat, bis er nahe bei ihr stand. Sie wollte entfliehen, aber er beruhigte sie. Er hatte auch nicht mehr das finstere, feindselige Wesen, sondern sprach so freundlich, daß sie Vertrauen faßte. In traulichem Gespräch lernten sich die beiden edlen Menschen kennen und schätzen, und da sie sich noch manchen Tag in der Felsengrotte zusammenfanden, wurde der Bund der Liebe geschlossen.
Hier geht es nun noch einmal um das Ego-Wesen von Hartmut, das natürlich auch seinen Platz und seine Aufgabe in dieser Welt hat und nicht getötet werden sollte. Doch es sollte sich der ganzheitlichen Vernunft unterordnen, und das macht nun Hartmut, indem er sich durch sein „königliches Wort“ selbst zügelt. So findet er auch die Liebe, die ihn bindet und irgendwann im Laufe der Zeit zur Vernunft erheben und befreien kann. Diese Liebe ist hier die Schwester der erwachenden Herwig-Vernunft und wird Hergard genannt, „die das Heer schützt“, das uns an die Gedankenarmee des Verstandes erinnert, der natürlich immer eng mit dem Ego-Bewußtsein verbunden ist. In diesem Sinne können wir Hergard als die Seele der wachsenden Vernunft betrachten, die nun als Prinzip der Verursachung das Ego auf dem Weg zur Vernunft führt und beschützt. So nähern wir uns mit dieser „Verlobung“ dem großen Happy-End, der großen Hochzeit im Sieg der Liebe und des Friedens:
Frau Hilde überraschte sie eines Tages, aber der Held trat kühn vor die Königin und sprach, die Liebe habe den Haß bezwungen. Hergard sei das Pfand, das den Bund zwischen Normannen und Hegelingen unauflöslich mache. Gern gab die hohe Frau ihre Zustimmung und führte den freien, mit dem Schwert umgürteten Helden zu den Recken von Hegelingen. Nach einigen Wochen wurde ein großes Hochzeitsfest gefeiert. Da traten vier Paare an den Altar und empfingen den kirchlichen Segen, nämlich Herwig und Gudrun, Ortwin und Hildburg, Siegfried und Ortrun, sowie Hartmut und Hergard. Danach saßen sie beim frohen Hochzeitsmahl alle gemeinsam zusammen, denn die vergangenen Leiden und Kämpfe waren vergessen und verziehen.
So finden sich nun die Hochzeitspaare unter dem göttlichen Segen zum großen Happy-End der mystischen Hochzeit, um das vererbte Problem der Trennung in der Menschenwelt zu besiegen und alle in einer großen Familie zu vereinen, in einer Menschheit, einer Ganzheit und Gottheit. Diesbezüglich könnte man auch über den Sinn der „heiligen Ehe“ nachdenken, der wohl nicht nur darin besteht, einige Zeit Mann und Frau zu verbinden und durch ihre Kinder den Fluß des Lebens zu erhalten, sondern durch Vereinigung der Gegensätze und Überwindung des trennenden Ego-Bewußtseins das ewige Leben im ganzheitlichen Bewußtsein wiederzufinden. So läßt sich das Wort „Ehe“ auch von „ewig“ ableiten, von dem was war, ehe im Kampf der Trennung etwas Vergängliches wurde. In dieser Hinsicht wandelt sich dann auch „HeerWig“ mit der „Gott-Rune“ vereint zum „EhWig“. Wunderbar! Damit entsteht in dieser Geschichte folgende „Großfamilie“, in der schließlich alle miteinander verwandt sind, auch im wörtlichen Sinne von „einander zugewandt“:

Auch in der überlieferten Kudrun-Sage heiraten Herwig und Gudrun, doch die anderen drei Paare sind: Ortwin und Ortrun, Siegfried und Hergard, die dort als Schwester von Herwig namenlos bleibt, sowie Hartmut und Hildburg. Auch über diese Symbolik kann man viel nachdenken, und wir haben auch einige Zeit hin- und herüberlegt, ob wir hier der Nacherzählung von Wilhelm Wägner oder der überlieferten Kudrun-Sage folgen sollten. Die Entscheidung fiel schließlich für Wägner, denn vor allem aus geistiger Sicht erscheint uns diese Version als die genialere Lösung, wie er auch sonst den Kern der alten Sagen genial herausarbeiten konnte, der wohl über die lange Zeit mehrfach übertüncht wurde. Wichtig ist, daß es eine lebendige Sage bleibt, und in diesem Sinne ist es gut, daß sie sich auch verändert und entwickelt, denn: Ohne Leben keine Wahrheit. Entscheidend ist der Kern, daß die Gegensätze überwunden werden, die ganzheitliche Vernunft mit Frieden und Liebe siegt, und damit das vererbte Ego-Problem der Trennung ein Happy-End findet, das in dieser Geschichte mit dem Raub des jungen Hagen durch den „Greif“ begann. Und mit diesem großen Sieg hat auch Horand als Sänger der schicksalhaften Geschichte seine große Aufgabe erfüllt:
Horand aber, der greise Sänger, ergriff die Harfe mit den goldenen Saiten und sang sein letztes Lied.
Nun sang der Töne Meister von Liebe, Lust und Leid,
Vom Blumentod im Hagen und seliger Maienzeit;
Wie sang er hell und trübe! Das war ein Sonnenaug'
Ein Gottesaug', das weinte, und Menschen weinten auch.
Da hub er an zu singen die Weise (der Meerfrauen) von Amile,
Da wurde Frau Hilde, der Königin, in süßem Gedenken weh.
Sie war in ihrer Jugend, sie war bei dem, der tot;
Sie konnte sich nicht wehren, sie weinte in süßer Not.
Wie sang er nun gewaltig von Reckenkampf und Zorn,
Von Waleis, vom Wülpensand, vom Lager bei dem Born;
Da hoben die alten Recken empor den stolzen Mut;
Wie blitzten Wates Augen, wie Frutes von Kampfesglut!
Nun fing er an zu klagen vom Ehrentod im Streit,
Vom heiligen Gedenken fern über Grab und Zeit;
Da sprangen auf die Jungen, im Auge lodernd Feuer,
Hoben die Hände und schwuren: „Wir denken ewig euer!“
Doch weh', nun sang er leise von schöner Zeiten Flucht,
Vom Winterschnee im Haar und letzter stiller Bucht.
Da rannen die hellen Tränen aus Augen noch so hart,
Den Frauen über die Wangen, den Männern in den Bart.
Und waren sie denn traurig, so voll von schwerer Pein?
O nein, sie waren so selig, wie's mag im Himmel sein.
War doch Herr Wate selber ein stille weinend Kind;
Ich wähn', in solcher Stunde vergäb' er selbst Frau Gerlind.
So kamen die Königspaare, so stieg Frau Hilde vom Thron,
Sie nahmen von ihren Häuptern die goldne Königskron';
Sie legten sie ihm zu Füßen und sprachen zum Sängergreis:
„Du bist der König der Könige, du, aller Sänger Preis!“
Da nahm der alte Sänger die Harfe ein wenig zurück,
Sah auf die goldnen Kronen lächelnd mit stillem Blick.
„Tragt sie, bis eure Stirn die weiße Locke umzieht;
Die Kronen sind vergänglich, doch ewig ist das Lied.“
- Ende der Hageling- und Gudrunsage -
• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
• Dietrichsage: Die Heerfahrten für Etzel und Ermenrich
• Dietrichsage: Der Fall von Kaiser Ermenrich
• Dietrichsage: Über die Herrschaft von König Etzel
• Dietrichsage: Die Raben- oder Ravenschlacht
• Dietrichsage: Rückkehr zu Etzel und Nibelungenschlacht
• Dietrichsage: Dietrichs Sieg und Kaiserkrönung
• Hagelingsage: Die Geschichte von Hagen
• Hagelingsage: König Hettel und seine Helden
• Gudrunsage: Gudrun und die Brautwerbung
• Gudrunsage: Gudrun und Gerlinde
• Gudrunsage: Gudruns Befreiung und große Hochzeit
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Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen |