Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Gudrunsage: Gudrun und die Brautwerbung

Sagentext nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2025]

Friedlich lebten König Hettel und Schön-Hilde auf Matelane, und die Männer von Hegelingen, Ortland und Dithmarschen dienten willig dem gerechten Herrscher, der sie mit seinen Helden vor feindlicher Schädigung wohl bewahrte. Zwei Kinder entsprossen dem Ehebund, der Knabe Ortwin und das Mägdlein Gudrun, beide von Leib wohlgetan und kräftig, aufblühend wie Nordlands Rosen im lieblichen Lenz. Als der Knabe heranwuchs, nahm ihn Wate, der alte Held von Sturmland zu sich, daß er wie sein Vater bei dem alten Meister die ritterliche Kampfkunst erlerne, die kein anderer Held in gleicher Weise verstand. Die Tochter blieb bei den Eltern. Sie wurde in allen weiblichen Gepflogenheiten wohl unterrichtet, von Hildburg gepflegt, doch vornehmlich lernte sie die Liebe und Treue, welche die Mutter dem Gatten erwies. So erwuchs sie zur Jungfrau und wurde bald in allen Landen nicht nur wegen ihrer Schönheit gepriesen, die sogar ihre Mutter überragte, sondern auch wegen ihrer Sanftmut und Klugheit.

In König Hettel können wir nun die innerlich erwachende Vernunft sehen, die sich mit der Seele der Natur in Liebe vereint hat, um mit dieser Kraft und Macht die Trennung zu überwinden und die göttliche Ganzheit wiederzufinden. Aus dieser Ehe kamen zwei Kinder bezüglich Geist und Natur: Der Name Gudrun läßt sich von germanisch „Gud“ für Gott und „run“ für Rune bzw. Geheimnis ableiten und wäre damit das „ganzheitliche Geheimnis“ als „Gott-Rune“. Damit setzt sich nun der Kampf von Hilde als Seele der Natur um die Überwindung der Trennung und das Erreichen von Ganzheit und Frieden fort, gepflegt von Hildburg als Norne der Vergangenheit, um das angesammelte und über Generationen vererbte Problem zu lösen. Hildburg ist immer noch Jungfrau, denn sie hat den Geist noch nicht gefunden, um sich auszuwirken. Der Königssohn heißt Ortwin. Sein Name läßt sich von altdeutsch „ort“ für Schwertspitze und „wini“ für Freund oder Gewinn ableiten, und deutet mit dem Symbol der Schwertspitze ebenfalls auf das Wesen der Einheit hin, auch wenn er zunächst vom alten begrifflichen Verstand zum Kampf im Reich der gegensätzlichen Gedanken erzogen und ausgebildet wird.

Gudrun war noch jung an Jahren, da kamen schon edle Fürsten, um ihre Hand zu werben. Unter ihnen war auch der mächtige König Siegfried von Moorland (aus Norwegen), stark und groß von Leib, doch bräunlich von Angesicht, weshalb man ihn auch Mohrenkönig (aus Afrika) nannte. Ihm waren sieben Könige untertan, daher brachte er kühn seine Werbung vor. In den ritterlichen Turnieren stand er mit seinen Recken stets an der Spitze, und bot auch dem König seine Dienste an. Gudrun war ihm nicht ungewogen, trotz seiner dunklen Hautfarbe. So hoffte er auf ihre Liebe, aber die Eltern wollten ihm die Schöne nicht zur Frau geben. Aus Stolz auf die Schönheit seiner Tochter versagte ihm König Hettel die liebliche Jungfrau. Das verdroß ihn sehr, so daß er auch zum freundlichen Dienst nicht mehr bereit war, und sich vom Land der Hegelingen abwandte, was ihnen noch viele Jahre großen Schaden bringen sollte.

Diesen Absatz über Siegfried haben wir nach dem Text von Karl Simrock etwas umgeschrieben. Wilhelm Wägner sieht den Grund der Ablehnung darin: „Der Held sei gar zu hoffärtigen Sinnes und unkundig, edler Frauen in Ehren zu pflegen.“ Der überlieferte Text erinnert mehr an die dunkle Hautfarbe als Grund der Ablehnung, die damals wohl kein Schönheitsideal war. Darüber hinaus folgen wir auch der Inspiration des Sprachwissenschaftlers Dr. Wolfgang Jungandreas, der 1927 schrieb: „Da die Normannen in Karadie reiches Lehen haben und Siegfried selbst auf einen historischen Normannenführer zurückgeht, wird Môrlant weiter nichts als „Normannenland“ (Maurus-Sarazene-Normanne) bedeutet haben. Eine flämische Umdeutung zu „Moor “ (vgl. den Ortsnamen Moerland ö. Dünkirchen) wäre als Zwischenstufe selbstverständlich nicht ausgeschlossen.“ In diesem Sinne können wir hier aus geistiger Sicht Siegfried in der Rolle der ganzheitlichen Vernunft ähnlich wie im Nibelungenlied wiederfinden, der nun sogar ein Sohn der mittleren Norne bzw. Meerjungfrau aus Isenland sein könnte, die nach Norwegen verheiratet wurde. Denn die ganzheitliche Vernunft als reines Licht des Bewußtseins ist natürlich ein Wesen der Gegenwart, das König Hettel als wachsende Vernunft zwar in sich selbst, aber noch nicht in anderen erkennen konnte, vor allem nicht in einem Menschen, der äußerliche dunkel erschien. So heißt es dann auch, daß dieses Nichterkennen und Verweigern des „Sieg-Friedens“ viel Schaden und großes Leiden brachten. Das Moorland erinnert an die wassereiche Landschaft Norwegens mit ihren Fjorden und Hochmooren, das mystische Reich der Nibelungen bzw. Nebelgeister, über das Siegfried auch in der Nibelungensage König wurde. Die sieben Könige, über die Siegfried herrschte, erinnern an sieben Prinzipien, die der Vernunft untertänig sind, wie die fünf Sinne, Verstand und Ego. Nun können wir raten, wer als nächstes zur Brautwerbung kommt:

Zu jener Zeit herrschte in der Normandie und den Nachbarlanden König Ludwig, der mit starker Hand sein Reich von Zins frei gemacht und erweitert hatte. Gleich ihm war sein Sohn Hartmut ein kühner Kriegsheld, des Vaters Helfer in Kriegsnot. Als derselbe von Gudrun hörte, beschloß er, um sie zu werben. Der König meinte, das sei ein übler Rat, weil Hagen, der Großvater des Mägdleins als sein ehemaliger Lehnsherr ihm gram sei, und weil Hilde, des Mägdleins Mutter, sicherlich den Übermut ihres Vaters geerbt habe. Dagegen sprach seine Frau Gerlinde, die Königin: „Unser Sohn Hartmut ist wohl der schönsten Jungfrau wert. Darum soll man Boten senden, welche die Werbung ehrenvoll ausrichten. Mich dünkt, man wird nicht wagen, ihm die Jungfrau zu verweigern.“ Dieser Rat gefiel dem jungen Helden. Zwölf Lastpferde wurden mit Silber beladen, und die Boten fuhren mit den reichen Gaben nach Hegelingen. Dort wurden sie zunächst gut aufgenommen, und als Königin Hilde die Geschenke empfing, dankte sie zwar, fügte aber hinzu, sie wähne, der Normannenkönig wolle damit die alte Schuld abtragen, denn er habe einst Burgen und Land von ihrem Vater Hagen zu Lehen erhalten. So wurden die Recken als Gäste wohl bewirtet, doch als König und Königin ihren Antrag vernahmen, zeigten sie ihren Unmut und sprachen, dem Sohn eines Dienstmannes werde nimmer ihre Tochter zu teil. Hartmut solle sich unter den Dienstmannen von Hegelingen einen Schwiegervater suchen, die seien reich begütert und von so edler Abkunft wie der König der Normandie. Darauf nahmen die Recken Abschied und kehrten mit der üblen Nachricht zu ihrem Herrn zurück.

Der Name Ludwig läßt sich von altdeutsch „hlut“ für laut, läuten und berühmt, sowie von „wig“ für Ringen, Kampf und Krieg ableiten, und erinnert damit an einen „berühmten Krieger“ oder den „Kampf um Ruhm“. Man könnte aber auch an das mittelhochdeutsche „lûden“ im Sinne von Rauben denken, was dann der „räuberische Krieger“ wäre. Der Name seiner Ehefrau Gerlinde bedeutet „Speer der Linde“ und erinnert an den Stachel oder Dorn des Lebensbaumes als äußerliche Natur. Ihr Sohn heißt Hartmut, der an einen harten Mut oder einen festen, verhärteten Geist erinnert. Die Drei werden noch eine zentrale Rolle spielen, die allerdings nicht einfach zu fassen ist. Entsprechend der weiteren Geschichte liegt es nahe, in Hartmut die Rolle des verkörperten Ego-Bewußtseins zu sehen, das mit allen Mitteln seinen Willen durchsetzen will. Seine Eltern wären dann die Quelle des Egos als räuberisch kämpfender Eigenwille und treibender Stachel der Natur bzw. Schlange des Lebensbaumes. Dazu paßt auch, daß der König unabhängig und eigenständig herrschen und keinen Zins an Hagen zahlen will. Was allerdings nur Sinn machen würde, wenn man in Hagen keinen Ego-König mehr, sondern ähnlich wie in Hettel zumindest eine erwachende Vernunft sehen kann, der sich das Ego natürlich unterordnen sollte.

Die Normandie ist eine historische Provinz im Norden von Frankreich, die ihren Namen von den Normannen bekam, die auch aus Norwegen dort eingewandert waren. Hier könnte man aus geistiger Sicht eine Verbindung zur Siegfried-Vernunft aus Norwegen sehen, denn auch das abgetrennte Ego-Bewußtsein kommt ursprünglich aus dem ganzheitlichen Bewußtsein der Vernunft, aber ist „ausgewandert“ in eine äußerliche Welt der Trennung. Dort hat Ludwig die äußerliche Körperlichkeit „der Burgen und des Landes“ aus „Irrland“ zum Lehen empfangen, die das Ego-Bewußtsein gern sein Eigen nennt, um sich damit zu identifizieren. Typisch ist auch das Spiel der Gegensätze, in welchem das Ego aufwächst: Der Vater rät dies, die Mutter das, und das Ego wählt, was ihm gefällt, und macht, was es will. Das Silber auf den zwölf Lastpferden, mit dem sie die Gunst der Eltern von Gudrun und vielleicht sogar die Liebe der Jungfrau erkaufen wollten, erinnert im Gegensatz zum Gold der Wahrheit an den vermeintlichen Reichtum des begrifflichen Verstandes, auf den sich der Ego-König stützt.

Herr Ludwig war nicht sehr verwundert über die Ablehnung, wohl aber Frau Gerlinde, deren Ahnen reiche Könige gewesen waren. Sie riet dem kühnen Hartmut, die Schmach mit den Waffen zu rächen. Indessen sann der junge Königssohn auf anderen Rat, zumal er von den Boten erfahren hatte, daß die Jungfrau wirklich so vollkommen schön war, wie man sagte. Er beschloß, unter anderem Namen und Gewand mit kleinem Gefolge die Bewerbung selbst zu unternehmen. Denn er war ein ansehnlicher Held, ritterlicher Gepflogenheiten kundig, von stattlichem Wuchs und männlich schönem Angesicht. Wenn er durch die Säulenhallen der Königsburg im fürstlichen Gewand schritt oder in blanker Rüstung zu Turnieren und Heerfahrten auszog, dann wandten sich ihm die Herzen edler Frauen zu, und alle begrüßten freudig den siegreichen Helden bei der Heimkehr. Deshalb vertraute er fest, er werde die Liebe der königlichen Jungfrau zu Matelane im Land der Hegelingen gewinnen, und durch die Tochter auch die ahnenstolzen Eltern. Die Schiffe wurden gerüstet, ein günstiger Wind blähte die Segel, aber bald schlug er um, und die Bootsleute, wie kräftig sie auch mit den Rudern die Salzflut schlugen, konnten die Fahrt nur langsam fördern. So geschah es, daß ein anderer Bewerber, der kühne Herwig, König von Seeland, früher in Matelane angelangte. Auch er war ein ansehnlicher Held, durch manchen Sieg berühmt, tüchtig und treu den Verwandten und Freunden. Blonde Locken umwallten sein Angesicht, und aus seinen blauen Augen strahlte das Feuer seines Geistes. Wohl bemerkte die Jungfrau seine Blicke, wenn sie liebend auf ihr ruhten, ihre Augen erhoben sich schüchtern zu dem kühnen Mann, und sie sagten nicht nein. So verstanden sich beide, ehe noch das Wort Liebe ausgesprochen war. Als darauf Hartmut mit seinen Schiffen im reichsten Schmuck landete und als stolzer Fürst gastliche Aufnahme fand, erkannte derselbe bald das stille Liebesspiel zwischen Herwig und der Jungfrau, ließ sich aber dadurch von der Bewerbung nicht abschrecken.

Ein günstiges Geschick ließ Hartmut einst die schöne Gudrun im Garten allein finden. Er entdeckte ihr frei und offen seine Liebe und sagte auch, wer er sei. Sie erschrak, doch faßte sie sich bald und verhehlte nicht, daß ihr Herz bereits gewählt habe. Sie sprach weiter, daß ihr Vater und ihre Mutter in diese Verbindung niemals einwilligen würden, weil sie den König Ludwig als einen Dienstmann betrachteten, und daß auch sein Leben bedroht sei, wenn ihnen sein Name und seine Abkunft kundwerde. Das Wort Dienstmann erregte den Zorn des jungen Helden, so daß ein glühendes Rot seine Wangen färbte. Indessen ließ er es der Jungfrau nicht weiter merken, sondern nahm mit geziemender Rede Abschied und steuerte, nachdem er noch den König und die Königin begrüßt hatte, zurück nach der Heimat.

Herwig verweilte länger auf der Königsburg. Er hoffte immer, einen glücklichen Augenblick zu finden, da er mit der geliebten Jungfrau von dem reden könne, was ihm das geheime Liebesspiel schon verraten hatte. War es nun Zufall oder Veranstaltung der klugen Königin, er fand die gelegene Stunde nicht. Da trat er offen vor König Hettel und brachte seine Werbung vor. Der Herrscher der Hegelingen nahm die Nachricht kühl auf, denn er meinte, der König des kleinen Reiches Seeland sei kein würdiger Schwiegersohn für das Oberhaupt eines so mächtigen Reiches. Er sagte, die Jungfrau sei noch zu jung und könne sich noch nicht mit der Wahl eines Bräutigams befassen. Mit diesem Bescheid mußte sich der kühne Held begnügen und gleich seinen Vorgängern die Segel setzen und dem Land seiner Väter zusteuern.

So erscheint schließlich noch ein dritter Bewerber: Der Name Herwig läßt sich von altdeutsch „heri“ für Heer und „wig“ für Kampf ableiten und erinnert uns an den begrifflichen Verstand, der mit dem Heer der Gedanken kämpft. Er ist König von Seeland, das uns an den Körper erinnert, der sich mit dem begrifflichen Verstand aus dem Meer der Ursachen erhoben und verkörpert hat. Damit wird Gudrun als Gott-Rune und Seele der Natur von drei geistigen Prinzipien beworben, nämlich von Vernunft, Ego und Verstand. König Hettel lehnt zunächst alle drei ab, denn offenbar kann er sich als erwachende Vernunft in ihnen noch nicht selbst erkennen und lebt damit weiterhin in einer Welt der Trennung. Gudrun ist im Grunde allen geneigt, doch muß sich in dieser Welt der Trennung für einen entscheiden, was die äußerliche Geschichte so kompliziert macht. Interessanterweise hat ihr Herz den Herwig-Verstand erwählt, und das macht in dieser Welt auch Sinn, denn für ein körperliches Leben in der Natur ist der gedankliche Verstand nötig und im Grunde auch dafür da, sich wieder zur ganzheitlichen Vernunft zu erheben. Und darum kämpft er nun mit seiner Gedankenarmee um die „Gott-Rune“:

Doch Herwig fand in seiner einsamen Burg keine Ruhe. Er sammelte bald seine Mannen zur Heerfahrt nach Hegelingen. Er konnte nur dreitausend gewappnete Leute aufbieten, aber es waren unverzagte Recken, die mit ihrem werten König schon in mancher Schlacht gefochten hatten. Sie folgten willig seinem Ruf, bestiegen die Schiffe und landeten unversehens am Strand von Matelane. Hettel war nicht gerüstet, seine Helden fern, dennoch zog er mit der bereiten Mannschaft aus der Burg. Schon schwirrten und krachten die Speere, schon klangen die Schwerter, schon drang der kühne Herwig unwiderstehlich vorwärts und bedrohte das Haupt des Königs. Da schlichtete Hilde, ihrer Vergangenheit gedenkend, den Streit. Sie zog mit der mutigen Gudrun und vielen Frauen aus dem Burgtor, sprach das Wort Frieden und stiftete Versöhnung. Hettel, erkannte den kühnen Sinn und die tapfere Faust des Königs von Seeland und willigte in die Verlobung der schönen Tochter mit dem versöhnten Gegner ein. Der junge Held dachte, er könne nun die Jungfrau gleich mit sich führen, doch Mutter Hilde verwehrte es und sprach, daß die Vermählung erst nach Jahresfrist gefeiert werden solle, denn dafür sein noch einiges vorzubereiten. Bis dahin möge er sich in sein Reich nach Seeland zurückziehen und sich die Zeit mit schönen Frauen vertreiben. Was dann auch geschah.

So kämpft er nun um seine Liebe und wird von den Frauen als Seele der Natur in diesem Kampf unterstützt, die für Schlichtung und Frieden sorgen. So kommt es zur Verlobung, das heißt, man gelobte sich die Treue als Vorbereitung zur großen Hochzeit. Der Verstand sieht sich bereits am Ziel, doch die Mutter weiß, daß dafür noch einiges vorzubereiten ist, damit sich der Verstand mit der Gott-Rune als göttliches Geheimnis zur Ganzheit vereinen kann. So wird er in sein Land zurückgeschickt und soll sich dort auch anderen Frauen zuwenden, worin sich die Weitsicht und Offenheit der Mutter zeigt, daß es in dieser Hochzeit nicht um Bindung und Trennung geht, sondern um Freiheit und Einheit, was über unseren gewöhnlichen Verstand mit seinen Vorstellungen von „meine Frau“ oder „mein Mann“ weit hinausgeht.

Mittlerweile hatte auch Siegfried in Moorland von der Verlobung zwischen Gudrun und Herwig erfahren. Er rüstete sich über die Winterzeit, um seinen Unmut darüber zu zeigen, und kündigte Herwig in Seeland die Fede im kommenden Frühling an, so daß er sich zum Kampf bereitmachen solle. Der König vernahm es mit Schrecken, denn er war sich keiner Schuld bewußt, doch sammelte sein Heer. Bald darauf fuhr Siegfried mit zwanzig Schiffen gegen Seeland und eroberte mit der Kraft des Feuers Burg für Burg. Herwig wehrte sich tapfer, der Kampf dauerte lange, doch Siegfried drang immer weiter ins Land, bis sich Herwig schließlich auf seine Burg hinter dicken Mauern retten mußte. Ringsherum brannte das Land, Herwig war verzweifelt und sandte in seiner Not Boten an Gudrun und König Hettel, um Hilfe zu bekommen. Die Boten fanden mit großer Mühe einen Weg nach Hegelingen und traten mit ihrer Bitte vor König Hettel, der sie allerdings an Gudrun verwies, die über die Hilfe entscheiden sollte. Gudrun empfing sie mit Tränen in den Augen, denn sie hatte bereits von dem schrecklichen Kampf zwischen Siegfried und Herwig gehört und wußte, daß es hier vor allem um sie selbst ging. So fragte sie die Boten zuerst, ob ihr Verlobter noch lebe, und sie berichteten, daß er sich auf seine Burg zurückgezogen hatte und nun auf ihre Hilfe und Treue hoffte. Daraufhin erhob sich Gudrun und bat mit weinenden Augen ihren Vater, dem Verlobten zu helfen. König Hettel versprach schnelle Hilfe und zog nach wenigen Tagen mit Ortwin, seinem jungen Sohn, sowie dem alten Wate, Frute und Horand an der Spitze einer großen Armee nach Seeland.

Was könnte dieser Angriff der Siegfried-Vernunft auf den Herwig-Verstand bedeuten? Nun, wenn der Verstand die Gudrun-Seele mit seiner Gedankenarmee erobert hat und heiraten will, fordert er natürlich die Vernunft heraus, und muß sich auch ihr zum Kampf stellen und seine Fähigkeit beweisen. Oder er muß als Herrscher untergehen und seine Schwäche und Unwürdigkeit der Welt offenbaren, was zunächst auch so aussieht. Doch dann erinnert sich der Verstand an die gelobte Treue der Seele und bittet um Hilfe, womit der Weg aus dem begrenzten Verstand zur ganzheitlichen Vernunft beginnt. Und auch Gudrun muß sich entscheiden und bereit sein, sogar ihren Vater im Kampf zu opfern, um dem Verstand auf diesem Weg zu helfen.

Es wurde auch höchste Zeit, denn Herwig konnte sich in seiner Burg kaum noch halten. Da erblickte er auf dem Meer die ersehnte Hilfe. Am Horizont tauchten weiße Segel auf, und die Flaggen der Hegelingen entfalteten sich. Doch der kampferfahrene Siegfried ordnete seine Armee unter dem Schall der Pauken und Trompeten. Ein Teil bestieg die Schiffe, die Hauptmacht hielt die Küste besetzt, um den Hegelingen die Landung zu verwehren. Die Schlacht entbrannte zu Wasser und zu Lande. Nach Frutes Weisung wurden Brände und Feuergeschosse auf die feindlichen Schiffe geschleudert, und alsbald leckten Flammen empor. Da wurde der Himmel rot von der aufsteigenden Glut, die Erde und das Meer vom strömenden Blut der Streiter. Die Schlacht währte ohne Entscheidung fort, doch gewann der alte Wate festen Fuß am Strand, dann auch die anderen Helden. Der junge Ortwin und König Hettel selbst waren mitten im wilden Getümmel. Horand, mit Speer und Schwert arbeitend, sang ein Sturmlied, das die Kämpfer mit höherem Mut erfüllte, und es war fast, als sei es in weite Ferne gedrungen und der kühne Herwig habe es vernommen, denn er brach mit seinen Getreuen unerwartet aus der Burg aus und entschied die Schlacht. Jedoch wandte sich König Siegfried nicht zur Flucht, vielmehr kämpfte er überall, wo die Not drängte, voran und lenkte den Rückzug nach einer festen Burg, die er früher erobert hatte und wo er jetzt Zuflucht suchte.

Der Abend war angebrochen, auf der Walstatt und ringsum die Festung lagerte das siegreiche Heer. Die Moorländer waren in schwerer Bedrängnis, ihre Schiffe verbrannt, ihre Vorräte und viele Gefangene in den Händen der Sieger. Ihre Reihen waren gelichtet, so daß sie nicht weiter auf offenem Feld zur Schlacht ausrücken konnten. Da die Belagerer die Festung rings umschlossen hielten, so entstand bald Mangel unter den Moorländern, doch dachte der kühne Siegfried nicht an Unterwerfung, er wollte lieber mit dem ganzen Heer sterben, als Schmach erdulden. So hoffte er auf irgendeine glückliche Wendung, und nicht vergebens.

So kommt nun die erwachende Hettel-Vernunft mit der Ortwin-Einheit, dem Wate-Verstand, der Frute-Weisheit und dem Horand-Schicksal dem bedrängten Herwig-Verstand auf seiner Insel zu Hilfe. Gemeinsam können sie die Siegfried-Vernunft zurückdrängen, aber nicht besiegen. Diese Symbolik ist aus geistiger Sicht sehr tiefgründig. Was passiert, wenn Vernunft mit dem Verstand gegen Vernunft kämpft? Das ist ein Streit in sich selbst und wieder ein Spiel der Trennung. Da kommt natürlich das Ego und raubt die Gott-Rune der Ganzheit:

Während König Hettel mit seinen Helden und der Reichsmacht in Seeland kämpfte, war ein anderer Feind in sein Land eingefallen, nämlich Hartmut mit einem zahlreichen Heer streitbarer Normannen. Als er zu Hause von dem üblen Ausgang seiner Bewerbung erzählt hatte, war Frau Gerlinde noch mehr erbittert als er selbst und schürte eifrig die Glut des Zornes über die schnöde Abfertigung. Das Wort Dienstmann ertrug auch König Ludwig nicht mit Geduld. Er wolle, sagte er, dem übermütigen Hettel und seiner stolzen Frau wohl beweisen, was der ehemalige Lehnsmann des wilden Hagen für schlimme Dienste leisten könne. Und als sie erfuhren, daß König Hettel mit seiner Armee in Seeland gegen Siegfried kämpfte, wurden sofort umfassende Rüstungen veranstaltet, und die streitbaren Normannen sammelten sich freudig unter das erhobene Banner ihres Königs.

Sobald die Schiffe und Vorräte bereitet waren, ging das Heer an Bord. Die Anker wurden gelichtet, und die Flotte segelte nach Hegelingen. Als die Wächter auf den Zinnen von Matelane die Fahrzeuge und auf den Verdecken die Fahnen, Helme und Schilde der Gewappneten erblickten, stießen sie in die Alarmhörner, worauf die bewaffnete Mannschaft die Mauern besetzte. Aber sie war wenig zahlreich, denn der König hatte seine Recken und Mannen nach Seeland geführt. Man hoffte aber trotzdem, die feste Burg bis zur Rückkehr des Königs zu verteidigen. Die Königin und Gudrun gingen zu den Waffenleuten, reichten ihnen stärkenden Trank und verhießen reiche Gaben. Bald begann der Sturm auf die Festung von zwei Seiten. Hartmut suchte mit Leitern die Mauern zu ersteigen, Ludwig das Haupttor mit Sturmbock und Äxten zu brechen. Wohl mancher Recke und Knecht fiel unter den Geschossen der tapferen Besatzung, aber die kühnen Normannen setzten den ganzen Tag ihren Angriff fort und drangen endlich hinauf und hinein in die erstürmte Festung. König Ludwig wollte das ganze Haus verbrennen und hatte schon das Schwert auf Frau Hilde gezückt, um ihr den Zins des Dienstmannes mit Wucher zu zahlen, da erschien Hartmut, dem Vater wehrend, den Frauen zum Schutz. Nur Gudrun mit ihren Jungfrauen, darunter die treue Hildburg aus Portugal, mußten auf die Schiffe folgen. Die Königin, ihr Gefolge, die gefangenen Burgmänner und das Königshaus selbst blieben von dem edelmütigen Sieger unangetastet. Allerdings wurde der Staatsschatz mitgenommen, um die Macht des Königs zu schwächen, und am folgenden Tag feierte man den Sieg am Strand und belohnte die Krieger. Erst am dritten Tag trat man die Fahrt an, denn der Wind stand ungünstig und die Knechte mußten rüstig in die Ruder greifen.

So raubt nun Hartmut als Ego die Gudrun als Gott-Rune der Ganzheit zusammen mit Hildburg als Norne der Vergangenheit, denn alles, was hier geschieht hat natürlich seine Wurzeln in vergangenen Taten. In diesem Raub kann man auch den Greif als Symbol des egoistischen Ergreifens wiederfinden, und wie Gerlinde als Stachel der Natur dazu treibt, um diese Erfahrung zu machen, und wie Ludwig als räuberischer Eigenwille dazu wirkt. Doch auch Gudruns Liebe wirkt hier, so daß Hartmut seinen Edelmut zeigt und nicht dem Wunsch seines Vaters nach Zerstörung und Tod folgt. Trotzdem ist es natürlich ein Sieg der Bindung, entsprechend dem Ego-Wesen auf dem Weg von Raub und Gewalt des „Ich will!“.

Königin Hilde schaute wehklagend den abziehenden Schiffen nach und sandte sogleich Boten zu Hettel nach Seeland. Als die schreckliche Kunde von der Erstürmung der Burg, vom Tod der besten Recken in Hegelingen, vom Verlust des Staatsschatzes und dem Raub der edlen Gudrun dort eintraf, dachte niemand mehr an die Bezwingung von Siegfried, sondern an die Verfolgung der frechen Raubfahrer. Der alte Wate rief: „Das sollen sie uns büßen! Noch manches Leid sollen Hartmuth und sein Geschlecht erfahren!“ - „Wie soll das geschehen?“, fragte König Hettel. Darauf sprach der weise Frute: „Wir wollen Frieden mit Siegfried und seinem Heergesinde schließen. Dann ziehen wir alle gemeinsam gegen Hartmuth, um die schöne Gudrun zu befreien.“ Hettel und Herwig fanden diesen Rat gut, und schon am nächsten Morgen sammelten sie die verfügbare Heeresmacht vor der Festung, um Siegfried ihre ganze Macht zu zeigen, und der weise Frute rief: „Wollt ihr Frieden schließen, ihr Helden aus dem Moorland? Sonst werdet ihr nicht entkommen.“ Daraufhin kam es zur Verhandlung. König Siegfried wurden sicherer Abzug und freies Geleit zugestanden. Und als dieser die schlimme Kunde über Gudrun vernahm, gelobte er, mit seiner ganzen Macht den Helden gegen die frechen Räuber Beistand zu leisten. Der Bund wurde geschlossen, die Heere waren gerüstet, alle noch verfügbaren Schiffe wurden beladen und bestiegen. Bald segelten sie auf hoher See zur Verfolgung der Normannen, und ein stürmischer Wind förderte ihre Reise.

Nun, das ist sicherlich das Beste, was die Vernunft tun kann, nämlich sich im „anderen“ zu erkennen und mit sich selbst Frieden zu schließen. Doch merkt man das oft erst, wenn es richtig schmerzlich wird und alles verloren scheint. Dann erhebt sich der Sturm auf dem Meer der Ursachen, und die Gott-Rune fordert zusammen mit der Norne der Vergangenheit ihren Tribut.

Wie wogt so mächtig die salzige Flut!
Wie tragen die Helden so hohen Mut,
Zu befreien die edelste, herrlichste Maid
Von Banden und harmvollem bitterem Leid!
Wohlauf denn, hinein in die blutige Schlacht!
Die Räuber sind nahe: habt acht, habt acht!

So sang Horand mit seiner Stimme Kraft. Wind, Wellen und die Heere auf den Schiffen lauschten auf das Lied, und da war nicht einer, der zaghaft zurückweichen wollte im Sturm der Geschosse und Schwerter. Hoch, allen sichtbar, stand der sangeskundige Held auf seinem Schiff, wie ein Prophet, der Wahrheit verkündigt. Das erkannte man alsbald. Denn aus den grauen Wellen erhob sich eine flache Insel, die Wülpensand genannt wurde. Daselbst lagerte zahlreiches Kriegsvolk, und an den Bannern der streitbaren Scharen flatterte der horngeschnäbelte Rabe mit ausgebreiteten Flügeln, der Normannen Zeichen. Das stürmische Wetter hatte sie auf halbem Weg zur Rast gezwungen, und auf der einsamen Insel glaubten sie sich einige Tage in Sicherheit. Die wachhabenden Krieger dachten zuerst, eine Flotte fremder Händler nähere sich auf der anderen Seit der Insel, doch bald wurde klar, daß ihre Feinde gelandet waren. Schnell ordnete man sich zum Kampf und eine wilde Schlacht begann auf Wülpensand. Die Geschosse fielen dicht, wie die Flocken im Schneesturm. Achtlos der Gefahr, sprang der kühne Herwig in das wogende Meer der Schlacht. Er suchte Hartmut und fand ihn. Beide Recken kämpften mit gleichem Mut und gleichem Geschick. Doch stürmten von beiden Seiten die Streiter hinzu, so daß die Kämpfer wieder geschieden wurden. Auf der anderen Seite traf der alte Wate mit König Ludwig zusammen. Mit großer Kühnheit stritten die beiden Männer, und obwohl der Alte seinen Gegner mit einem furchtbaren Schlage zu Boden fällte, war dieser doch schnell wieder auf und vergalt ihm reichlich die erlittene Schmach. Auch hier wurden die Kämpfer im dichten Gedränge des Gefechts geschieden. Nicht minder mächtig kämpften Frute, Horand, Ortwin und Siegfried.

Die Schlacht wogte ohne Entscheidung hin und her, bis der Abend anbrach. Die Verluste waren auf beiden Seiten gewaltig, der Inselsand ganz rotgefärbt und von Leichen übersät. Da lagerten sich die müden Krieger auf ihren jeweiligen Seiten. Die Wachtfeuer loderten empor und erhellten spärlich die wolkendüstere Nacht. Als König Hettel in ihrem Schein aus dem Lager auf Erkundung ritt, erkannte er seinen Feind, den Frauenräuber Ludwig, der mit gleicher Absicht unterwegs war. Er rief ihn sogleich an, forderte ihn zum Kampf und bezichtigte ihn der Feigheit, als dieser erst den lichten Morgen abwarten wollte. Das ertrug der stolze Normanne nicht. Die Schwerter der königlichen Kämpfer blitzten und schmetterten auf Helme und Schilde. Aber Hettel, von einem Lagerfeuer geblendet, gewahrte nicht, wie sein Gegner den Schild zurückwerfend, mit beiden Händen einen mörderischen Streich führte, und sank mit gespaltetem Haupt zu Boden. Das sahen seine Krieger und stürzten unter lautem Schlachtruf auf den Sieger, dem alsbald die Seinen zu Hilfe eilten. So entbrannte die Schlacht von neuem im nächtlichen Dunkel, da man den Freund vom Feind nicht unterscheiden konnte. Da fiel mancher tüchtige Held durch Freundeshand und verfluchte die Waffe, die solches vollbracht hatte. Die Führer erkannten das Verderbliche des nächtlichen Kampfes und ließen die Hörner zum Rückzug blasen. Darauf begaben sich beide Heere wieder in ihre Lager. Einerseits standen die Helden, begierig der Rache, um den königlichen Leichnam, anderseits erwogen die Könige, Vater und Sohn, den erlittenen Verlust, da ihre tapfersten Recken auf der blutigen Walstatt den langen Schlaf schliefen. Da dünkte es den normannischen Helden der beste Rat, unter dem Schutz der Nacht die Schiffe zu besteigen, die Leichen ihrer gefallenen Krieger zurückzulassen und mit ihrem Raub nach der Heimat zu steuern, um der wütenden Rache von Wate und den anderen Feinden aus dem Weg zu gehen. Wohl weinte Gudrun viel, als sie den Tod ihres Vaters vernahm. Wohl trug sie Verlangen, bei den Freunden zu bleiben, aber sie war gefangen, und die Kriegsknechte, die sie und ihr weibliches Gefolge nach den Schiffen geleiteten, achteten ihrer Tränen nicht.

Was bedeutet die Insel Wülpensand und dieser tödliche Kampf aus geistiger Sicht? „Wülpe“ wurde früher auch eine Wölfin genannt, und damit erinnert uns diese Sandinsel an die Wolfs-Natur des gierigen Ego-Verstandes, der sich im Meer der Ursachen verkörpert hat, aber auf vergänglichem Sand. So können wir hier an den menschlichen Körper denken, in dem diese Schlacht im Reich der Trennung zwischen Eigenwille, Ego, Verstand, Weisheit, Schicksal, Karma und Vernunft um die Gott-Rune stattfindet. Und hier geschieht es, daß die erwachende Hettel-Vernunft in der Dunkelheit der weltlichen Illusion getötet wird, vom Feuer der Leidenschaft geblendet und erschlagen vom Ludwig-Eigenwillen mit dem Schwert der Trennung. Denn so konnte der König „Hätte-Gern“, der sich mit der Zukunfts-Norne verbunden hatte, nicht siegreich sein, und auch Siegfried kann hier nicht zum „Sieg-Frieden“ helfen. Hatte das Gudrun geahnt, als sie ihren Vater darum bat, dem Herwig-Verstand in diesem Kampf zu helfen? Zumindest hatte es wohl König Hettel geahnt, als er die Entscheidung darüber seiner Tochter überließ und sich nun für sie opferte. So wird die innerlich wachsende Vernunft vom Eigenwillen und Ego-Verstand getötet, aber sie ahnen auch, daß sie für diesen vermeintlichen Sieg noch einen hohen Preis zahlen werden, fliehen lieber mit ihrem Raub von dieser Insel in die Nacht und lassen alle ihre Leichen zurück.

Kaum tagte der Morgen, so rief schon der alte Wate zu den Waffen, und die Krieger hörten seinen Ruf. Wie groß war daher ihr Erstaunen, als sie das Lager der Normannen geräumt und die Schiffe verschwunden sahen. „Die Feiglinge sind entflohen!“, rief der Alte, „Laßt uns die Schiffe besteigen und ihnen bis in ihr Raubnest nachjagen, und wenn sie dort nicht sind, bis an das Ende der Welt!“ Schon waren Ortwin und Herwig bereit, dem Aufruf zu folgen, aber Frute forderte zur Vorsicht auf. Er gab zu bedenken, wie die Reihen ihrer Streiter gelichtet und die Normannen weitgenug voraus waren, so daß man sie erst in der Normandie einholen werde, wo Burgleute und streitbare Landwehr zu einer unbezwinglichen Macht werden würden. „Es bleibt kein anderer Rat“, schloß Frute, „als einige Jahre stillzusitzen, bis die heranwachsende Jugend wehrhaft wird, eine neue Generation der Kämpfer verfügbar ist und mit uns die Heerfahrt gegen die Räuber unternimmt.“ Die ratschlagenden Helden erkannten die Weisheit Frutes, und gelobten sich Treue, daß sie gemeinsam kämpfen werden, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Das Einzige, was sie jetzt tun konnten, war die Bestattung ihrer Toten. So trugen sie die gefallenen Freunde zusammen, und auf Ortwins Rat wurde über ihrem Grab eine kleine Kirche errichtet, ein Gotteshaus zur Einkehr. Nach kurzem Besinnen entschlossen sie sich, auch die gefallenen Feinde zu bestatten. Zuletzt begruben sie ihren König. Dann fuhren sie mit den wenigen Resten der Gefolgsleute traurig in ihre Heimat zurück.

So wird es nun dreizehn Jahre dauern, bis die Zeit für den großen Kampf um Gudrun reif ist, wie wir noch lesen werden. Das macht vor allem aus symbolischer Sicht Sinn, wenn man die Ego-Flucht in die Nacht und die Bestattung auf Wülpensand als den körperlichen Tod eines Menschen betrachtet, so daß wieder ein neuer Mensch heranwachsen muß, um für diesen Kampf um die Gott-Rune der Ganzheit unter der Führung von Verstand, Weisheit und Schicksal die nötige Vernunft zu entwickeln. Das sind dann auch die Karma-Leichen, die das Ego zurückgelassen hatte, die dann wieder „auferstehen“. Über das Thema Auferstehung und Wiedergeburt wurde und wird ja vielfältig diskutiert. Die grundlegende Frage ist immer: Wer oder was stirbt und wird geboren? Solange das nicht klar ist, verläuft man sich gern in endlosen Diskussionen. Gibt es nun eine, keine oder viele Seelen? Das ist nur eine Frage der Sichtweise. Am einfachsten kann man an die Wellen auf einem Meer denken, die im Spiel von Ursache und Wirkung tanzen: Wer nur die Wellenberge betrachtet, sieht viele Wellen. Doch wer kann genau sagen, wo eine Welle beginnt oder endet? Aus dieser Sicht ist es nur eine große Welle mit vielen Bergen und Tälern. Und wer dann erkennt, daß die Welle nur Wasser ist, sieht gar keine Welle mehr. So hatten sich auch die vielen Wesen wie Wellen auf Wülpensand getroffen, im Sand der Körperinsel gekämpft, die sich lebendig aus dem Meer erhoben hatte, und gingen danach in verschiedene Richtungen auseinander, um sich irgendwann wieder zu treffen, woran auch das Gotteshaus zur Einkehr erinnert:

Herwig fuhr nach Seeland, wo er sein Volk trösten und die zerstörten Burgen wieder aufbauen mußte. Siegfried kehrte ins Moorland (nach Norwegen) zurück, und herrschte dort als König. Und die Hegelingen fuhren in ihre Heimat nach Dänemark. Ortwin fürchtete sich, der Mutter unter die Augen zu treten. Auch der alte Wate ritt nur zaghaft in das Land, denn mit all seiner Kraft und Meisterschaft war er nicht erfolgreich gewesen, und fürchtete, Hildens Huld zu verlieren. Die Leute waren gewohnt, ihn siegesfroh mit lautem Schall aus dem Krieg heimkehren zu sehen. Diesmal zog er schweigend mit den Seinen daher. Als Hilde den langsamen Trauerzug von der Burgzinne herab erblickte, überkam sie eine dunkle Ahnung. Sie fragte bekümmert, ob niemand den König kommen sehe? Viele liefen Wate entgegen und fragten nach ihren Freunden. Doch er hatte nur eine Antwort: „Sie sind alle erschlagen!“ Da erhob sich überall großer Schrecken, und Königin Hilde rief: „Oh weh meines Leides! Wie ist von mir geschieden der Leib meines Herrn? Wo ist Hettel, der Reiche? Wie schwindet nun alle meine Ehre! Verloren hab ich beide, auch Gudrun sehe ich nimmer mehr.“ Jammer und Weinen durchtönte den ganzen Königssaal. Da sprach der kühne Wate: „Herrin, laß das Klagen! Damit kommen sie nicht wieder. Wenn die Zeit reif und das junge Volk in diesem Land herangewachsen ist, werden wir unseren Schmerz und unsere Schande an Ludwig und Hartmuth rächen.“ Die Worte trösteten die Königin, und sie gelobte, alles zu tun, damit diese in Erfüllung gehen und sie ihre Tochter Gudrun wiedersehen könne. So mußten sich alle in das Unvermeidliche fügen.

Hier zeigt sich nun Hilde als Wiedergeburt der Schicksalsnorne der Zukunft, um ihre Aufgabe als Seele der Verursachung zu erfüllen. So wird sie zusammen mit ihrem Sohn Ortwin als „Freund der Einheit“ darum kämpfen, die Erbsünde der Trennung zu überwinden und die Gott-Rune der Ganzheit wiederzugewinnen. Dazu helfen ihr der alte Wate-Verstand, die Frute-Weisheit, die wachsende Herwig-Vernunft auf Seeland und die über das Moorland herrschende Siegfried-Vernunft zusammen mit Horand als Spielmann des Schicksals. Und entsprechend geht nun auch die Geschichte von Gudrun und Hartmut unter der Herrschaft von Ludwig und Gerlinde weiter…


... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
Dietrichsage: Zwergenkönig Laurin und sein Rosengarten
Dietrichsage: Mönch Ilsan und Kriemhilds Rosengarten
Dietrichsage: Die Heerfahrten für Etzel und Ermenrich
Dietrichsage: Der Fall von Kaiser Ermenrich
Dietrichsage: Über die Herrschaft von König Etzel
Dietrichsage: Die Raben- oder Ravenschlacht
Dietrichsage: Rückkehr zu Etzel und Nibelungenschlacht
Dietrichsage: Dietrichs Sieg und Kaiserkrönung
Hagelingsage: Die Geschichte von Hagen
Hagelingsage: König Hettel und seine Helden
Gudrunsage: Gudrun und die Brautwerbung

Sagentext und Sepia-Bilder: Die Sagenwelt der Nibelungen nach Wilhelm Wägner und anderen Quellen
Das Heldenbuch (Gudrunlied), Band 1, Karl Joseph Simrock, 1883
Kudrun (mittelhochdeutsch), Bartsch, 1880
Die deutsche Litteraturgeschichte - Kudrun (Zusammenfassung), Pfalz, 1883
[2025] Text von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: