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Märchentext der Gebrüder Grimm [1812]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2021]
Es war einmal ein König, der hatte eine Frau, die war die schönste auf der Welt, und hatte Haare von purem Gold. Sie hatten auch eine Tochter miteinander, die war so schön wie ihre Mutter, und ihre Haare waren ebenso golden. Einmal ward die Königin krank, und als sie fühlte, daß sie sterben müsse, rief sie den König und bat ihn, er möge nach ihrem Tod doch niemand heiraten, der nicht eben so schön wäre wie sie, und ebenso goldene Haare hätte. Und nachdem ihr der König das versprochen hatte, starb sie.
Wir möchten uns bei der Interpretation dieses wunderbaren Märchens auf die erste Ausgabe stützen, welche die Brüder Grimm im Jahre 1812 veröffentlichten. Alle weiteren Ausgaben wurden bezüglich Handlung und Sinn deutlich verändert. Der Grund ist vermutlich in der äußeren Handlung zu suchen, die gesellschaftlich ein sehr heikles Thema berührt. Doch gerade diese Spannung macht uns auch neugierig, die tieferen Ebenen der geistigen Botschaft zu untersuchen.
So möchten wir uns zunächst dieser geistigen Ebene zuwenden und versuchen, die vielen Symbole näher zu deuten. Auch dieses Märchen beginnt mit König und Königin, worin wir Geist und Natur sehen können. Ihre Tochter wäre dann die verkörperte Seele, die in ihrem Wesen natürlich genauso rein und schön wie Mutter Natur ist. Doch irgendetwas stimmt nicht, Mutter Natur wird krank und stirbt. Nun, dieses Problem kennen wir heutzutage sehr gut. Wir spüren, daß die Natur krank ist und versuchen, sie zu heilen und zu retten, aber sie stirbt immer weiter. Vielleicht liegt das Problem nicht auf Seiten der Natur, die hier als reine und vollkommene Mutter beschrieben wird, sondern am König, unserem Geist?
Wo könnten wir diese geistigen Ursachen der Krankheit suchen? Zum einen pflegen wir eine unersättliche Begierde nach immer mehr: mehr Produkte, mehr Autos, mehr Urlaubsflüge, mehr Technik, mehr Kleidung, mehr Geld, mehr Luxus, mehr Ressourcen, mehr Energie… mehr… mehr… mehr… Die Forschung und neue Technologien sollen es schon richten. Dann pflegen wir auch einen wachsenden Egoismus in einer Ellenbogengesellschaft, wo jeder vor allem an sich denkt. Und darüber hinaus pflegen wir auch eine wissenschaftliche Weltanschauung, welche die Grundlagen der Natur als vollständig berechenbar und technisch steuerbar betrachtet, also ohne Leben. Damit wird die Natur zu einer toten Maschine degradiert, die man beliebig beherrschen und gnadenlos ausnutzen kann. Das heißt, wir töten durch unsere geistige Sichtweise die Natur, unsere uralte Mutter, und dann klagen wir, wenn sie um uns herum krank wird und stirbt, wie auch der König in diesem Märchen:
Der König war lange Zeit so betrübt, daß er gar an keine zweite Frau dachte. Endlich aber ermahnten ihn seine Räte, sich wieder zu vermählen: Da wurden Botschafter ausgeschickt an alle Prinzessinnen, aber keine war so schön wie die verstorbene Königin, so goldenes Haar war auch gar nicht mehr zu finden auf der Welt. Da warf der König einmal die Augen auf seine Tochter, und wie er so sah, daß sie ganz ihrer Mutter glich und auch ein so goldenes Haar hatte, so dachte er: »Du kannst doch auf der Welt niemand so schön finden, du mußt deine Tochter heiraten.« Und im gleichen Augenblick fühlte er eine so große Liebe zu ihr, daß er gleich den Räten und der Prinzessin seinen Willen kundtat. Die Räte wollten es ihm ausreden, aber das war umsonst.
Uns geht es ähnlich: Die Natur stirbt auf dieser Erde, und wir suchen überall im Weltraum, ob es vielleicht einen besseren Planeten wie diesen gibt. Aber ach! Wir können keinen finden, und haben der Natur versprochen, keinen schlechteren zu nehmen. Man könnte sogar sagen: Dieses Versprechen ist dem Geist eingeboren, so daß es sein Wesen ist, immer höher zu streben. Wahrlich, auch unsere moderne Wissenschaft strebt nach dem Gold der Wahrheit, aber sie sucht das Glück vor allem in äußeren Dingen. Die eigene Seele zu heiraten und sich mit der Natur harmonisch zu verbinden, das geht nun wirklich zu weit, auch wenn wir in uns eine große Liebe zum Leben fühlen. Unser innerer Rat, der rationale Verstand, sagt klar und deutlich: Nein! Deshalb verheiraten wir uns lieber mit äußeren Dingen, Personen, Parteien, Firmen, Geld oder Ruhm. Und auf diesem Weg wandelt sich unsere Liebe sehr schnell in blinde Begierde, die auf Äußerliches gerichtet ist.
Die Prinzessin erschrak von Herzen über dieses gottlose Vorhaben. Weil sie aber klug war, sagte sie dem König: Er solle ihr erst drei Kleider schaffen, eins so golden wie die Sonne, eins so weiß wie der Mond, und eins so glänzend wie die Sterne, dann aber einen Mantel von tausenderlei Pelz zusammengesetzt, und alle Tiere im Reich müßten ein Stück von ihrer Haut dazugeben. Der König war so heftig in seiner Begierde, daß er im ganzen Reich daran arbeiten ließ, daß seine Jäger alle Tiere einfangen und ihnen die Haut abziehen mußten. Daraus ward der Mantel gemacht, und es dauerte nicht lang, so brachte er der Prinzessin, was sie verlangt hatte.
Sogar die Seele erschreckt über dieses gottlose Vorhaben. Warum „gottlos“? Nun, wir haben oben schon vermutet, daß mit diesem Geist irgend etwas nicht stimmt. „Gottlos“ ist relativ treffend, denn nicht umsonst gilt heutzutage „Gott“ unter der Mehrzahl unserer modernen Wissenschaftler bereits als schreckliches Schimpfwort oder unsinniger Aberglaube. Gottlos wird der Geist, wenn er die ganzheitliche Sicht verliert. Und das Märchen meint: Mit einem solchen Geist will und kann sich die wahre Seele nicht vereinen. Im Gegenteil, sie flieht vor diesem Geist. Und wohin?
Das ist höchst wunderbar: Sie flieht in die Vielfalt der Natur. Die Seele trägt hier das Kleid der Sonne, des Mondes, der Sterne und aller Lebewesen. Das kündet von einem Weltbild, daß uns heute sehr fremd ist. Bereits im Christentum wurde den Tieren nicht die gleiche Seele wie den Menschen zugestanden, von Sonne, Mond und Sternen gar nicht erst zu sprechen. Daß diese ganze Natur mit allen Lebewesen von der gleichen Seele beseelt wird, ist eine Vorstellung, die man zum Beispiel in der Weltseele von Platon findet. Noch deutlicher und klarer ist diese Weltsicht der universalen Seele unter dem Begriff „Atman“ im Hinduismus verankert, wo sie als Grundlage der ganzen Natur und Schöpfung gilt:
Du bist die mächtige Gottheit, die alles vollbringt und alles bezeugt, denn deine Augen sind überall. Du bist die Seele von allem, du siehst alles, durchdringst alles und kennst alles. Du schaffst dir selbst einen Körper und trägst diesen Körper. So bist du jedes verkörperte Wesen, erfreust dich der Körper und bist die Grundlage aller Körperlichkeit. Du bist der Schöpfer des Lebensatems...
Du bist der Mond, die Sonne mit allen Sternen und Planeten sowie die Atmosphäre, die den Raum erfüllt. Du bist der Polarstern, die Konstellation der sieben Rishis und die sieben Welten, die mit der Erde beginnen. Du bist das Meer der Ursachen und die universale Intelligenz. Du bist das Unentfaltete und diese ganze Welt. Du bist das Universum von Brahma bis zum kleinsten Grashalm. Du bist der Anfang und die erste Ursache aller Wesen... [Mahabharata 13.16]
Und noch erstaunlicher sagt das Märchen: Es ist die Begierde des Geistes, die der reinen Seele dieses vielfältige Kleid der Welt verschafft. Auch dieses Prinzip finden wir im altindischen Weltbild wieder, wo es heißt, das Brahma durch die natürliche Qualität der Leidenschaft (Rajas) zum Schöpfergott wird und diese ganze Schöpfung entfaltet.
Die Prinzessin sagte nun, sie wolle sich morgen mit ihm trauen lassen. In der Nacht aber suchte sie die Geschenke zusammen, die sie von ihrem Bräutigam hatte. Das waren ein goldener Ring, ein goldenes Spinnrädchen und ein goldenes Häspelchen. Die drei Kleider aber tat sie in eine Nuß, dann machte sie sich Gesicht und Hände mit Ruß schwarz, zog den Mantel von allerlei Pelz an und ging fort. Sie ging die ganze Nacht, bis sie in einen großen Wald kam, da war sie sicher, und weil sie so müd war, setzte sie sich in einen hohlen Baum und schlief ein.
So zieht sich nun die Seele in die Natur zurück und wartet auf die Morgendämmerung des Geistes, um sich wieder mit ihm zu vereinen. Dieses Versprechen gibt sie ihm. Natürlich sind Geist und Seele niemals getrennt, aber durch die Kraft der Illusion erscheint gewöhnlich eine Trennung zwischen Geist und Natur, Subjekt und Objekt, dem Erkennenden und dem Erkennbaren. Zum Zeichen ihrer Verbindung nimmt sie verschiedene Eigenschaften mit bzw. an, die uns als Symbole später noch begegnen werden. Ihre drei Kleider von Sonne, Mond und Sterne versteckt sie in einer Nuß, das heißt vermutlich, in ihrem lebendigen und fruchtbaren Kern, womit auch das Große im Kleinen enthalten ist und sich das Kleine im Großen widerspiegelt. Diese Ansicht, daß der Makrokosmos ein Abbild des Mikrokosmos ist, war früher sehr verbreitet. Daß sie Gesicht und Hände mit Ruß schwärzt, erinnert an die Sünde, mit der unsere Seele durch Sinne und Taten belastet wird. Schließlich schlüpft sie in den Mantel der Tiere, geht durch die geistige Nacht in den großen Wald der Schöpfung, wo sie im Inneren eines Baumes schläft. Das heißt vermutlich auch, daß diese Seele in allen Pflanzen schläft, zumindest dort nicht so aktiv ist, wie in den Tieren.
Die Vorstellung, daß diese ganze Schöpfung nur deshalb entsteht, damit der Geist aus seinem Wahn erwachen kann, war den alten Kulturen nicht fremd. Schon deshalb, weil der Geist als grundlegende Basis der Natur galt, suchte man verständlicherweise auch einen geistigen Sinn in dieser Schöpfung. Auch heute ist uns bewußt, daß wir in dieser Welt leben, um viel zu lernen. Die Frage ist nur „Was?“, und ob wir den tieferen Sinn noch fühlen.
Sie schlief noch am hohen Tag, da jagte gerade der König, ihr Bräutigam, in diesem Wald, seine Hunde aber liefen um den Baum und schnupperten daran. Der König schickte seine Jäger hin, die sollten sehen, was für ein Tier in dem Baum steckte. Die kamen wieder und sagten, es liege ein so wunderliches Tier darin, wie sie ihr Lebtag noch keins gesehen, Rauhwerk (Pelz) allerlei Art sei an seiner Haut, es liege aber und schlafe. Da befahl der König sie sollten es fangen und hinten auf den Wagen binden. Das taten die Jäger, und wie sie es hervorzogen, sahen sie, daß es ein Mädchen war, da banden sie es hinten auf und fuhren mit ihm heim.
So schläft die Seele in den weltlichen Tag hinein und wartet auf den „hohen Tag“, den Tag der mystischen Hochzeit, an dessen Abend das mystische Abendmahl stattfindet, wie es auch in der Bibel beschrieben wird. Bis dahin geht der König auf die Jagd. Wer sind die Jäger des Geistes? Hier könnte man an die fünf Sinne denken, denn sie jagen durch die Welt auf der Suche nach Nahrung. Und der König sollte die Vernunft sein, der die Entscheidungen trifft. Diese Vernunft kann man bis zur hohen „Einsicht“ entwickeln, um endlich in allen Wesen die wahre Seele zu erkennen. Bis dahin schauen die Sinne nur auf die Oberfläche der Dinge und können nicht in die Tiefe dringen. So erkennen sie zumindest, daß es kein wildes Tier war, sondern ein Mädchen, aber auch das kommt in die Küche, die dem König die Nahrung zubereitet.
»Allerlei-Rauh, sagten sie, du bist gut für die Küche, du kannst Holz und Wasser tragen, und die Asche zusammenkehren.« Dann gaben sie ihr ein kleines Ställchen unter der Treppe, wohin kein Tageslicht kam: »Da kannst du wohnen und schlafen.« Nun mußte sie in die Küche, da half sie dem Koch, rupfte die Hühner, schürte das Feuer, belas das Gemüse und tat alle schlechte Arbeit. Weil sie alles so ordentlich machte, war ihr der Koch gut und rief manchmal abends Allerlei-Rauh und gab ihr etwas von den Überbleibseln zu essen. Ehe der König aber zu Bett ging, mußte sie hinauf und ihm die Stiefel ausziehen, und wenn es einen ausgezogen hatte, warf er ihn ihr allemal an den Kopf.
Was symbolisiert diese Küche? Gewöhnlich ist es unser Denken, das die Nahrung der Sinne für die Vernunft aufbereitet und die Abfälle entsorgt. Und in dieser Gedankenküche arbeitet und schläft nun die Seele im Inneren unseres Körpers, ohne daß wir sie erkennen. Das heißt: Wir leben, aber wissen eigentlich nicht, wodurch.
Daß sie unter der Treppe im Dunkeln schläft, könnte darauf hindeuten, daß unsere Seele die Grundlage für eine Entwicklung ist, die den Menschen und allen anderen Wesen bestimmt ist, nämlich aus der Dunkelheit der Illusion zum Licht einer höheren Erkenntnis aufzusteigen. Zumindest glaubte man das früher.
Der letzte Satz mit den Stiefeln wurde von den Gebrüdern Grimm bereits in der 2. Auflage entfernt. Sie waren wohl entsetzt, wie der König mit diesem bepelzten Wesen umging, das ihm doch so treu diente. Vielleicht eine gute Gelegenheit, um darüber nachzudenken, wie wir heutzutage in krankhafter Herrschsucht mit Pflanzen, Tieren und auch anderen Menschen umgehen. Darin zeigt sich bereits das große Problem, wenn man die reine Seele nicht in allen Wesen erkennen kann.
So lebte Allerlei-Rauh lange Zeit recht armselig und überlegte: »Ach, du schöne Jungfrau, wie soll’s mit dir noch werden?!« Da war ein Ball in dem Schloß. Allerlei-Rauh dachte, »nun könnte ich einmal wieder meinen lieben Bräutigam recht sehen«, ging zum Koch und bat ihn, er möge ihr doch erlauben, nur ein wenig hinaufzugehen, um vor der Türe die Pracht mit anzusehen. »Geh hin, sagte der Koch, aber länger als eine halbe Stunde darfst du nicht ausbleiben. Du mußt noch die Asche heute abend zusammenkehren.« Da nahm Allerlei-Rauh ihr Öllämpchen und ging in ihr Ställchen, und wusch sich den Ruß ab, so daß ihre Schönheit hervorkam, recht wie die Blumen im Frühjahr. Dann tat sie den Pelzmantel ab, machte die Nuß auf und holte das Kleid heraus, das wie die Sonne glänzte. Und wie sie damit geputzt war, ging sie hinauf, und jedermann machte ihr Platz, und meinte nicht anderes, als eine vornehme Prinzessin käme in den Saal gegangen. Der König reichte ihr gleich seine Hand zum Tanz, und wie er mit ihr tanzte, dachte er: »Wie gleicht diese unbekannte schöne Prinzessin meiner lieben Braut!« Und je länger er sie ansah, desto mehr glich sie ihr, daß er es fast gewiß glaubte, und wenn der Tanz zu Ende wär, wollte er sie fragen. Wie sie aber ausgetanzt hatte, verneigte sie sich und war verschwunden, ehe sich der König besinnen konnte. Da ließ er die Wächter fragen, aber keiner hatte die Prinzessin aus dem Hause gehen sehen.
Solange wir die wahre Seele nicht erkennen, leben wir „armselig“. Da nützen uns alle materiellen Reichtümer und die prächtigsten Feste nichts. Doch es gibt noch eine andere Art, wie der Geist mit der Natur tanzt, nämlich die Suche nach Erkenntnis. In diesem kosmischen Tanz versuchte man früher, nicht so sehr mit toten Teilchen, Formeln und Maschinen zu tanzen, sondern mit der lebendigen Seele in der Natur. So hatte der Geist die Möglichkeit, die wahre Seele zu erkennen, das Leben selbst, und konnte wiederfinden, was er durch seine Verblendung verloren hatte. Denn wie das Märchen beschreibt, kann sich ihm in diesem Tanz die Seele zeigen, von Sünde gereinigt und im kosmischen Kleid. Der Geist erinnert sich und fühlt bereits eine tiefere Verbindung, doch halten kann er die reine Seele noch nicht. Auch die äußeren Wächter helfen ihm hier nicht weiter, denn die lebendige Seele kann man nur im inneren Wesen finden. Sie kommt nicht von außen herein, sondern lebt im Inneren, wo sie sich gewöhnlich verbirgt:
Sie war geschwind in ihr Ställchen gelaufen, hatte ihr Kleid ausgezogen, Gesicht und Hände schwarz gemacht, und wieder den Pelzmantel umgetan. Dann ging sie in die Küche und wollte die Asche zusammenkehren, der Koch aber sagte: »Laß das sein bis morgen, ich will auch ein wenig hinaufgehen und den Tanz mit ansehen. Koch derweil dem König seine Suppe, aber laß keine Haare hineinfallen, sonst kriegst du nichts mehr zu essen.« Allerlei-Rauh kochte dem König da eine Brotsuppe, und zuletzt legte es den goldenen Ring hinein, den der König ihr geschenkt hatte. Wie nun der Ball zu Ende war, ließ sich der König seine Brotsuppe bringen, und die schmeckte ihm so gut, daß er meinte, er hätte noch nie eine so gute gegessen. Wie er aber fertig war, fand er den Ring auf dem Grund liegen, und wie er ihn genau ansah, da war es sein Treuring (Trauring). Da verwunderte er sich, konnte nicht begreifen, wie der Ring dahin kam, und ließ den Koch rufen. Der Koch ward bös über Allerlei-Rauh: »Du hast gewiß ein Haar hineinfallen lassen! Wenn das wahr ist, so kriegst du Schläge.« Wie aber der Koch hinauf kam, fragte der König, wer die Suppe gekocht habe, denn die wäre besser als sonst gewesen. Da mußte er gestehen, daß es Allerlei-Rauh getan hatte, und da hieß ihn der König Allerlei-Rauh heraufschicken. Wie sie kam, sagte der König: »Wer bist du, und was machst du in meinem Schloß? Woher hast du den Ring, der in der Suppe lag?« Sie antwortete aber: »Ich bin nichts als ein armes Kind, dem Vater und Mutter gestorben sind. Ich habe nichts und bin zu gar nichts gut, als daß die Stiefel mir um den Kopf geworfen werden, und von dem Ring weiß ich auch nichts.« Damit lief sie fort.
Nun wird noch einmal deutlich gesagt, wie die Seele dem Koch in der Gedankenküche unseres Körpers hilft, die Nahrung für die Vernunft zuzubereiten. Je mehr die reine Seele kocht, desto weniger arbeiten unsere Gedanken und desto wahrhafter ist auch die Nahrung. Das Sonnenkleid und der Trauring könnten eine erste Stufe der Erkenntnis andeuten, zum Beispiel die Erkenntnis der geistigen Einheit in der Natur, in der die universale Intelligenz alles miteinander verbindet. Diese große Intelligenz strahlt wie die Sonne, verleiht das Licht der Erkenntnis und macht die Dinge der Welt sichtbar.
Danach war wieder ein Ball. Da bat Allerlei-Rauh den Koch erneut, er solle sie hinaufgehen lassen. Der Koch erlaubte es auch nur auf eine halbe Stunde, dann solle sie dasein und dem König die Brotsuppe kochen. Allerlei-Rauh ging in ihr Ställchen, wusch sich rein und nahm das Mondkleid heraus, noch reiner und glänzender als der gefallene Schnee. Und wie sie hinauf kam, fing eben der Tanz an. Da reichte ihr der König die Hand und tanzte mit ihr, und zweifelte nicht mehr, daß das seine Braut sei, denn niemand auf der Welt hatte außer ihr noch so goldene Haare. Wie aber der Tanz zu Ende war, war auch die Prinzessin schon wieder draußen. Und alle Mühe war umsonst, der König konnte sie nicht finden, und hatte auch kein einziges Wort mit ihr sprechen können. Sie war aber wieder Allerlei-Rauh, schwarz im Gesicht und an den Händen, stand in der Küche, und kochte dem König die Brotsuppe. Und der Koch war hinaufgegangen und guckte zu. Als die Suppe fertig war, tat sie das goldene Spinnrädchen hinein. Der König aß die Suppe, und sie dünkte ihm noch besser, und als er zuletzt das goldene Spinnrädchen fand, erstaunte er noch mehr, denn das hatte er einmal seiner Braut geschenkt. Der Koch ward gerufen, und dann Allerlei-Rauh, aber sie gab wieder zur Antwort, sie wisse nichts davon und sei nur dazu da, daß ihr die Stiefel um den Kopf geworfen würden.
Damit könnte eine zweite Stufe der Erkenntnis gemeint sein, womit sich die geistigen Zweifel langsam lösen. Die Brotsuppe erinnert uns natürlich an das berühmte Abendmahl und den Leib Gottes, wie es in der Bibel heißt:
Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt. [Bibel, Joh. 6.51]
Das Mondkleid könnte hier die weibliche Fruchtbarkeit symbolisieren, die oft mit dem Mond verbunden wurde. Ähnlich erinnert auch das Spinnrädchen an das Spinnen des Lebensfadens. Und so wird dem Geist des Königs bewußt, daß er der Seele diese Eigenschaften selbst geschenkt hat, denn ohne Geist gäbe es natürlich auch keine Fruchtbarkeit und keinen Lebensfaden. Doch die Seele offenbart sich immer noch nicht, dient demütig und weckt im König das Gewissen, wie überheblich er handelt.
Der König stellte zum dritten Mal einen Ball an und hoffte, seine Braut sollte wieder kommen, und da wollte er sie gewiß festhalten. Allerlei-Rauh bat auch wieder den Koch, ob sie nicht dürfe hinaufgehen. Der schalt aber und sagte: »Du bist eine Hexe! Du tust immer etwas in die Suppe, und kannst sie besser kochen als ich.« Doch weil sie so bat und versprach, ordentlich zu sein, so ließ er sie wieder auf eine halbe Stunde hingehen. Da zog sie ihr Sternenkleid an, das funkelte wie die Sterne in der Nacht, ging hinauf und tanzte mit dem König, der meinte, so schön hätte er sie noch niemals gesehen. Bei dem Tanz aber steckte er ihr einen Ring an den Finger, und hatte befohlen, daß der Tanz recht lang währen sollte. Aber dennoch konnte er sie nicht festhalten, auch kein Wort mit ihr sprechen, denn als der Tanz aus war, sprang sie so geschwind unter die Leute, daß sie verschwunden war, ehe er sich umdrehte. Sie lief in ihr Ställchen, und weil sie länger als eine halbe Stunde weggewesen war, zog sie sich geschwind aus und machte sich in der Eile nicht ganz schwarz, sondern ein Finger blieb weiß. Und wie sie in die Küche kam, war der Koch schon fort. Da kochte sie geschwind die Brotsuppe und legte das goldene Häspelchen hinein. Der König fand es, wie den Ring und das goldene Spinnrädchen, und nun wußte er gewiß, daß seine Braut in der Nähe war, denn niemand anderes konnte die Geschenke sonst haben. Allerlei-Rauh ward gerufen, wollte sich wieder durchhelfen und fortspringen, aber indem sie fortsprang, erblickte der König einen weißen Finger an ihrer Hand und hielt sie daran fest.
Und weil nun aller guten Dinge drei sind, gibt es noch eine dritte Erkenntnisstufe. Der Koch beginnt nun langsam neidisch zu werden, daß die lebendige Seele die Sinnesnahrung viel besser zubereiten kann, als die rationalen Gedanken, aber läßt sich glücklicherweise beruhigen. Das Sternenkleid erinnert uns an das ewige Meer der Ursachen, aus dem sich die lebendigen Wellen aller Geschöpfe mit den zahllosen Lebenslichtern erheben. Die Haspel könnte ein Symbol für die Seele sein, die den Lebensfaden trägt und in einer langen Kette von Ursache und Wirkung auf- und abwickelt. Damit vereinen sich nun Ring, Spinnrad und Haspel ähnlich der heiligen Dreieinigkeit von Vater, Heiliger Geist und Sohn. Und es gibt wohl wirklich keine andere Möglichkeit, die Seele zu halten, als ihr den Ring der Einheit an den Finger zu stecken. Das könnte die große Erkenntnis sein, daß der Geist und die wirkende bzw. handelnde Natur immer auch mit der Seele des Lebens verbunden sind. Diese lebendige Seele kann man nur im Großen und Ganzen finden. Das ist wohl auch der Grund, warum unsere moderne Wissenschaft, die alles in Teilchen und Meßdaten zergliedert, selbst mit den besten Meßgeräten noch nie die Seele finden konnte, die alles lebendig macht.
Da fand er den Ring, den er ihr angesteckt hatte, und riß den Rauchmantel ab. Da kamen die goldenen Haare herausgeflossen, und es war seine allerliebste Braut, und der Koch ward reichlich belohnt, und dann hielt er Hochzeit, und sie lebten vergnügt bis an ihren Tod.
Ja, das ist es, was die alten Kulturen schon lange wußten, daß man mit der Sicht der Einheit, mit dem Ring, der alles verbindet, durch die Oberfläche der körperlichen Dinge bis auf den Grund hindurchschauen und die reine Seele bzw. das wahre Selbst erkennen kann. Die goldenen Haare könnten die wahre Erkenntnis symbolisieren, die dann aus dem Kopf fließt, nachdem die Gedanken in der Küche schwer gearbeitet haben und nun reich belohnt werden. So wird schließlich die mystische Hochzeit von Geist und Seele gefeiert, das Ziel der Glückseligkeit ist erreicht, und solange diese Einheit lebendig ist, kann es keinen Tod geben. Auf diese Weise wird auch die anfangs erwähnte Krankheit des Geistes überwunden, die für Mutter Natur so schädlich ist und ihren Tod verursacht. Das heißt, der krankhafte Egoismus, der sich aus dem gedanklich unterscheidenden Verstand genährt und zum König erhoben hatte, wird durch ganzheitliche Vernunft geheilt und besiegt, so daß nun die reine Vernunft wieder als geistiger König mit der Natur und der Seele vereint regiert.
Damit haben wir versucht, dieses sehr wunderbare und anspruchsvolle Märchen zunächst aus geistiger Perspektive etwas näher zu beleuchten. Das Gleiche könnte man nun aus der Sicht der Seele auf psychischer bzw. seelischer Ebene versuchen. Hier geht es um eine Seele, die sich vom Geist zurückzieht, weil er nicht mehr rein ist, sondern von Illusion und Begierde beherrscht wird. Das ist weder ein wahrhafter König noch ein wahrhafter Vater, dem man gern folgen möchte. Und wie sich dieses Problem aus geistiger Sicht durch wahrhafte Erkenntnis löst, so löst es sich aus seelischer Sicht durch wahrhafte Demut. Erkenntnis und Demut sollten auf dem Weg zur mystischen Hochzeit immer gemeinsam entwickelt werden, um die innerliche Trennung zu überwinden. Warum hat Allerleirauh den König nicht gehaßt, als er ihr die Stiefel an den Kopf warf? Dazu gibt es eine lehrreiche Geschichte, die Goethe in seiner „Italienreise“ erzählte:
Philippus Neri (1515-1595) war eben in der Nähe des Papstes, als diesem berichtet wird, daß in der Nähe von Rom eine Klosterfrau mit allerlei wunderlichen geistlichen Gaben sich hervortue. Die Wahrhaftigkeit dieser Erzählungen zu untersuchen, erhält Neri den Auftrag. Er setzt sich sogleich auf sein Maultier, und ist bei sehr bösem Wetter und Weg bald im Kloster. Eingeführt, unterhält er sich mit der Äbtissin, die ihm von allen diesen Gnadenzeichen mit vollkommener Beistimmung genaueste Kenntnis gibt. Die geforderte Nonne tritt ein, und er, ohne sie weiter zu begrüßen, reicht ihr den kotigen Stiefel hin, mit dem Ansinnen, daß sie ihn ausziehen solle. Die heilige, reinliche Jungfrau tritt erschrocken zurück und gibt ihre Entrüstung über dieses Zumuten mit heftigen Worten zu erkennen. Neri erhebt sich ganz gelassen, besteigt sein Maultier und findet sich wieder vor dem Papst, ehe dieser es nur vermuten konnte; denn wegen Prüfung solcher Geistesgaben sind katholischen Beichtvätern bedeutende Vorsichtsmaßregeln aufs genaueste vorgeschrieben, weil die Kirche zwar die Möglichkeit solcher himmlischen Begünstigungen zugibt, aber die Wirklichkeit derselben nicht ohne die genaueste Prüfung zugesteht. Dem verwunderten Papste eröffnete Neri kürzlich das Resultat: »Sie ist keine Heilige«, ruft er aus, »sie tut keine Wunder! Denn die Haupteigenschaft fehlt ihr, die Demut.«
Ja, ohne wahre Demut kann man den Egoismus nicht überwinden, um den Weg zur geistigen Wahrheit zu gehen. Deshalb wird hier gern empfohlen: „Niedrig leben und hoch denken.“ Das Märchen zeigt aber auch, daß dieser Weg der Demut nicht einfach ist, sondern voller Leiden, womit natürlich ein Prozeß der seelischen und geistigen Reinigung bewirkt wird.
Schließlich möchten wir noch kurz die gesellschaftliche Ebene betrachten. Solange man die Handlung des Märchens in das Innere eines Menschen abbildet, kann man die Botschaft noch relativ gut verstehen. Wesentlich schwieriger wird es, wenn man die äußere, menschliche bzw. körperliche Beziehung betrachtet, denn die Heirat von Vater und Tochter ist natürlich ein sehr heikles Thema, praktisch ein gesellschaftliches Tabu. Kleine Kinder haben noch kein Problem mit dem Gedanken, ihre Eltern zu heiraten, aber sobald die sexuelle Beziehung eine Rolle spielt, denkt man sofort an die schlimmste Art des Inzests. Das war vermutlich auch der Grund, warum gerade dieses Märchen von den Gebrüdern Grimm so extrem überarbeitet wurde. Aus dem einen König wurden zwei unterschiedliche Könige, worunter die Handlungszusammenhänge und die tiefere Botschaft sehr leiden mußten.
Angesichts des heiklen Themas und daß der Vater am Ende seine eigene Tochter heiratet, könnte man darüber streiten, ob das Märchen in dieser Urform für unsere heutigen Kinder noch geeignet ist. Wir versuchen gern, unsere Kinder vor der Konfrontation mit solchen Problemen zu beschützen, vor allem, wenn wir sie im Inneren selbst nicht gelöst haben. Diesbezüglich mag es vor allem eine Geschichte für Erwachsene sein, die beim Lesen oder Erzählen mehr über das Problem der Begierde und der inneren Spaltung lernen können. Vielleicht kann es durch den dargestellten Leidensweg und das versöhnliche Ende auch dazu beitragen, solche Probleme in einer Familie zu verhindern oder sogar zu heilen, falls man in dieser Richtung seelisch belastet ist.
Aus familiärer Perspektive können wir hier einen Mann sehen, dem seine Ehefrau gestorben war. So lebte er mit seiner Tochter und konnte trotz aller Anstrengung keine neue Ehefrau finden. Damit war die natürliche Funktion einer gesunden Familie grundsätzlich gestört. Es gab keine Mutter mehr, welche die Tochter beschützte, und der Mann hatte keine Ehefrau, auf die er seine natürliche Liebe richten konnte. So „richtete er einmal seine Augen auf seine Tochter“. Da es sehr unwahrscheinlich ist, daß er seine Tochter noch nie angeschaut hat, könnte dieser Ausdruck auch mehrdeutig gemeint sein und bereits von sexueller Leidenschaft sprechen. Damit steht hier die große Frage nach dem Unterschied zwischen wahrer Liebe, ungezügelter Begierde und sexueller Leidenschaft. Und das ist wirklich eine sehr schwierige Frage, der wir uns heute in einer Gesellschaft, zu deren Grundlage die unersättliche Begierde zählt, kaum noch bewußt sind. Gewöhnlich versuchen wir uns vor solchen „verbotenen“ Gefühlen mit rationalen Tabu-Grenzen zu schützen und stützen uns auf Inzest-Gesetze mit harten Strafen und haßerfüllter gesellschaftlicher Ablehnung. Das mag in vielen Fällen durch Abschreckung helfen, und äußerliche Strafe für die Täter ist wahrlich angebracht, doch ob dies ausreicht? Wohl eher nicht, denn die Mißbrauchsfälle an Kindern, seien sie rein seelischer oder auch noch körperlicher Art, steigen vor allem im familiären Umfeld seit Jahren stetig an. Und auch das Märchen sagt: „Die Räte wollten es ihm ausreden, aber das war umsonst.“
Die Tochter war natürlich schockiert über dieses Verlangen und forderte vier außergewöhnliche Kleider. Hier könnte man zunächst an eine unmögliche Forderung an Reichtum denken, aber vermutlich meint das Märchen die natürliche Forderung nach Vielfalt. Denn fehlende Vielfalt ist die eigentliche Ursache für das Inzest-Problem in der Natur. Dieses Problem kennt die Menschheit schon sehr lange und weiß, daß damit eine große Gefahr für nachkommende Generationen droht. Dafür hat die Natur nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren verschiedene Strategien entwickelt. Die These von Sigmund Freud, daß Inzucht im Tierreich weitverbreitet sei, wurde mittlerweile von der Wissenschaft widerlegt. Der Anthropologe Edward Westermarck erkannte bereits vor 100 Jahren: „Personen, die von frühester Kindheit an eng zusammenleben, entwickeln eine sexuelle Aversion gegeneinander.“ Heute weiß man, daß hier zum Beispiel der Geruch eine wesentliche Rolle spielt. Das große Problem unserer modernen Gesellschaft ist, daß wir gern alle natürlichen Grenzen mißachten und kaum noch ein Gefühl für die Gebote der Natur entwickeln. Auch der Sexualtrieb wird kommerzialisiert, gnadenlos ausgenutzt und soll für maximalen Lustgewinn möglichst alle Schranken überwinden, worunter vor allem die Kinder und Familien leiden müssen. So glauben heute viele Menschen, ungezügelter oder perverser Sex sei ein Ausdruck persönlicher Freiheit. Naja...
Doch unser Märchen meint, allein die Forderung nach natürlicher Vielfalt ist noch nicht die Lösung des Grundproblems, denn der Vater erfüllt der Tochter diesen Wunsch. Das viel tiefere Problem scheint hier eine psychische bzw. seelische Störung der natürlichen Ordnung in der Gesellschaft zu sein. Und die Natur reagiert entsprechend darauf: Die Tochter flieht und versteckt sich tief im Wald, womit man eine tiefe psychische Krise mit schwerer Depression vermuten könnte. So eine Flucht mag vielleicht die körperlichen Probleme beseitigen, aber die psychischen holen das Mädchen immer wieder ein, wie hier die Jägerhunde ihr Opfer finden. Nicht selten fallen solche Menschen auch völlig aus der Gesellschaft, weil unsere Gesellschaft mit diesen Problemen kaum heilend umgehen kann. Dann begegnet dem Täter abgrundtiefer Haß, und dem Opfer hilfloses Mitleid.
Ähnlich geht es auch dem Mädchen in unserem Märchen. Wie kann man hier helfen? Diese innere Zerrissenheit und schwere Enttäuschung vom Vater müßte irgendwie geheilt werden. Da helfen sicherlich auf die Dauer weder Haß noch Verdrängung. Die Menschen wußten früher, daß uns solche ungelösten Probleme sogar bis über den Tod hinaus verfolgen. Auch wenn wir heute glauben, daß unsere angesammelten Probleme mit dem Tod verschwinden, auf jeden Fall werden damit die Umgebung und die nachkommenden Generationen belastet. Es ist seit Jahren in der Psychologie bekannt, daß Kinder, welche mißbraucht wurden und das Trauma als Erwachsene nicht wahrhaft geistig auflösen konnten, einen ähnlichen Mißbrauch viel zu oft ihren eigenen Kindern wieder antun. Deshalb heißt es auch in der Bibel, daß man solche Probleme nicht mit sich herumtragen, sondern so schnell wie möglich lösen sollte: »Zürnt und sündigt nicht! Laßt die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen. [Bibel, Eph. 4.26]«
Als große Hilfe galt hier die Tugend der Vergebung, denn Vergebung kann alle Wunden heilen. Doch für wahrhafte und heilende Vergebung muß zunächst der eigene Stolz überwunden werden. Dafür übt das Mädchen in unserem Märchen die Demut. Dieser Kampf findet natürlich vor allem in unserem Inneren statt, auch wenn man äußere Hilfsmittel verwendet. Dazu trug man früher zum Beispiel ein Büßergewand aus groben Stoffen oder auch Tierfellen, wie der Pelz von „Allerleirauh“. Ähnlichem Zweck dienten auch die Roben der Mönche und Nonnen, die damit ihren Körper verhüllten, den weltlichen Stolz demütigten und ihre sexuelle Enthaltsamkeit zum Ausdruck brachten. Auf diesem Weg kann man zur geistigen Ebene dieses Märchens vordringen, das Wesen der egoistischen Begierde durchschauen, die wahre Liebe wiederfinden und die Trennung von Geist und Seele überwinden. Dann könnte dieser Konflikt zwischen Vater und Tochter auf einer viel höheren Ebene der Liebe gelöst werden, als es körperlich möglich ist. Und wahrlich, nur auf dieser Ebene lassen sich solche Konflikte nachhaltig verdauen und lösen. Das ist der uralte Weg der Erlösung im Kleinen wie im Großen. Und in diesem Licht sollte man vermutlich auch das Happy-End dieses Märchens sehen.
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• ... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...
[1812] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 1. Auflage, 1812 |