Die geistige Botschaft unserer alten Märchen

Der Der starke Hans

Märchentext der Gebrüder Grimm [1857]
Interpretation von Undine & Jens in Grün [2020]

Es war einmal ein Mann und eine Frau, die hatten nur ein einziges Kind und lebten in einem abseits gelegenen Tale ganz allein. Es trug sich zu, daß die Mutter einmal ins Holz ging, Tannenreiser zu lesen, und den kleinen Hans, der erst zwei Jahr alt war, mitnahm. Da es gerade in der Frühlingszeit war und das Kind seine Freude an den bunten Blumen hatte, so ging sie immer weiter mit ihm in den Wald hinein. Plötzlich sprangen aus dem Gebüsch zwei Räuber hervor, packten die Mutter und das Kind und führten sie tief in den schwarzen Wald, wo Jahr aus Jahr ein kein Mensch hinkam. Die arme Frau bat die Räuber inständig sie mit ihrem Kinde freizulassen, aber das Herz der Räuber war von Stein: Sie hörten nicht auf ihr Bitten und Flehen und trieben sie mit Gewalt an weiter zu gehen. Nachdem sie etwa zwei Stunden durch Stauden und Dörner sich hatten durcharbeiten müssen, kamen sie zu einem Felsen, wo eine Türe war, an welche die Räuber klopften, und die sich alsbald öffnete. Sie mußten durch einen langen dunklen Gang und kamen endlich in eine große Höhle, die von einem Feuer, das auf dem Herd brannte, erleuchtet war. An der Wand hingen Schwerter, Säbel und andere Mordgewehre, die in dem Lichte blinkten, und in der Mitte stand ein schwarzer Tisch, an dem vier andere Räuber saßen und spielten, und obenan saß der Hauptmann. Dieser kam, als er die Frau sah, herbei, redete sie an und sagte, sie sollte nur ruhig und ohne Angst sein, sie täten ihr nichts zuleid, aber sie müßte das Hauswesen besorgen, und wenn sie alles in Ordnung hielte, so sollte sie es nicht schlimm bei ihnen haben. Darauf gaben sie ihr etwas zu essen und zeigten ihr ein Bett, wo sie mit ihrem Kinde schlafen könnte.

Nachdem wir nun im „Simeliberg“ einen recht zweifelhaften Weg des Ichbewußtseins kennengelernt haben, möchten wir anhand dieses Märchens eine wesentlich tiefere Sicht auf dieses Thema untersuchen. „Es war einmal ein Mann und eine Frau...“ Es beginnt mit der üblichen Polarität von Männlich und Weiblich, also Geist und Natur bzw. Erkennender und Erkennbares. Zwischen diesen Polen, die eigentlich nicht zu trennen sind, schiebt sich in der Natur ein trennendes Prinzip, daß wir Ichbewußtsein nennen. Und dieses Ichbewußtsein geht einen langen Weg, der hier anhand der Entwicklung eines Kindes mit vielen Symbolen demonstriert wird. Die Frühlingszeit und die ersten grünen Spitzen der Tannen deuten bereits das Erwachen des Lebens an. Das heißt, die Entwicklung des Ichbewußtseins bzw. der menschlichen Persönlichkeit hat natürlich viel mit dem Leben zu tun, das anfangs noch sehr nah mit Mutter Natur verbunden ist, also mit der sinnlichen Welt.

Bezüglich der Entstehung des Lebens wird oft gefragt, warum überhaupt „Leben“ entsteht. Das Märchen deutet es an und sagt, das Kind hat seine Freude an den bunten Blumen, an der Vielfalt der Erfahrungen und geht deshalb mit Mutter Natur immer tiefer in den Wald der Welt. Doch plötzlich werden sie von zwei Räubern überwältigt. Hiermit könnten allgemein die weltlichen Gegensätze bzw. Dualitäten gemeint sein, auf die das Ichbewußtsein mit der weltlichen Geburt trifft, wie Begierde und Haß, Hitze und Kälte, Glück und Leid oder Hunger und Durst. Aus diesen „hartherzigen“ Gegensätzen ist wirklich schwer zu entkommen, und je mehr das Ichbewußtsein von diesen „Räubern“ überwältigt wird, desto tiefer geht es in das Dunkel der Körperlichkeit. So kommt es in eine „Räuberhöhle“, wo ein Feuer brennt, das man auf verschiedenen Ebenen deuten kann, vom körperlichen Verdauungsfeuer über das Feuer der Leidenschaft bis zum Licht des Bewußtseins oder sogar die Flamme des „Heiligen Geistes“. Die Waffen deuten auf gewisse Fähigkeiten und Kampf, aber auch viel Leiden hin.

Nun spielen hier mehrere Räuber an einem „schwarzen Tisch“. Vermutlich sind es verschiedene Prinzipien, welche die Natur beherrschen. Dazu gehören vor allem die Sinnesorgane für das Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken und Riechen. Dazu kommen noch das Denken und die Intelligenz. Diese sieben natürlichen Grundprinzipien bringen die Erfahrungen in unseren dunklen Körper und treiben natürlich auch ihr Spiel mit uns. Diesbezüglich kann man sie auch als Räuber bezeichnen, weil sie sich jede Menge körperliche und geistige Nahrung aneignen und in einen persönlichen Körper wie in eine Höhle schleppen, um sie dort in Form von Erinnerung, Prägung usw. anzusammeln. Damit entsteht sozusagen unser eigenes Karma. Gewöhnlich regiert hier das Denken als Hauptmann über die fünf Sinne in einer äußeren Welt, so daß er Mutter Natur das „Hauswesen“ anvertraut und damit die Ordnung der natürlichen Gesetze. Damit ernähren sie gemeinsam das heranwachsende Kind bzw. Ichbewußtsein, das nun zusammen mit Mutter Natur in dieser dunklen Körperhöhle lebt und zunächst noch viel schläft.

Die Frau blieb viele Jahre bei den Räubern, und Hans ward groß und stark. Die Mutter erzählte ihm Geschichten und lehrte ihn in einem alten Ritterbuch, das sie in der Höhle fand, lesen. Als Hans neun Jahr alt war, machte er sich aus einem Tannenast einen starken Knüttel und versteckte ihn hinter das Bett: Dann ging er zu seiner Mutter und sprach: »Liebe Mutter, sage mir jetzt einmal wer mein Vater ist, ich will und muß es wissen.« Die Mutter schwieg still und wollte es ihm nicht sagen, damit er nicht das Heimweh bekäme: Sie wußte auch, daß die gottlosen Räuber den Hans doch nicht fortlassen würden; aber es hätte ihr fast das Herz zersprengt, daß Hans nicht sollte zu seinem Vater kommen. In der Nacht, als die Räuber von ihrem Raubzug heimkehrten, holte Hans seinen Knüttel hervor, stellte sich vor den Hauptmann und sagte: »Jetzt will ich wissen, wer mein Vater ist, und wenn du mir’s nicht gleich sagst, so schlag ich dich nieder!« Da lachte der Hauptmann und gab dem Hans eine Ohrfeige, daß er unter den Tisch kugelte. Hans machte sich wieder auf, schwieg und dachte: »Ich will noch ein Jahr warten und es dann noch einmal versuchen, vielleicht geht’s besser.«

In diesem Körperhaus wächst nun das Ichbewußtsein zusammen mit den sieben natürlichen Prinzipien unter der Ordnung von Mutter Natur. Mit den Geschichten und dem Ritterbuch beginnt das Kind zu verstehen, und so wachsen auch Mut und Selbstbewußtsein, die hier mit dem starken Knüttel symbolisiert werden. Je kraftvoller die Sinne und ihr Hauptmann sind, um so kraftvoller werden auch die Handlungsorgane und das Kind selbst. Doch neben der Begierde nach sinnlicher Nahrung wächst natürlich auch der Wunsch nach geistiger Sättigung. So wird dem Kind bald bewußt, daß der Räuberhauptmann, der mit Begierde über die Sinne herrscht, nicht sein wahrer Vater sein kann. Doch davon ist nicht so einfach loszukommen. Es ist erfahrungsgemäß ein harter Kampf, doch Mutter Natur wünscht sich nichts sehnlicher, als daß ihr Kind diesen Kampf führen und gewinnen kann, um den wahren Vater wiederzufinden. Beim ersten Mal gelingt es natürlich noch nicht, aber mit Geduld und wachsendem Mut und Selbstbewußtsein kann man diesen Kampf gewinnen:

Als das Jahr herum war, holte er seinen Knüttel wieder hervor, wischte den Staub ab, betrachtete ihn und sprach: »Es ist ein tüchtiger wackerer Knüttel.« Nachts kamen die Räuber heim, tranken Wein, einen Krug nach dem anderen, und fingen an die Köpfe zu hängen. Da holte der Hans seinen Knüttel herbei, stellte sich wieder vor den Hauptmann und fragte ihn, wer sein Vater wäre. Der Hauptmann gab ihm abermals eine so kräftige Ohrfeige, daß Hans unter den Tisch rollte, aber es dauerte nicht lange, so war er wieder oben und schlug mit seinem Knüttel auf den Hauptmann und die Räuber, daß sie Arme und Beine nicht mehr regen konnten. Die Mutter stand in einer Ecke und war voll Verwunderung über seine Tapferkeit und Stärke. Als Hans mit seiner Arbeit fertig war, ging er zu seiner Mutter und sagte: »Jetzt ist mir’s Ernst gewesen, aber jetzt muß ich auch wissen, wer mein Vater ist.« »Lieber Hans,« antwortete die Mutter, »komm wir wollen gehen und ihn suchen, bis wir ihn finden.«

Für ein Kind ist dieser erste Sieg vor allem ein Erwachen der Vernunft, so daß es nicht mehr so sehr von den Begierden der Sinne beherrscht wird. Es beginnt, die Sinne und das Denken zu zügeln. Damit sind die Räuber sicherlich noch nicht tot, aber das Ichbewußtsein kann nun die Herrschaft übernehmen, und dazu gehört wirklich viel Mut. Das ist ein wichtiger Wendepunkt im Leben, wo natürlich auch die Gefahr besteht, daß das Ichbewußtsein zum Räuberhauptmann wird und sich zu einem gierigen Ego entwickelt. So ein Ego kann natürlich nie die Räuberhöhle verlassen, richtet sich hier häuslich ein und wird den wahren Vater weder suchen noch finden. Doch unserem „Hans“ gelingt es. Schon der Name deutet darauf hin, welcher von „Johannes“ abstammt und auf hebräisch „Gott ist gnädig“ bedeutet. Klar, damit kann man die „gottlosen Räuber“ überwinden:

Sie nahm dem Hauptmann den Schlüssel zu der Eingangstüre ab, und Hans holte einen großen Mehlsack, packte Gold, Silber und was er sonst noch für schöne Sachen fand, zusammen, bis er voll war, und nahm ihn dann auf den Rücken. Sie verließen die Höhle, aber was tat Hans die Augen auf, als er aus der Finsternis heraus in das Tageslicht kam, und den grünen Wald, Blumen und Vögel und die Morgensonne am Himmel erblickte. Er stand da und staunte alles an, als wenn er nicht recht gescheit wäre. Die Mutter suchte den Weg nach Haus, und als sie ein paar Stunden gegangen waren, so kamen sie glücklich in ihr einsames Tal und zu ihrem Häuschen. Der Vater saß unter der Türe, er weinte vor Freude, als er seine Frau erkannte und hörte, daß Hans sein Sohn war, die er beide längst für tot gehalten hatte. Aber Hans, obgleich erst zwölf Jahr alt, war doch einen Kopf größer als sein Vater. Sie gingen zusammen in das Stübchen, aber kaum hatte Hans seinen Sack auf die Ofenbank gesetzt, so fing das ganze Haus an zu krachen, die Bank brach ein und dann auch der Fußboden, und der schwere Sack sank in den Keller hinab. »Gott behüte uns,« rief der Vater »Was ist das? Jetzt hast du unser Häuschen zerbrochen.« »Laßt euch keine grauen Haare darüber wachsen, lieber Vater,« antwortete Hans, »da in dem Sack steckt mehr als für ein neues Haus nötig ist.« Der Vater und Hans fingen auch gleich an, ein neues Haus zu bauen, Vieh zu erhandeln und Land zu kaufen und zu wirtschaften. Hans ackerte die Felder, und wenn er hinter dem Pflug ging und ihn in die Erde hinein schob, so hatten die Stiere fast nicht nötig zu ziehen.

Nun geschieht etwas sehr Wunderbares. Das Ichbewußtsein verläßt das erste Mal die Räuberhöhle, nimmt viel Reichtum mit, und sieht plötzlich die Welt mit ganz anderen Augen als durch die Filter der gewöhnlichen Sinne. Es erhebt sich aus der dunklen Körperlichkeit und sieht die am Himmel aufgehende Sonne. Wer da nicht staunt und sprachlos wird, der hat so etwas noch nie erlebt. So findet der Sohn mit Hilfe der Mutter zurück zum Vater, der vor der berühmten Tür wartet, die wir gewöhnlich nicht öffnen wollen. Er befürchtete sogar, daß das Ichbewußtsein sich völlig in toter Materie verloren hat. Aber nein, es ist gewachsen, aber übertrifft den Vater noch mit „einem Kopf“. Ein wunderbares Symbol! Er übertrifft ihn noch mit seiner Körperlichkeit, seiner Kopflastigkeit und seinem Karma-Sack, der das Vaterhaus zum Einsturz bringt und bis in den Keller des Unterbewußtseins sinkt. Doch in diesem Karma-Sack ist auch viel Verdienst, und diesen nutzt er wesentlich besser, als im letzten Märchen der Arme seinen Reichtum aus dem „Simeliberg“ nutzte. Er läßt den Reichtum der Räuber fruchtbar und nachhaltig gedeihen und muß nicht in die Räuberhöhle zurückkehren, um immer mehr zu holen.

Im Ganzen könnte man sagen, daß das Ichbewußtsein zuerst den Weg der Mutter gegangen ist, nun den Weg von Vater und Mutter geht, und im dritten Teil dieses Märchens den Weg des Vaters betritt. Das ist möglich, weil er große Kraft und wahren Mut in sich fühlt:

Den nächsten Frühling sagte Hans: »Vater, behaltet alles Geld und laßt mir einen zentnerschweren Spazierstab machen, damit ich in die Fremde gehen kann.« Als der verlangte Stab fertig war, verließ er seines Vaters Haus, zog fort und kam in einen tiefen und finstern Wald. Da hörte er etwas knistern und knastern, schaute um sich und sah eine Tanne, die von unten bis oben wie ein Seil gewunden war: und wie er die Augen in die Höhe richtete, so erblickte er einen großen Kerl, der den Baum gepackt hatte und ihn wie eine Weidenrute umdrehte. »He!« rief Hans, »Was machst du da droben?« Der Kerl antwortete: »Ich habe gestern Reiswellen (d.h. Holzbündel) zusammengetragen und will mir ein Seil dazu drehen.« »Das laß ich mir gefallen,« dachte Hans, »der hat Kräfte,« und rief ihm zu: »Laß du das gut sein und komm mit mir!« Der Kerl kletterte von oben herab, und war einen ganzen Kopf größer als Hans, und der war doch auch nicht klein. »Du heißt jetzt Tannendreher« sagte Hans zu ihm. Sie gingen darauf weiter und hörten etwas klopfen und hämmern, so stark daß bei jedem Schlag der Erdboden zitterte. Bald darauf kamen sie zu einem mächtigen Felsen, vor dem stand ein Riese und schlug mit der Faust große Stücke davon ab. Als Hans fragte, was er da vorhätte, antwortete er: »Wenn ich Nachts schlafen will, so kommen Bären, Wölfe und anderes Ungeziefer der Art, die schnuppern und schnuffeln an mir herum und lassen mich nicht schlafen. Da will ich mir ein Haus bauen und mich hineinlegen, damit ich Ruhe habe.« »Ei ja wohl,« dachte Hans, »den kannst du auch noch brauchen« und sprach zu ihm: »Laß das Hausbauen gut sein und geh mit mir, du sollst der Felsenklipperer heißen.« Er willigte ein, und sie strichen alle drei durch den Wald hin, und wo sie hinkamen, da wurden die wilden Tiere aufgeschreckt und liefen vor ihnen weg.

Damit erwacht ein neuer Frühling, das Ichbewußtsein widmet seinen Verdienst dem Vater, läßt sich von ihm einen noch stärkeren Willen geben und zieht aus dem weltlichen Leben wieder in die dunklen Tiefen der Welt. Was ihn dazu treibt, wird hier nicht weiter erwähnt. Damit endet vermutlich die Jugend, und der junge Mann geht auf Brautsuche, um eine eigene Familie zu gründen. Das heißt natürlich nicht, daß er das naturverbundene Leben als Bauer verlassen muß.

Auf geistiger Ebene geht nun das Ichbewußtsein den Weg des Vaters zur Befreiung bzw. Erlösung der Seele. Hier trifft er zwei gewaltige Kräfte, die er sich dienstbar macht. Die eine Kraft strebt in die Höhe und symbolisiert vermutlich das „große Begreifen“, die umfassende Intelligenz, welche die Einzelerfahrungen in großem Umfang bündelt und zum Verständnis der Einheit führt, sozusagen die Weisheit. Die andere Kraft könnte sich auf das tiefere Gefühl des „Beschützens“ beziehen, sozusagen ein Mitgefühl mit sich selbst, aber auch mit anderen Wesen. Mit diesem Mitgefühl läßt sich auch alles Versteinerte zerschlagen, vor allem versteinerte Herzen, aber auch versteinerte Begriffe und Ansichten.

Aber betrachtet man diese beiden getrennt voneinander, kommen zwei extreme Kräfte des Bewußtseins zum Ausdruck. Wenn zum Beispiel Eltern übermäßig intellektuell oder rational geprägt sind, neigen sie zum Tannendreher und werden sich vielleicht gar keine Kinder wünschen, weil sie meinen, das rechnet sich nicht, oder damit lassen sich viele Probleme vermeiden. Wenn die Eltern zum Felsenklipperer neigen, werden sie gefühlsbetont reagieren und vielleicht versuchen, ihre Kinder in einem Turm einzumauern, um sie vor allen Gefahren der Welt zu beschützen. Gut wäre natürlich ein mittlerer Weg, der diese beiden verbindet.

Auch im Yoga ist die Verbindung dieser beiden Bewußtseinskräfte von Weisheit und Mitgefühl auf dem geistigen Weg der Meditation sehr wichtig. Man sagt: Weisheit ohne Mitgefühl ist keine wahre Weisheit, sondern nur kalter Verstand. Mitgefühl ohne Weisheit, ist kein wahres Mitgefühl, sondern nur schmerzvolles Mitleid. Praktisch geht es um die beiden Grenzen eines geistigen Weges. Denn jeder Weg muß mindestens zwei Grenzen haben. Auf der Erde wird ein Weg durch Rechts und Links begrenzt, im Geistigen spricht man oft von Oben und Unten, wie zum Beispiel die Wege zwischen Himmel und Hölle. Ohne Grenzen gibt es keinen Weg. Somit besteht jeder Weg mindestens aus zwei Grenzen und einer Richtung. Diesen „Drei-Pol“ findet man sehr häufig in alten Überlieferungen. Er wird gewöhnlich als ein Dreieck symbolisiert, das in eine bestimmte Richtung zeigt.

Und damit geht nun das Ichbewußtsein mit Weisheit und Mitgefühl „zu dritt“ durch die geistige Welt und wühlt natürlich viele wilde Wesen auf, die zunächst noch in die Tiefen des Unterbewußtseins fliehen. Auf diesem Weg erhebt sich das Ichbewußtsein in eine höhere Region, auf den berühmten Berg, wo das „uralte Königsschloß“ steht und der „wahre König“ regieren sollte:

Abends kamen sie in ein altes verlassenes Schloß, stiegen hinauf und legten sich in den Saal schlafen. Am andern Morgen ging Hans hinab in den Garten, der war ganz verwildert und stand voll Dörner und Gebüsch. Und wie er so herumging, sprang ein Wildschwein auf ihn los: Er gab ihm aber mit seinem Stab einen Schlag, daß es gleich niederfiel. Dann nahm er es auf die Schulter und brachte es hinauf. Da steckten sie es an einen Spieß, machten sich einen Braten zurecht und waren guter Dinge. Nun verabredeten sie, daß jeden Tag, der Reihe nach zwei auf die Jagd gehen sollten und einer daheim bleiben und kochen, für jeden neun Pfund Fleisch. Den ersten Tag blieb der Tannendreher daheim, und Hans und der Felsenklipperer gingen auf die Jagd. Als der Tannendreher beim Kochen beschäftigt war, kam ein kleines altes zusammengeschrumpeltes Männchen zu ihm auf das Schloß und forderte Fleisch. »Pack dich, Duckmäuser,« antwortete er, »du brauchst kein Fleisch.« Aber wie verwunderte sich der Tannendreher, als das kleine unscheinbare Männlein an ihm hinaufsprang und mit Fäusten so auf ihn losschlug, daß er sich nicht wehren konnte, zur Erde fiel und nach Atem schnappte. Das Männlein ging nicht eher fort, als bis es seinen Zorn völlig an ihm ausgelassen hatte. Als die zwei andern von der Jagd heimkamen, sagte ihnen der Tannendreher nichts von dem alten Männchen und den Schlägen, die er bekommen hatte und dachte: »Wenn sie daheim bleiben, so können sie’s auch einmal mit der kleinen Kratzbürste versuchen.« Und der bloße Gedanke machte ihm schon Vergnügen. Den folgenden Tag blieb der Steinklipperer daheim, und dem ging es gerade so, wie dem Tannendreher, er ward von dem Männlein übel zugerichtet, weil er ihm kein Fleisch hatte geben wollen. Als die andern Abends nach Haus kamen, sah es ihm der Tannendreher wohl an, was er erfahren hatte, aber beide schwiegen still und dachten: »Der Hans muß auch von der Suppe kosten.«

So erreicht man auf dem geistigen Weg ein verlassenes Schloß, wo kein König mehr regiert und die wilden Tiere leben. Auch der ursprünglich schöne Garten, der an das Paradies erinnert, ist völlig verwildert, und hier trifft man auf das wilde Tier in uns, das es zu besiegen gilt. Damit beginnt die geistige Jagd und das Kochen und Verdauen bzw. Verarbeiten dieser tierischen Triebe. Diese Symbolik sollte man nicht damit verwechseln, daß man auf dem geistigen Weg auch körperlich viele Tiere töten und viel Fleisch essen muß. Im Gegenteil, die alten Kulturen wußten genau, daß man durch Fleischgenuß auch das entsprechende tierische Wesen in sich ansammelt. Daher leben die Yogis gewöhnlich von vegetarischer Diät, damit sie es überhaupt schaffen, ihr inneres tierisches Wesen zu finden, um es besiegen zu können. Wichtig ist hier, daß Weisheit, Mitgefühl und Ichbewußtsein als „Dreiheit“ eng zusammenarbeiten, damit irgendwann im Schloß auf dem Berg wieder ein wahrer König herrschen kann.

Die Symbolik des Berges erinnert wieder an die Pyramiden, die wir diesbezüglich in vergangenen Märchen bereits kennengelernt haben. Aus körperlicher Sicht bzw. aus Sicht der Natur erscheint auf dem Gipfel dieses Berges die höhere Vernunft. Im Yoga steht dafür das tausendblättrige Scheitel-Chakra über dem Kopf. Aus geistiger Sicht dreht sich diese Pyramide um, und die ganzheitliche Vernunft wird zur Basis des Berges, der nun nicht mehr auf Materie, oder wie die Bibel sagt, auf „Sand gebaut“ ist, sondern auf einer geistigen Grundlage ruht, die nun nicht unten auf der Erde, sondern oben im Himmel zu suchen ist. Das sieht dann symbolisch ungefähr so aus:

Der Weg der geistigen Entwicklung ist nun der Weg von der materiellen Körperlichkeit über die Zügelung der Sinne und Gedanken zur höheren Vernunft, den das Ichbewußtsein zusammen mit Weisheit und Mitgefühl zum „Schloß“ auf dem Berg gehen kann, wo sich Geist und Natur bzw. Seele und Körper in ganzheitlicher Vernunft wieder finden und vereinigen können. Doch hier treffen die Drei zunächst auf die größte Herausforderung, nämlich das engstirnige gierige Ego, das oft als häßlicher Zwerg symbolisiert wird und vor allem vom tierischen Wesen genährt wird, also nach körperlichem „Fleisch“ verlangt. Dieses Ego hat erfahrungsgemäß gewaltige Kräfte, und wenn es nicht bekommt, was es will, überwältigt es uns mit Zorn und härtesten Schlägen. Dieser Herausforderung muß sich natürlich vor allem das Ichbewußtsein stellen, denn daraus ist dieses gierige Ego-Wesen entstanden:

Der Hans, der den nächsten Tag daheimbleiben mußte, tat seine Arbeit in der Küche, wie sich’s gebührte, und als er oben stand und den Kessel abschaumte, kam das Männchen und forderte ohne weiteres ein Stück Fleisch. Da dachte Hans »Es ist ein armer Wicht, ich will ihm von meinem Anteil geben, damit die andern nicht zu kurz kommen.« und reichte ihm ein Stück Fleisch. Als es der Zwerg verzehrt hatte, verlangte er nochmals Fleisch, und der gutmütige Hans gab es ihm und sagte, da wäre noch ein schönes Stück, damit sollte er zufrieden sein. Der Zwerg forderte aber zum dritten Mal. »Du wirst unverschämt«, sagte Hans und gab ihm nichts. Da wollte der boshafte Zwerg an ihm hinaufspringen und ihn wie den Tannendreher und Felsenklipperer behandeln, aber er kam an den unrechten. Hans gab ihm, ohne sich anzustrengen, ein paar Hiebe, daß er die Schloßtreppe hinabsprang. Hans wollte ihm nachlaufen, fiel aber, so lang er war, über ihn hin. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, war ihm der Zwerg voraus. Hans eilte ihm bis in den Wald nach und sah, wie er in eine Felsenhöhle schlüpfte. Hans kehrte nun heim, hatte sich aber die Stelle gemerkt.

So lernt nun auch das Ichbewußtsein das unersättlich gierige Ego-Wesen kennen. Die Botschaft des Märchens ist sehr interessant, denn Weisheit und Mitgefühl haben dem Ego keine Nahrung abgegeben. Und das geschah sicherlich nicht aus Hartherzigkeit, sondern eben aus Weisheit und Mitgefühl. Denn das gierige Ego sollte man nicht ernähren, auch wenn es nach Nahrung bettelt. Das Ichbewußtsein ist zunächst gutmütiger, wird sich aber bald der unersättlichen Gier des Egos bewußt, wehrt sich schließlich und läßt sich nicht überwältigen. Das Ego flieht nun in die Tiefe, und das Ichbewußtsein fällt. Das ist verständlich, denn es hat das gierige Ego wieder gefüttert. Und wenn das Ego Nahrung erhalten hat, versteckt es sich typischerweise wieder in der Tiefe unseres Wesens. Aber unser Held beobachtet achtsam, wohin es verschwindet. Diese Achtsamkeit ist im Yoga äußerst wichtig. Es ist die Kraft von Konzentration und Meditation, um die inneren Vorgänge in Körper und Geist zu ergründen.

Die beiden andern, als sie nach Haus kamen, wunderten sich, daß Hans so wohlauf war. Er erzählte ihnen, was sich zugetragen hatte, und da verschwiegen sie nicht länger wie es ihnen ergangen war. Hans lachte und sagte: »Es ist euch ganz recht, warum seid ihr so geizig mit eurem Fleisch gewesen, aber es ist eine Schande, ihr seid so groß und habt euch von dem Zwerge Schläge geben lassen.«

Auch über diese Symbolik kann man viel nachdenken. Das Ichbewußtsein macht der Weisheit und dem Mitgefühl Vorwürfe, daß sie so geizig waren, das Ego nicht gefüttert und die Schläge stillschweigend ertragen haben. Doch auch diese Fähigkeit sollte man in der Meditation entwickeln, denn man kann nicht ständig gegen das Ego kämpfen und ihm nachlaufen. Damit wird das Ego wichtig, und auch davon kann es sich ernähren. Die Antwort des Ichbewußtseins zeigt aber auch deutlich, daß es noch nicht vom gierigen Ego befreit ist, denn es stellt sich stolz über seine beiden Helfer von Weisheit und Mitgefühl.

Sie nahmen darauf Korb und Seil und gingen alle drei zu der Felsenhöhle, in welche der Zwerg geschlüpft war, und ließen den Hans mit seinem Stab im Korb hinab. Als Hans auf dem Grund angelangt war, fand er eine Türe, und als er sie öffnete, saß da eine bildschöne Jungfrau, nein so schön, daß es nicht zu sagen ist, und neben ihr saß der Zwerg und grinste den Hans an wie eine Meerkatze. Sie aber war mit Ketten gebunden und blickte ihn so traurig an, daß Hans großes Mitleid empfand und dachte »Du mußt sie aus der Gewalt des bösen Zwerges erlösen!« und gab ihm einen Streich mit seinem Stab, daß er tot niedersank. Alsbald fielen die Ketten von der Jungfrau ab, und Hans war wie verzückt über ihre Schönheit. Sie erzählte ihm, sie wäre eine Königstochter, die ein wilder Graf aus ihrer Heimat geraubt und hier in den Felsen eingesperrt hätte, weil sie nichts von ihm hätte wissen wollen: Den Zwerg aber hätte der Graf zum Wächter gesetzt, und er hätte ihr Leid und Drangsal genug angetan.

Nun wird es spannend: Wie kann man das gierige Ego besiegen? Zunächst geht der Weg mithilfe von Weisheit und Mitgefühl in die Tiefe unseres körperlichen Wesens zur Quelle des Lebens. Dort kann man eine Tür öffnen, um eine wunderbare Erkenntnis zu machen. Man erkennt hier die vollkommene Seele, wie sie vom gierigen Ego gebunden und gefangen wird. Das Ego grinst überheblich und glaubt wohl nicht, daß es jemals besiegt werden könnte. Doch mit einem Schlag sinkt es tot zu Boden, womit die reine Seele von ihren Ketten erlöst wird. Was war das für ein Schlag? Im Yoga spricht man von der großen Erkenntnis mithilfe von Weisheit und Mitgefühl. Und zu dieser Erkenntnis, daß die Seele vom Ego gebunden wird, muß man erst einmal kommen, nicht nur theoretisch, wie wir hier, sondern rein praktisch mit ganzem Herzen. Das ist das große Ziel im Yoga. Und die Seele erzählt es selbst: Ein wilder Graf, sozusagen ein falscher König, benutzt das Ego, um die Seele zu binden und zu quälen, weil sie sich nicht mit ihm vereinen will und kann. Und wer ist der falsche König? Es ist ein von Illusion und Eigennutz überwältigtes Ichbewußtsein, das anstatt der Vernunft die Herrschaft ergreift und die Seele in die Körperlichkeit einschließt und bannt, wo sie viel Leid erfahren muß. Allein mit dieser Erkenntnis, soweit sie wahrhaftig ist, kann man die Seele mit einem Schlag befreien und wieder zur Königin im königlichen Schloß erheben:

Darauf setzte Hans die Jungfrau in den Korb und ließ sie hinaufziehen. Der Korb kam wieder herab, aber Hans traute den beiden Gesellen nicht und dachte: »Sie haben sich schon falsch gezeigt und dir nichts von dem Zwerg gesagt. Wer weiß, was sie gegen dich im Schild führen.« Da legte er seinen Stab in den Korb, und das war sein Glück, denn als der Korb halb in der Höhe war, ließen sie ihn fallen, und hätte Hans wirklich darin gesessen, so wäre es sein Tod gewesen.

Doch nun tritt plötzlich ein gefährliches Hindernis auf. Das Ichbewußtsein hegt Mißtrauen gegen Weisheit und Mitgefühl, und diese beiden mißtrauen dem Ichbewußtsein und möchten es am liebsten mit dem Ego-Zwerg vernichten. Das ist eigentlich verständlich, denn das Ego entwickelt sich aus dem Ichbewußtsein und ist mit ihm eng verwandt. Warum sollten also Weisheit und Mitgefühl nicht die erlöste Seele ergreifen und vor dem Ichbewußtsein retten? Doch auch hier ist es wichtig, daß man Mut und Selbstvertrauen benutzt, damit das Ichbewußtsein nicht auf die Vernichtung trifft. Warum? Das Ichbewußtsein gehört zu den natürlichen Prinzipien des Lebens. Wenn es gewaltsam vernichtet wird, wird auch das Leben vernichtet. Und diese Gefahr besteht wirklich auf dem geistigen Weg zur Erlösung, wenn man zum Beispiel in Nihilismus verfällt und alles Lebendige verneint.

Aber nun wußte er nicht wie er sich aus der Tiefe heraushelfen sollte, und wie er hin und her dachte, er fand keinen Rat. »Es ist doch traurig,« sagte er »daß du da unten verschmachten sollst.« Und als er so auf und abging, kam er wieder zu dem Kämmerchen, wo die Jungfrau gesessen hatte, und sah, daß der Zwerg einen Ring am Finger hatte, der glänzte und schimmerte. Da zog er ihn ab und steckte ihn an, und als er ihn am Finger umdrehte, so hörte er plötzlich etwas über seinem Kopf rauschen. Er blickte in die Höhe und sah da Luftgeister schweben, die sagten, er wäre ihr Herr und fragten, was sein Begehren wäre. Hans war anfangs ganz verstummt, dann aber sagte er, sie sollten ihn hinauf tragen. Augenblicklich gehorchten sie, und es war nicht anders als flöge er hinauf.

Nun, wie kann sich das Ichbewußtsein erheben? Es findet einen magischen Ring am Finger des Zwerges, der dem riesenhaften Hans seltsamerweise auch paßt, womit sich wieder die enge Verwandtschaft von Ichbewußtsein und Ego zeigt. Und dieser Ring erweckt einen höheren Geist, worin wir die höhere Vernunft sehen können, die uns tragen und von der schweren Last der Körperlichkeit erlösen kann. Diese Vernunft ist ein Ausdruck der universalen Intelligenz, die alle Wesen miteinander verbindet, was auch der Ring als Symbol der Einheit verdeutlicht. Mit dieser universalen Intelligenz kann das gierige Ego die Seele binden, wenn es sich in Illusion und Eigennutz verliert. Und mit der gleichen Intelligenz kann das Ichbewußtsein die Seele erlösen, soweit es sich von Begierde und Haß befreit hat. Deshalb fragen die Luftgeister auch nach dem „Begehren“, und unser Held reagiert musterhaft und läßt sich von ihnen aus der Körperlichkeit erheben.

Als er aber oben war, so war kein Mensch mehr zu sehen, und als er in das Schloß ging, so fand er auch dort niemand. Der Tannendreher und der Felsenklipperer waren fortgeeilt und hatten die schöne Jungfrau mitgeführt. Aber Hans drehte den Ring. Da kamen die Luftgeister und sagten ihm, die zwei wären auf dem Meer. Hans lief und lief in einem fort, bis er zu dem Meeresstrand kam, da erblickte er weit weit auf dem Wasser ein Schiffchen, in welchem seine treulosen Gefährten saßen. Und im heftigen Zorn sprang er, ohne sich zu besinnen, mitsamt seinem Stab ins Wasser und fing an zu schwimmen. Aber der zentnerschwere Stab zog ihn tief hinab, daß er fast ertrunken wäre. Da drehte er noch zu rechter Zeit den Ring, alsbald kamen die Luftgeister und trugen ihn, so schnell wie der Blitz, in das Schiffchen. Da schwang er seinen Stab und gab den bösen Gesellen den verdienten Lohn und warf sie hinab ins Wasser.

Das Schloß wird als menschenleer und unbewohnt beschrieben, und damit wird hier noch einmal die Gefahr des Nihilismus deutlich. Seine beiden Gesellen haben die Seele aus der Welt weit hinaus auf das große Meer entführt, wo sie in der Unendlichkeit zu verschwinden drohen. Klar, auch das wäre eine Art der Erlösung, wenn man einfach im Nichts vergehen könnte, aber auch das Ende des Lebens. All das erkennt unser Held durch seine höhere Vernunft und beschließt, die Seele in die lebendige Welt zurückzuholen, damit das Schloß wieder belebt wird. Doch auf diesem weiten Meer hilft ihm seine körperliche Kraft nicht weiter. Im Gegenteil, sie zieht ihn hinab, und auch er droht in den Tiefen dieses Meeres zu verschwinden.

Was ist das für ein Meer? In den altindischen Puranas wird vom Meer der Ursachen gesprochen, das Ungestaltete, das Selbst oder die Höchste Seele, aus dem die universale Intelligenz und das Ichbewußtsein entstehen, um die ganze Schöpfung hervorzubringen. Ähnliches geschieht auch in diesem Märchen, und das Ichbewußtsein erhebt sich durch die höhere Vernunft der „Luftgeister“ aus diesem Meer. Und von träger Körperlichkeit befreit, kann sich unser Held nun mit der Geschwindigkeit des Geistes bewegen. Dann vereint er mit dem Herrscherstab des Selbstbewußtseins die Weisheit und das Mitgefühl wieder mit dem Meer, so daß sie sich frei von jedem Eigennutz in reine Selbsterkenntnis und wahre Liebe verwandeln. Das war ihr verdienter Lohn am Ende des Weges. Denn wenn der Weg vollendet ist, sollte man natürlich auch die Grenzen des Weges loslassen. Damit befreit und erlöst er die Seele auf einer unvergleichlich hohen geistigen Ebene, die wir hier mit unseren theoretischen Betrachtungen nur aus weiter Ferne erahnen können. Doch solche geistigen Wege werden in den Überlieferungen der alten Kulturen vielfältig erklärt und von den Weisen noch heute gegangen.

Daß die Gefährten hier als treulos und sogar böse beschrieben werden, sind wohl die einzigen beiden Worte, die man an diesem wunderbaren und höchst tiefgründigen Märchen bemängeln könnte. Auch wenn in ihnen die Gefahr der Vernichtung des Lebens steckt, so haben sie doch ihre Aufgabe in der Welt und können dem aufstrebendem Ichbewußtsein sicherlich eine große Hilfe sein.

Dann aber ruderte er mit der schönen Jungfrau, die in den größten Ängsten gewesen war, und die er zum zweiten Male befreit hatte, heim zu ihrem Vater und ihrer Mutter, und ward mit ihr verheiratet, und alle haben sich gewaltig gefreut.

So wird nun die Seele von ihrem langen Leidensweg voller Ängste zweifach befreit, zuerst vom Egoismus und dann sogar vom Tod. Sie verbindet sich mit dem wahren König, dem vernünftigen Ichbewußtsein, und beide kehren gemeinsam in die lebendige Welt zurück, nach Hause zu Vater und Mutter, wo im Königsschloß die mystische Hochzeit der Einheit von Geist und Seele gefeiert wird, die natürlich mit höchster Glückseligkeit verbunden ist.

Damit haben wir versucht, die geistige Ebene dieses wunderbaren Märchens etwas näher zu beleuchten. Wir sind uns bewußt, daß wir noch lange nicht die volle Tiefe erreicht haben. Solche tiefgründigen Märchen sind wahre Perlen der alten Überlieferungen. Sie können einen Menschen vom Kind bis ins hohe Alter begleiten. Dem Kind vermitteln sie Mut, Selbstvertrauen, Selbstverständnis und vernünftige Werte für ein vernünftiges Leben im Einklang mit der Natur. Und dem Erwachsenen können sie bis zu den hohen Ebenen geistiger Erkenntnis und Befreiung führen. Ein ähnlicher Weg wird auch im Märchen „Die Kristallkugel“ beschrieben, allerdings mit etwas anderer Symbolik und Perspektive. Doch auch hier wird betont, wie wichtig es ist, die Lebendigkeit der Seele zu bewahren.

Wir glauben heute im Zeitalter der modernen Wissenschaft gern, daß wir besonders intelligent sind, und schauen mit Überheblichkeit auf die „dunklen Zeitalter des Aberglaubens“ unserer Vorfahren. Solche wunderbaren Märchen zeigen jedoch, daß sogar im einfachen Volk ein großer geistiger Reichtum lebendig war, der uns heute verlorenging oder zumindest sehr fremd geworden ist:

Es ist ein schweres Unterfangen als Mensch von heute, mit einem so klein gewordenen Herzen und fast versiegten Geiste, an die gewaltigen Offenbarungen der Vorzeit heranzutreten. Man fühlt seine Ohnmacht und kommt vielmals der Verzweiflung nahe. Dann aber springt plötzlich aus dem großen Feuer des Geistes, der jene alten Menschen erfüllte, ein Funke auf den Sucher über, und oft gerade in dem Augenblick der düsteren Erstarrung, und staunend und in Ehrfurcht hingerissen steht man vor den erhabenen Zügen, die sich einem jetzt enthüllen. Dann weiß man, daß der Mensch viel mehr war, als er heute ist und sein kann, daß er mit dem Säumen seines oberen Wesens in die Ströme des Kristallhimmels ragte, die ihn mit ewigem Geiste durchfluteten, und daß er wieder zu solcher Größe emporwachsen muß. [Die Botin, Arthur Maximilian Miller, 1948]


Dazu möchten wir abschließend noch an Jakob Böhme erinnern, einen deutschen Mystiker, der von 1575 bis 1624 in Görlitz lebte und wirkte. Zu seinem Werk „Von sechs theosophischen Punkten“ entstand 1682 folgender Kupferstich, der ähnlich wie unser obiges Bild eine Kosmologie mit zwei Dreiecken zeigt:

Jakob Böhme - Von sechs theosophischen Punkten

Im großen Umkreis sieht man im Hintergrund den „Ungrund der ewigen Freiheit“, das ungestaltete Meer der Ursachen oder „Gott jenseits der Natur und Geschöpfe“. Zu diesem Kreis gehört der „Spiegel ewiger Weisheit“, ein ewiges Bewußtsein, das sich selbst erkennt und mit Augen symbolisiert wird, die sich selbst betrachten, sozusagen das Selbstbewußtsein mit der Selbsterkenntnis. Der Innere Kreis ist die „Äußere Welt“ der Gegensätze mit Sonne und Mond, die sich zwischen den polaren Kreisen von Licht und Dunkelheit bewegen. Die Dunkelheit wird hier als „Vater der Natur“ dargestellt, das Licht als „Sohn der Majestät“ und im Zentrum der äußeren Welt wirkt der „Heilige Geist der Welt“. Dazu schreibt Jakob Böhme:
Der ewige Vater wird im Feuer offenbart, der Sohn im Lichte des Feuers, und der Heilige Geist in der Kraft des Lebens und der Bewegung aus dem Feuer und dem Lichte... (De Signatura Rerum 14.34) Der Heilige Geist ist es, der die Gottheit der Natur offenbart: Er breitet den Glanz der Majestät aus, damit er in den Wundern der Natur erkannt wird. Er ist nicht der Glanz selber, sondern die Kraft des Glanzes... (Vom dreifachen Leben des Menschen 4.82)

Damit erscheint eine ähnliche Dreiheit, wie wir oben im Märchen angedeutet haben, so daß sich zwischen den Grenzen von reinem Licht und reiner Dunkelheit unsere äußerlich sichtbare Welt gestalten und kreisend bewegen kann, wie die zwei Pole einer Batterie einen Motor antreiben. Und auf diese weltliche Bewegung sind auch die beiden Dreiecke von „Natur“ und „Geist“ gerichtet, sozusagen die natürliche Entstehung und die geistige Entwicklung. Auf ihrem Gipfel, ähnlich dem Berg im obigen Märchen, wo das mystische Schloß steht, treffen sich diese Gegensätze zur Vereinigung und zur mystischen Hochzeit von Natur und Geist, so daß hier alle weltlichen Gegensätze verschwinden und nur noch der „reine Spiegel der Weisheit“ übrigbleibt. Wer diesen höchsten Gipfel der Selbstverwirklichung erreicht, steht im Zentrum von allem, schaut ringsherum, wie sich die Welt bewegt und bleibt doch selbst völlig unbewegt. Wunderbar! Wer solche symbolischen Diagramme zeichnen kann, hat diese Welt sehr tiefgründig durchschaut und wäre sicherlich auch fähig, ein symbolisches Märchen wie vom „Starken Hans“ zu erzählen.

Deshalb sollten wir dieses kostbare Erbe niemals vergessen. Die überlieferten Schriften von Jakob Böhme sind überaus gehaltvoll, aber auch sehr lang und voll intuitiver und mystischer Symbolik. Schon zu Lebzeiten konnte er viele Menschen begeistern. Es gab natürlich auch einige, die mit seiner geistigen Vision völlig überfordert waren und aus Angst um ihr kleinliches Weltbild ihre politische Macht in der Kirche mißbrauchten und den genialen Mystiker als Ketzer und Teufelspack verurteilten. Doch das war im Grunde nur eine Anerkennung seiner Genialität... Für einen relativ leichten und kulturell sehr wertvollen Einstieg können wir folgende Hörspiel-Produktion von Ronald Steckel empfehlen:


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Rattenkönig Birlibi - (Thema: Geld, Feindschaft, Sucht und Armut)
Das Dietmarsische Lügenmärchen - (Thema: Lügen, Gedanken und Vernunft)
Der Räuberbräutigam - (Thema: tote Seele, geistiger Mord)
Der arme Junge im Grab - (Thema: Erziehung, Ego, Angst und Vernunft)
Der Simeliberg - (Thema: Ego, Räuber und Simeli-Reichtum)
Der starke Hans (Thema: Ego, Räuber und höchster Gewinn)
Der alte Großvater und der Enkel - (Thema: soziale Spaltung, ekelhafte Vergänglichkeit)
Allerleirauh - (Thema: kranker Geist, gequälte Seele, sterbende Natur und Heilung)
Der Ursprung der Geschichten - (Thema: materielle und geistige Welt)
Der Okerlo „Ichmensch“ - (Thema: Seele, Körper und Ego)
Hans Dumm - (Thema: Wünsche verwirklichen)
... Inhaltsverzeichnis aller Märchen-Interpretationen ...

[1857] Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 7. Auflage, Berlin 1857
[Bibel] Luther Bibel, 1912
[2020] Text und Bilder von Undine & Jens / www.pushpak.de
Veröffentlichung: 1. November 2020